In der Nacht, da er verraten …

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In der Nacht, da er verraten …

In der Nacht, da er verraten ward | Gründonnerstag 2021 | Matthäus 26,17-30 | von Margrethe Dahlerup Koch |

”In der Nacht, als er verraten ward“. So heißt es jeden Sonn- und Feiertag beim Abendmahl. Die Worte der Liturgie stammen aus dem Brief des Paulus an die Korinther, die älteste Quelle, die davon berichtet, was an jenem letzten Abend geschah, ehe Jesus hingerichtet wurde. Die mehr ausführlichen Berichte der Evangelisten stammen erst aus der Zeit eine oder zwei Generationen nach Paulus.

Die ersten Christen mussten sich mit den knappen Worten des Paulus begnügen – bescheiden wie das Gericht, das beim Abendmahl serviert wird.

”In der Nacht, als er verraten ward“. Welche Nacht? Und wer hat es getan? Paulus war offenbar der Meinung, dass wir das nicht wissen müssen. Warum? Weil alle die rechten Christen in der griechischen Stadt Korinth das wussten? Wussten, dass es in der Nacht des Gründonnerstags war und dass Judas es war, der ihn verriet? Wohl kaum. Aus guten Gründen gab es noch kein christliches Basiswissen. Nein, Paulus hat sich eher einer Anonymisierung bedient um zu sagen, dass es hier nicht um eine bestimmte Nacht geht und einen bestimmten Verrat. Es geht um jede Nacht und jeden Verrat. Um das, was wir nicht anzeigen können und auf Distanz halten können, weil es etwas ist, was uns alle betrifft.

Die Nacht ist jede Nacht. Wir können keinen zeitlichen Abstand herstellen zu ihr. Denn immer, wenn Menschen in dem einen oder anderen Sinne sich im Dunkeln befinden, sind wir auch in der letzten Nacht Jesu. Und damit auch dort, wo er ist und sich selbst mit uns teilt.

Und Verräter, das sind wir alle. Wenn der Verräter namentlich genannt wäre, könnten wir uns menschlich von ihm distanzieren. Aber das tut Paulus nicht. Und damit wird jeder zu einem Verräter. Die Evangelisten wissen das eigentlich auch. Wie wir das aus der Version des Matthäus kennen, so sagt Jesus am Abend des Gründonnerstags den Verrat voraus. „Einer von euch wird mich verraten“, sagt er, und, steht da, sie begannen „jeder einzeln zu ihm zu sagen: Herr, bin ich’s?“ Alle haben sie mit anderen Worten einen Verräter in sich. Und sie wissen es. Sonst hätten sie ihn ja nicht gefragt. Und als Jesus den Verräter identifiziert, sagt er: „Der die Hand mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verraten“. Aber das haben sie ja alle getan – ihr ungesäuertes Passabrot in die Soße mit bitteren Kräutern oder Lammfleisch in der gemeinsamen Schüssel auf dem Tisch getaucht.

Markus macht das noch mehr deutlich, wenn er in seinem Evangelium Judas als „einen der zwölf“ bezeichnet. Judas ist mit anderen Worten nicht anders als die anderen. Er ist nicht etwas Besonderes. Er ist nicht mehr böse, mehr hinterhältig oder mehr gefährlich als die anderen elf. Judas ist einer der zwölf. Einer von den zwölf Verrätern.

Die späteren Evangelisten Lukas und Johannes sind dann mehr und mehr geneigt, Judas als den Verräter auszumachen. Da gibt es keine Grenzen dafür, wie viele schlechte Eigenschaften sie dann Judas zugeschrieben haben. Johannes treibt es auf die Spitze, wenn er erzählt, dass Judas ein Dieb gewesen sei, der sich and er Kasse vergriffen h at, ja er war ein wahrer Teufel.

Die Geschichte davon, wie sich die Erzählung vom Verrat verändert von der Anonymität bei Paulus hin zu den immer wilderen Neigungen bei den Evangelisten und in der Kirche, Judas zu einem Hassobjekt zu machen, das ist die Geschichte von dem Drang der Menschen, den auszustoßen, der offenbar macht, was in uns allen vor sich geht. Denn wenn wir den ausstoßen können, der das tut, was alle hätten tun können, dann können wir auch die Schuld von uns weisen und sie auf ihn legen, den Sündenbock, der die Schuld der Welt und unsere Schuld mit sich in die Finsternis trägt. So wurde Judas zum Verräter, dem kleinlichen, neidischen, opportunistischen Schurken, der alles daransetzt, sich selbst zu retten – und wenn es auch bedeutet, einen Freud zu verraten und auch noch dafür Geld zu nehmen.

Der verstorbene jüdische Autor Amos Oz hat als einen seiner letzten Romane den Roman Judas geschrieben. Hier gibt Oz eine andere Schilderung von Judas. Was nun, wenn Judas so handelt, wie er das tut, weil er als der einzige Jünger am Gründonnerstag den Glauben bewahrt hat und also glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist? Und deshalb glaubt Judas voll und ganz, wenn Jesus gefangen wird, dann wird Jesus schließlich zeigen, wer er ist, seine göttliche Stärke beweisen. Vom Kreuz herabsteigen und das Reich wiederaufrichten. Der Judas-Kuss, ist das als Verrat gemeint, oder ist es ein Krönungskuss, der Kuss, den man einem König gibt, ehe die große Schlacht beginnt? Und ist es das große Unglück und die grausame Tragödie des Judas, dass er Jesus missversteht und dann den verrät, an den er glaubt.

Als jedenfalls die Wahrheit für Judas aufgeht und Jesus gefangen wird, ohne Widerstand zu leisten, ist Judas der einzige, der handelt. Die andere flüchten, aber Judas will als der einzige unter den zwölf nicht ohne Jesus weiterleben. Hier wird das Verspechen eingelöst, das Petrus Jesus gegeben, aber nicht gehalten hat: „Ob du auch sterben wirst, will ich zusammen mit dir sterben“.  Das sagt Petrus, aber es ist Judas, der es tut. Judas stirbt am selben Tag wie Jesus. Karfreitag hängen beide an ihrem Kreuz.

Judas. Er ist der Mensch. Der ist jeder. Und er ist der, der Jesus in einer besonderen Weise verbunden ist. Sein Name ist derselbe wie der Jakob-Sohn Juda. Er, in dessen Stammbaum Matthäus zu Beginn seines Evangeliums sorgsam aufführt, dass Jesus über Josef dazugehört. Jesus war vom Stamm Juda. So eng sind die beiden verbunden. Sie sind beide Juda-Söhne. Das Opfer und der Gehilfe der Henker sind Brüder.

Ist es nicht auch deshalb, dass er an dem Tisch sitzen bleibt, Judas. Selbst als er sich selbst verraten hat, bleibt Judas sitzen. Und er empfängt Brot und Wein ganz wie die anderen. Mit genau denselben Worten: Das ist mein Leib, das ist mein Blut. Trinkt alle. Ob nun der Verrat des Judas bewusster Boshaftigkeit oder einem furchtbaren Missverständnis entspringt, auch Judas empfängt das Abendmahl von Jesus in dieser Nacht. Jesus teilt sich selbst auch mit ihm.

Und schließlich sieht Jesus in die Runde der Speisenden und gibt die Verheißung: „Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an dem Tag, an dem ich aus Neue davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich“. Zusammen mit euch! Euch. Das muss auch Judas miteinschließen.

Und wenn es das nicht tut, dann haben wir anderen an diesem Tisch nichts verloren, der gedeckt ist. Ist Judas ausgeschlossen, sind alle ausgeschlossen. Aber jetzt wird uns gesagt: Esst, das wird euch gegeben, trinkt alle. Das ist nicht nur eine Einladung an jeden einzelnen. Das ist eine Erinnerung daran, dass die Gemeinschaft mit unserem Herrn, in die wir beim Abendmahl einbezogen werden, auch die anderen einbezieht – auch die oder den, die nicht mit uns beim Abendmahl waren.

Die ersten Christen nahmen aus eben diesem Grund Brot und Wein vom Abendmahl und brachten es denen, die aus irgendeinem Grund nicht am Gottesdienst teilgenommen hatten. Das ist so gesehen der Beginn unserer Einsammlungen, ob wir nun unseren Beitrag in den Klingelbeutel legen, im Netz bezahlen oder auf dem Weg vom Gottesdienst eben mal bei denen vorbeischauen, die von zuhause nicht wegkommen können.

Wenn Kinder den Kirchenraum betreten, wundern sie sich oft über die Altarschranke. Wozu ist die da? Soll der Pastor eingezäunt werden, oder dürfen die anderen nicht zum Altar kommen? Ist das so eine Anordnung im Sinne von „Zutritt verboten“? So sieht es ja leider aus. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Altarschranke soll nicht zuschließen, sondern aufschließen. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass da mehr Platz ist am Altartisch, als wir sehen können. Wir füllen nicht den Platz aus am Tisch. Denn der Altar ist ein Tisch, wo Platz genug ist.

Es liegt ein tiefer Sinn darin, dass wir in unserer Kirche nicht in einem geschlossenen Kreis sitzen und um den Altar herum sitzen. Denn wenn wir am Abendmahl teilnehmen, sitzen wir mit an einem Tisch, dessen andere Hälfte wir nicht sehen können. Die steht ja in der Ewigkeit. Alle die, die hier vor uns waren, die, die wir vermissen, die, die wir nicht kennen, und alle die, zu denen wir uns nicht bekennen wollen – die sitzen mit am Tisch, wann immer wir das Abendmahl feiern.

Am Tisch des Herrn ist der Platz unbegrenzt, und es ist schnell serviert. Wir brauchen nicht so viel, um alles mitzubekommen. Das Brot und den Wein. Leib und Blut Jesu. Sein Leben und seine Kraft. Dann werden wir genährt und haben teil an dem, was Jesus ist: Die Treue, die beharrliche Liebe, die alles erträgt – Verrat, Dummheit, Feigheit.

So dass er morgen sterben kann, wie wir sterben werden. Und dass wir jeden einzigen Morgen und allezeit leben können, wie er lebt. Amen.

Pröpstin Margrethe Dahlerup Koch

Fjord Alle 13

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