Jeremia 9,22-23

Jeremia 9,22-23

Wer sich rühmt, rühme sich des Herrn | 13.02.2022 | Jer 9,22-23 | Thomas Muggli-Stokholm |

So spricht der EWIGE: Wer weise ist, rühme sich nicht seiner Weisheit, und der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, wer reich ist, rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern dessen rühme sich, wer sich rühmt: einsichtig zu sein und mich zu erkennen, dass ich, der EWIGE, es bin, der Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden, denn daran habe ich Gefallen. Spruch des EWIGEN.

Liebe Gemeinde. Mir macht es Freude, Gottesdienste vorzubereiten und mit Ihnen zusammen zu feiern. So lege ich grossen Wert auf eine sorgfältige Gestaltung der Predigt und der Liturgie. Und ich stelle hohe Ansprüche an mich selbst. Klar freue ich mich deshalb, wenn ich dann und wann positive Feedbacks bekomme und für einen gelungenen Gottesdienst gerühmt werde. Doch mit dem heutigen Predigttext werden alle Freude und aller Stolz über Gelungenes, über Leistung und Erfolg verdächtig, ja eigentlich unmöglich. Denn wir dürfen uns nicht mehr rühmen, weder für unsere Weisheit, noch für unsere Stärke noch für unseren Reichtum. Wer mit dem Glauben an Gott ernst machen will, muss einsehen, dass er von sich aus niemand und nichts ist. Alles, was ein Mensch erkennt, was er kann und hat, verdankt er dem ewigen Gott. Ihn allein soll er rühmen, sich selbst aber in Demut und Bescheidenheit üben.

Das tönt altbekannt. Es ist tief eingebrannt in uns als Inbegriff christlicher Moral: Wer glaubt, macht sich klein und tut sich ja nicht hervor. Wen wundert es da, dass die Kirchen heute immer leerer werden, während unzählige Menschen an Sportveranstaltungen pilgern, um mitzufiebern mit ihren Idolen und – falls sie gewinnen – etwas von ihrem Ruhm und ihrer Ehre mitzubekommen? Ja, wäre unsere Welt nicht todlangweilig, wenn es keinen Wettlauf mehr gäbe, wer die Klügere und wer der Stärkere ist? Sogar Paulus, welcher sonst nicht genug betonen kann, dass wir nicht durch eigene Werke, sondern durch den Glauben allein gerettet werden, schlägt im Philipperbrief wettkämpferische Töne an und schreibt: „Ich richte meinen Lauf auf das Ziel aus, um den Siegespreis zu erringen, der unserer himmlischen Berufung durch Gott in Christus Jesus verheissen ist.“ (Phil 3,14)

Der Verfasser unseres Textes war zu Lebzeiten unbeliebt. Jeremia wurde verfolgt und ins Gefängnis geworfen. Er überlebte mehrere Anschläge und Mordversuche. Grund dafür ist seine Verkündigung, die in ihrer Schärfe weit über unseren Predigttext hinausgeht: Im Namen Gottes fällt der Prophet ein vernichtendes Urteil über das Volk Israel und kündigt den nahen Untergang an. So ist auch unser Predigttext eingebettet in ein Kapitel voller Beschuldigungen und Drohungen. Jeremia brandmarkt alle seine Volksgenossen als Lügner, Betrüger und Diebe. So ist Gottes Urteil gefällt. Er wird sein Volk mit brutalen Strafen schlagen, es den Heidenvölkern gleichstellen und untergehen lassen. In den Versen vor unserem Text ruft der Prophet darum die Frauen auf, ihre Töchter das Wehklagen zu lehren.

Wie aussichtslos die Lage ist, macht Jeremia mit drastischen Worten deutlich. Er schreibt: „Die Leichen der Menschen werden herumliegen wie Dünger auf dem Feld und wie abgeschnittene Ähren hinter dem Schnitter, und da ist niemand, der sie sammelt“ (Jer 9,21).

Da gibt es tatsächlich nichts mehr zu rühmen – und unser Predigttext wirkt im Vergleich zum grossen Rest des Kapitels geradezu zahm. JA, die Mahnungen Jeremias auf menschlichen Ruhm zu verzichten, sind weniger ein moralischer Appell als ein zarter Lichtblick: Der Prophet öffnet in der absolut hoffnungslosen Situation die Tür in die Zukunft: Politisch gibt nichts mehr zu hoffen und schon gar nichts zu rühmen. Was den Menschen und seine Fähigkeiten betrifft, ist nichts mehr möglich, nichts, ausser die Umkehr zu Gott. So verkündigt Jeremia: „Dessen rühme sich, wer sich rühmt: einsichtig zu sein und mich zu erkennen, dass ich, der EWIGE, es bin, der Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden, denn daran habe ich Gefallen.“

Die Geschichte gibt Jeremia Recht: Der Staat Israel kommt noch zu seinen Lebzeiten unter die Räder. Die kulturell, religiös und wirtschaftlich verwahrloste Gesellschaft hat keine Chance gegen die Übermacht Babylons. Alle menschliche Weisheit, Stärke und Finanzkraft scheitern kläglich. Die einst stolze Stadt Jerusalem wird dem Erdboden gleichgemacht, das Land geplündert, ein grosser Teil der Bevölkerung ins Exil verschleppt. 

Das Einzige, was Israel dort in seiner tiefen Not hilft, ist der Rettungsanker, den ihm der Prophet Jeremia hingehalten hat: Busse tun, umkehren zu Gott, ihm die Ehre geben, ihn allein rühmen. Denn Gott allein schenkt den Seinen eine Identität, die im Flug der Zeit bestehen bleibt, indem er Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.

„Dessen rühme sich, wer sich rühmt: einsichtig zu sein und mich zu erkennen.“ Diese Aufforderung ist in vielen Psalmen umgesetzt. Einige von ihnen, wie der Psalm 146, den wir gemeinsam gebetet haben, beginnen mit dem Ruf «Halleluja» – was übersetzt heisst: 

Rühmt den EWIGEN. Es fällt auf, dass dieses «Halleluja» wenig mit der aktuellen Befindlichkeit der Betenden zu tun hat. Gerade Psalm 146 erwähnt ausführlich Menschen, die auf der Schattenseite leben: Unterdrückte, Hungrige, Gefangene, Blinde, Gebeugte, Fremdlinge, Witwen und Waisen. Ihnen verhilft Gott zu ihrem Recht, während er der Macht der Fürsten und den Machenschaften der Frevler ein Ende setzt. Der Psalm singt mit seinem Rühmen Gottes an gegen eine Wirklichkeit, in der es eigentlich nichts zu rühmen gibt. Doch was soll das bringen? Wir können Gott noch so rühmen. In der Welt bleibt die alte Hackordnung bestehen, wo die Lauten, Starken und Reichen das Sagen haben.

Vor einigen Jahren verfassten ausgerechnet zwei erklärte Agnostiker ein vielbeachtetes Buch zur Bibel: Der Evolutionsbiologe Karel van Schaik und der Historiker Kai Michel schrieben gemeinsam «Das Tagebuch der Menschheit». Dieses will eine eine «evolutionär inspirierte Erkundungstour» durch das Buch der Bücher unternehmen, um es endlich «ausreichend zu würdigen», wie es im Vorwort heisst.

Interessanterweise gehen die beiden Autoren dabei von genau der Spannung aus, welche die beiden Verse unseres Predigttextes prägt: Auf der einen Seite eine Welt, die von Ungleichheit, Unrecht und einem gnadenlosen Kampf um Stellung und Besitz geprägt ist. Auf der anderen Seite das Ideal von Recht und Gerechtigkeit, ein gnädiger Zustand, wo niemand dominiert und alle gleichberechtigt zusammenleben. Die Autoren orten diesen heilvollen Urzustand im Biblischen Paradies. Hier führen Adam und Eva ein friedliches Leben. Unsere Autoren deuten dies als Beschreibung der Frühgeschichte der Menschheit, wo wir als Jäger und Sammler lebten: Es gab keinen Besitz, alles gehörte allen, Mann und Frau waren gleichberechtigt. Oder in den Worten Jeremias gesagt: Es herrschten vollkommene Gnade, Recht und Gerechtigkeit. 

Das Übel begann, als sich eine sesshafte Bauernkultur entwickelte. Dies brachte Privatbesitz, Arbeitsteilung, die Unterscheidung von Herren und Knechten und die Unterdrückung der Frau mit sich. Gemäss den Autoren verarbeitet die Bibel diesen Kulturschock mit der Erzählung vom Sündenfall, der zum Rauswurf aus dem Paradies führt. Der Schock durchzieht die ganze Bibel, und immer wieder kommt es zum Versuch, den Urzustand wieder herzustellen. So gibt Jesus das sesshafte Leben auf, zieht mit seinen Jüngern umher, wie einst die Sammler und Jäger, und verkündigt das Reich Gottes, wo Recht und Gerechtigkeit herrschen. Am Schluss stellen die Autoren fest, dass wir nicht mehr zurück ins Paradies können. Wir können aber das pflegen, was unserer ursprünglichen Natur guttut: Gemeinschaft, Gleichheit, Gleichberechtigung». All das gibt uns ein «Stück des verlorenen Paradieses zurück.»

Die Pointe ist nun, dass dieser knapp 500-seitige Bestseller bereits Makulatur geworden ist. Die neuste Forschung räumt gründlich auf mit dem Märchen eines paradiesischen Urzustands. Soeben erschien dazu das Buch: «Eine neue Geschichte der Menschheit». Der Archäologe David Wengrow und der Anthropologe David Graeber stellen hier aufgrund konkreter wissenschaftlicher Befunde Wesentliches richtig. Zum einen zeigen Ausgrabungen, dass es keinen plötzlichen Wechsel von der Jäger- und Sammlerkultur zur sesshaften Lebensweise gab. Zum andern existieren in allen Arten menschlichen Zusammenlebens sowohl einigermassen gerechte wie auch unterdrückerische Gesellschaftsformen.

«Das Tagebuch der Menschheit» bleibt dennoch aufschlussreich: Es offenbart, wie gross die Sehnsucht nach Gnade, Recht und Gerechtigkeit bis heute bleibt. Nur ist fraglich, ob sie mit Aufrufen, das zu pflegen, was uns guttut und Appellen für mehr Gemeinschaft, Gleichheit und Gleichberechtigung je gestillt werden kann.

In Biblischer Sicht erschuf Gott die Welt tatsächlich sehr gut, so dass eigentlich alle Geschöpfe in Frieden und Harmonie leben könnten. Doch der Mensch zerstört diese heilsame Ordnung von allem Anfang an, mit seiner allerersten Tat. Das heisst: Die wahre Natur der Menschen besteht nicht in ursprünglicher Unschuld. Die wahre Natur des Menschen ist seine Selbstliebe, sein Drang, Gott gleich zu werden, sein Zwang, sich zu rühmen, um selbst jemand zu sein.

Die Urgeschichten der Bibel, vom sogenannten Sündenfall, über Kain und Abel und die Sintflut bis zum Turmbau zu Babel bringen die Grunderfahrung auf den Punkt, wie alle Versuche, sich selbst zu verwirklichen, verzweifelt bleiben: Menschlicher Ruhm, menschliche Weisheit, Stärke und Grösse bleiben immer relativ: Ein Mensch kann noch so klug, stark und reich sein. Es ist praktisch sicher, dass irgendwann einer kommt, der noch besser ist. Und so lebt er in ständiger Angst, sein Ansehen zu verlieren. Und irgendwann wird ihn der grösste Feind besiegen: Auch der grösste Erfolg, auch der höchste Ruhm wird einmal Vergangenheit. Keine menschliche Weisheit, keine Kraft und kein Reichtum sind der Vergänglichkeit und dem Tod gewachsen.

In diesem Licht gesehen sind die Mahnungen Jeremias definitiv kein moralischer Appell, sondern eigentlich eine enorme Entlastung: Vor Gott müssen wir nicht grosstun und angeben mit unserer Weisheit, unserer Stärke und unserem Reichtum. Vor Gott dürfen wir sein, wie wir sind, zu unserer Ratlosigkeit stehen, unsere Schwäche bekennen und eingestehen, dass wir mit leeren Händen vor ihm stehen.

Und Gott lädt uns ein, ihn zu rühmen, so, wie wir sind, ins Hallelujah seiner Werke einzustimmen. Im Rühmen erkennen und erfahren wir, dass Gott allein der ist, welcher Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden. Und indem wir ins Hallelujah einstimmen, kehren wir um, weg vom Eigenlob, wo wir verzweifelt unsere Klugheit, Stärke und Stellung verteidigen, hin zum Lob Gottes, dessen Reich nahe ist, wie Jesus verkündigt.

Dieses Reich ist der neue Lebensraum, den Gott eröffnet. Wir betreten ihn, wenn wir alles, was wir sind, unsere Weisheit, unsere Stärke und unseren Reichtum hingeben,

pflegen und wachsen lassen – zur Ehre Gottes und zum Segen der Menschen und der Schöpfung. Dabei dürfen wir uns von Herzen freuen über das, was gelingt, 

Komplimente und Anerkennung dankend annehmen. Und weil wir wissen, wie gut das tut, pflegen wir selbst eine Kultur der Wertschätzung.

Zugleich bleiben wir uns bewusst, dass alles Gnade ist. So geben wir den Dank an Gott weiter und loben ihn für seine Güte. Dieses Lob bestärkt uns in der Hoffnung, dass sein Reich auf unserer Erde wächst, bis einmal alle Gewalt, alle Ausbeutung und aller Terror ausgerottet sind, und Gottes Gnade, sein Recht und seine Gerechtigkeit vollkommen sind. Amen.


Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm

Wolfhausen

E-Mail: thomas.muggli@zhref.ch

Thomas Muggli-Stokholm, geb. 1962, Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, bis Ende 2021 Pfarrer in Bubikon, ab 1. Januar 2022 in Fehraltorf, daneben seit 2020 Koordinator der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der Deutschschweiz (LGBK).

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