Jeremia 20, 7-11a

Jeremia 20, 7-11a

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Okuli, 18.
März 2001

Predigt
über Jeremia 20, 7-11a, verfaßt von Paul Kluge


Liebe Geschwister,

Baruch wurde allmählich unruhig: Die Sonne
war schon fast untergegangen, und Jeremia war noch nicht zurück. Am Morgen
waren sie gemeinsam zum Markt gegangen, Baruch wollte Gemüse und ein wenig
Fleisch für den Tag kaufen, und Jeremia hatte einen Töpfer gesucht.
„Wir brauchen kein neues Geschirr,“ hatte Baruch gesagt, und Jeremia
hatte etwas spitz geantwortet: „Ich wohl.“ Dann hatten sich ihre Wege
getrennt. Nun war es Abend, und von Jeremia war nichts zu sehen. Das Essen
schmurgelte auf dem Feuer, Baruch hatte Hunger. Ein Nachbar kam vorbei.
„Hast du Jeremia in der Stadt gesehen?“ – „Nicht nur gesehen,
ich habe ihn auch gehört. Am Scherbentor, an der Müllkippe. Senatoren
waren bei ihm und der Priesterrat. Denen hat er’s mal wieder tüchtig
gegeben. Klasse war das. Daß Jerusalem zerstört würde, hat er
noch gesagt, und daß das Gottes Gericht sei. Dann hat er einen teuren
Tonkrug zerschmettert und gesagt: Genau so wird Gott es mit euch machen.“
– „Und dann?“ fragte Baruch und ahnte Schlimmes. „Dann hat er
sie einfach stehen gelassen, ist in den Tempel gegangen und hat den Leuten dort
das Gleiche erzählt. Der Hohe Priester hat ihn dann verhaften lassen. Das
kommt davon, wenn man den hohen Herren die Wahrheit sagt.“ Damit ging der
Nachbar weiter.

Baruch sicherte das Feuer, warf sich ein
wärmendes Tuch über und eilte zum Tempel. Sein Weg führte ihn am
Benjamintor vorbei. Dort stand eine mittlere Ansammlung von Leuten, und es
klang ihm, als ob einige wütend schimpfen, andere spöttisch
höhnten. Als er näher kam, sah er am Boden eine Gestalt liegen.
„Wer ist das da?“ fragte er jemanden. „Dieser Verrückte,
der sich für einen Propheten hält und nur Katastrophen
phantasiert.“ – „Meinst du Jeremia?“ entsetzte Baruch sich,
wartete die Antwort nicht ab und drängte sich zu der Gestalt durch. Er
hörte leises Stöhnen, ging näher und erkannte Jeremia, an
Händen und Füßen angekettet. Baruch sprach ihn an,
berührte seine Schulter, doch Jeremia reagierte nicht. Gesicht und
Rücken waren blutig; Jeremia war wohl ausgepeitscht worden. Baruch bat die
Leute, doch weiterzugehen. Die meisten blieben. Baruch ging Wasser holen.
Jeremia würde Durst haben, und das Blut mußte abgewaschen werden.

Baruch tauchte einen Zipfel seines Kittels ins
Wasser und wischte Jeremia damit über die verkrusteten Lippen. Der schlug
die Augen auf, lächelte schwach, als er seinen Mitarbeiter erkannte.
Stöhnte ein paar mal, als Baruch das Blut abwusch, und als er ihm den
warmen Umhang überlegte, schlief er ein. Baruch setzte sich daneben.
Überdachte, was er gehört hatte, dachte über Jeremia nach. Warum
ließ er es nicht, Unheil und Gericht anzudrohen? Es war schließlich
nicht das erste mal, daß er den Zorn der Oberen erregt hatte. Aber er
redete weiter, als ob nichts gewesen wäre – nein, eher, als ob er unter
einen Zwang stünde, als ob er nicht anders könnte. Baruch erinnerte
sich an manche Stunde tiefster Verzweiflung bei Jeremia. Einmal hatte er sogar
die Stunde seiner Geburt verflucht. Er litt unter der Ablehnung, die er erfuhr,
litt unter der Vergeblichkeit seines Redens, unter der Anfeindung derer, die er
retten wollte. Aber statt aufzuhören, wurde er immer schärfer in
seinen Reden. Nun hatten sie ihn ausgepeitscht und öffentlich zur Schau
gestellt.

Jeremia murmelte vor sich hin, öffnete die
Augen. Baruch gab ihm zu trinken. Dann schlief Jeremia wieder. Es war kühl
geworden, die Leute hatten sich verzogen. Im Mondschatten lief jemand
gebückt an einer Mauer entlang, kam direkt auf Baruch zu. Dem wurde etwas
mulmig zu Mute. Dann erkannte er den Nachbarn. „Hier,“ flüsterte
der, „eine Decke für dich. Und das Essen, das du noch auf dem Feuer
hattest. Wirst Hunger haben.“ Dann lief der Nachbar wieder zurück.

Baruch legte sich die Decke um und aß ein
wenig. Es schmeckte ihm zwar nicht, aber es wärmte ein wenig. „Was
ist das nur für ein Mensch, für den ich arbeite?“ fragte er
sich. „Alle seine Reden muß ich aufschreiben. Er diktiert sie mir,
wenn er sie gehalten hat; nie bereitet er sich vor. Es kommt über ihn, hat
er mal gesagt. Und dann muß er einfach reden und andere mit seinem Reden
in Rage bringen. Redet manchmal selbst wie ein Rasender. Dabei hätte er
als Sohn eines Priesters selbst Priester werden, hätte ein ruhiges,
beschauliches Leben führen können. Hätte gut verdienen, die
Tochter eines anderen Priesters heiraten und nette Kinder haben können,
ein angesehener Bürger Israels wäre er geworden. Einer unter anderen
allerdings und nur begrenzt etwas Besonderes. Statt dessen liegt er hier in
Ketten, öffentlich gedemütigt und ausgepeitscht. Und ich sitze neben
ihm. Das habe ich mir auch nicht träumen lassen, als ich sein Angebot
annahm, für ihn zu arbeiten.“

Jeremia atmete ruhig, stöhnte auch nicht
mehr. Baruch wickelte sich in die Decke und legte sich auf den Boden, eine Hand
an Jeremias Schulter. Dann schlief er ein, bis jemand ihn rief. Es war Jeremia,
und die Sonne ging auf. Baruch holte frisches Wasser, Jeremia trank gierig.
„Wie ist das passiert?“ fragte Baruch, doch Jeremia schüttelte
nur den Kopf. Dann begann er zu weinen. Baruch hielt seine Hand und sagte
nichts.

Später – Baruch hatte Jeremia inzwischen das
kalte Essen vom Vortag eingeflößt – erschien mit Gefolge Pashur, der
Hohe Priester. „Hoffentlich war dir das eine Lehre!“ sagte er zu
Jeremia. Dann befahl er seinen Dienern, Jeremia freizulassen und ging wieder.
Kaum war Jeremia frei, rief er dem Pashur Drohungen nach: Jerusalem würde
zerstört, das Volk nach Babylon entführt und er, Pashur, würde
in fremder Erde begraben werden. Doch der hörte wohl nicht oder wollte
nicht hören, jedenfalls bekamen die Diener nicht Befehl, Jeremia wieder
anzuketten.

„Laß uns nach Hause gehen,“ schlug
Baruch vor, doch Jeremia konnte kaum gehen. Baruch bat ihn, einen Augenblick zu
warten; er hatte einen Bekannten mit einem Esel entdeckt und lieh sich das Tier
aus, half Jeremia beim Aufsteigen und brachte ihn so nach Haus. Während
den ganzen Weges schwieg Jeremia, und Baruch traute sich nicht, etwas zu sagen.
Er sah nur die Tränen in Jeremias Augen, ahnte die Verzweiflung. Zuhause
bereitete er Jeremia als erstes ein Bad, dann machte er Feuer und etwas zu
essen. Doch Jeremia wollte weder baden noch essen. Saß am Boden und
schlug mit der Faust auf den Teppich, schlug sich vor den Kopf, raufte sich die
Haare. Dann saß er ganz still und in sich zusammengesunken. „Warum
muß ich leiden, weil ich Gott gehorche!“ flüsterte er immer
wieder, und zwischendurch: „Aber ich kann nicht anders, ich muß ihm
gehorchen!“

Baruch kannte solche Situationen. Darum hielt er
sich in seiner Nähe auf, erledigte Kleinigkeiten. Seine Schreibsachen
lagen bereit. Schließlich stand Jeremia auf, begann – mühsam – auf-
und abzugehen. „Was ist das für ein Leben, Baruch,“ fragte er
dann, „abgelehnt, angefeindet, verfolgt – weil ich die Wahrheit sagen
muß. Weil ich Gottes Volk vor dem Verderben warnen muß. Weil ich
sein Volk mitsamt seinen Oberen zu Gott zurückrufen muß. Ich
muß, verstehst du? Es, nein er, Gott selber, zwingt mich. Weil er sein
Volk retten will, muß ich leiden. Muß auf alles verzichten, was
Menschen gern haben: Erfolg, Ansehen und Anerkennung, Liebe. Freude am Leben,
Friede mit sich und anderen. Was davon habe ich? Nichts, rein gar nichts.
Ausgepeitscht, öffentlich gedemütigt, von den Leuten begafft wie ein
Monster. Kann Gott so grausam sein, daß er mich kaputt macht? Ich
möchte ihm davonlaufen, ihn vergessen – doch ich kann nicht. Er ist
stärker. Und, Baruch, eben darum, weil er der stärkere ist, eben
darum werde ich am Ende Recht behalten, glaub es mir.“

Baruch hatte eifrig mitgeschrieben. Spätere
Zeiten, da war Baruch sich sicher, würden anhand seiner Protokolle
feststellen, daß Jeremia Recht bekommen hat. Amen

Gebet:

Gott, du führst uns immer wieder das
Schicksal deiner Propheten vor Augen, das Schicksal von Menschen, die deinen
Willen kennen und ihn umsetzen wollen; die ihren Mitmenschen die Augen für
ihr Unrecht und damit für eine bessere Welt öffnen wollen. Doch es
scheint das Schicksal solcher Propheten zu sein, daß sie um deiner
Wahrheit willen verfolgt, sogar getötet werden.

Gott, wir müssen gestehen: Wir taugen wenig
zu Blutzeugen deiner Wahrheit. Ja, oft tun wir uns schon schwer etwas zu sagen,
wenn in unserer kleinen Umgebung ein kleines Unrecht geschieht. Dann sehen wir
lieber weg und halten den Mund, anstatt uns die Zunge zu verbrennen. Gott, du
erwartest vielleicht keine großen Taten von uns, doch gib uns Mut,
wenigstens die kleinen Wahrheiten zu sagen.

Liedvorschlag:

Du schöner Lebensbaum des Paradieses
(Wochenlied) EG 96; In dich hab ich gehoffet, Herr, EG 275; Wenn wir in
höchsten Nöten sein, EG 366; Erneure mich, o ewigs Licht, EG 390

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen
Werk in der
Kirchenprovinz Sachsen
Postfach 54, 39028 Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


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