Jeremias Brief an die …

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Jeremias Brief an die …

Jeremias Brief an die Verbannten – damals und heute | Predigt zu Jer 29,1.4–7(8–9)10–14 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |

Jeremia sitzt am Fenster seiner Wohnung in Jerusalem und schaut hinaus auf die ausgestorbenen Gassen der Stadt. Eigentlich will er einen Brief schreiben. Doch Jeremia kann sich nicht konzentrieren. Denn er blickt auf schlimme Tage zurück. Die Babylonier belagerten Jerusalem mit ihrem mächtigen Heer. Israels Streitmacht hatte keine Chance in diesem ungleichen Kampf. Bald gingen die Lebensmittel in der Stadt zur Neige, so dass die Bevölkerung und die Krieger vom Hunger geschwächt waren. So hatten die Babylonier schliesslich leichtes Spiel. Sie schleiften die Stadtmauern, nahmen Jerusalem ein, verschleppten den König Jehojakim mitsamt grossen Teilen der geistigen Elite, der Handwerker und jungen Leute ins Exil. Sie raubten die Schätze des Tempels und des Königshauses und hinterliessen Trümmer und Zerstörung.

Jeremia gehört zu jenen, die in der Stadt bleiben konnten, weil er mittlerweile zu alt ist, um die fremden Eroberer noch zu interessieren. Dabei war er es, der Israel schon seit bald drei Jahrzehnten im Auftrag Gottes den nahen Untergang verkündigte. Jeremia verbrachte eine schöne Kindheit als Sohn eines Priesters. Er war klug, erhielt Unterricht bei den weisesten Männern der Stadt und hatte beste Chancen für eine Laufbahn am Hof oder am Tempel.

Doch dann hörte er eines Tages geheimnisvoll, unerklärlich, Gottes Stimme, die ihn zum Propheten berief. Jeremia sollte das Wort Gottes zu verkündigen, um auszureissen und niederzureissen, um zu zerstören und zu vernichten, um zu bauen und zu pflanzen (Jer 1,10).

Schon damals ahnte er, wieviel Schweres mit diesem Auftrag verbunden sein würde. Und er wehrte sich mit allen Kräften. Vergeblich! Jeremia gehorchte am Ende und verkündigte König und Volk im Gottes Strafgericht: Wenn Israel nicht umkehrt von seinem Götzendienst, von Täuschung, Betrug, Lüge und Gewinnsucht, um wieder Gott zu dienen, sein Recht und seine Gerechtigkeit zu suchen, würde es untergehen und vor allen Völkern zuschanden werden.

Natürlich schuf sich Jeremia viele Feinde, vor allem in der Oberschicht. Er galt als Verräter, Verleumder und Volksverhetzer. Man verhaftete ihn, folterte ihn und deckte ihn mit Morddrohungen zu. Jeremia geriet wiederholt an den Rand der Verzweiflung, wollte vor seinem Auftrag fliehen, verfluchte den Tag seiner Geburt – und hielt am Ende doch allen Anfechtungen stand.

Und jetzt ist eingetreten, wovor er immer warnte: Es ist aus und vorbei mit Israel. Der neue König Zidkijahu, eine jämmerliche Marionette der Babylonier, will eine Delegation von Diplomaten nach Babel senden. Jeremia hat Freunde unter ihnen, die um einen ermutigenden Brief für die Verbannten baten. Doch was soll er in dieser trostlosen Lage schreiben?

Eigentlich wäre die Gelegenheit da für eine gründliche Abrechnung. Jeremia könnte die Mächtigen und Reichen, die ihn dreissig Jahre lang mundtot machen wollten, endlich mal so richtig in den Dreck ziehen und müsste sich nicht einmal vor Rache fürchten. Doch der Prophet widersteht dieser Versuchung.

Nach langem Nachdenken beginnt er zu schreiben. Jeremia weiss nicht, wie ihm geschieht. Dreissig Jahre lang hat er im Name Gottes den Untergang Israels gepredigt und dabei zum Teil drastische Mittel angewendet. Noch vor kurzem lud er sich ein Joch auf die Schultern – zum Zeichen dafür, dass Israel das Joch Babels auf sich nehmen muss, um der Vernichtung zu entgehen. Nun aber fliessen ihm auf einmal ganz andere, aufbauende Worte aus der Feder:

«So spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels, zu allen Verbannten, die ich in die Verbannung geführt habe, von Jerusalem nach Babel: Baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und esst ihre Frucht, nehmt Frauen und zeugt Söhne und Töchter, und nehmt Frauen für eure Söhne und gebt eure Töchter Männern, damit sie Söhne und Töchter gebären, damit ihr dort zahlreicher werdet und nicht weniger. Und sucht das Wohl der Stadt, in die ich euch in die Verbannung geführt habe, und betet für sie zum HERRN, denn in ihrem Wohl wird euer Wohl liegen. Denn so spricht der HERR: Erst wenn siebzig Jahre erfüllt sind für Babel, werde ich mich um euch kümmern. Dann werde ich mein gutes Wort an euch einlösen und euch zurückbringen an diese Stätte. Denn ich, ich kenne die Gedanken, die ich über euch denke, Spruch des HERRN, Gedanken des Friedens und nicht zum Unheil, um euch eine Zukunft zu geben und Hoffnung. Und ihr werdet mich rufen, und ihr werdet kommen, und ihr werdet zu mir beten, und ich werde euch erhören. Und ihr werdet mich suchen, und ihr werdet mich finden, wenn ihr nach mir fragt mit eurem ganzen Herzen. Dann werde ich mich für euch finden lassen, Spruch des HERRN, und ich werde euer Geschick wenden und euch sammeln aus allen Nationen und aus allen Orten, wohin ich euch versprengt habe, Spruch des HERRN, und ich werde euch zurückbringen an die Stätte, von der ich euch in die Verbannung geführt habe.»

Wenden wir uns einen Moment weg von Jeremia und richten unsere Aufmerksamkeit auf die Verbannten in Babel: Wie wirken Jeremias Worte auf sie? Wohl strahlen sie Trost und Zuversicht aus. Doch sie muten den Adressatinnen und Adressaten zugleich enorm viel zu.

Das beginnt schon bei der Einleitung: Jeremia hält fest, dass nicht die Babylonier, sondern Gott selbst die Verbannten in die Verbannung führte. Der Untergang Israels kann nicht fremden Mächten in die Schuhe geschoben werden. Er bleibt die Folge des Fehlverhaltens der Verantwortlichen im Volk. Und Jeremia beschönigt die Katastrophe nicht – ganz anders als die Lügenpropheten und Wahrsager. Diese treiben auch nach der Katastrophe ihr Unwesen und behaupten, dass Babylon in spätestens zwei Jahren untergehen und Israel in alter Grösse erstrahlen wird. Jeremia hält dementgegen fest, dass die Verbannung nicht weniger als siebzig Jahre dauert, drei Generationen, ein ganzes Menschenalter.

Darum rät der Prophet den Verbannten im Namen Gottes, sie sollten heimisch werden in der Fremde, Häuser bauen und Gärten anlegen. Sie sollen heiraten, Kinder zeugen, welche wiederum Kinder haben. Jeremia schliesst dabei nicht aus, dass auch Mischehen zwischen Babyloniern und Juden möglich sind.

Noch weiter geht die letzte Herausforderung, welche der Prophet den Verbannten zumutet: Sucht das Wohl der Stadt, in die ich euch in die Verbannung geführt habe, und betet für sie zum HERRN, denn in ihrem Wohl wird euer Wohl liegen.

Für das Wort «Wohl» steht in der Hebräischen Bibel «Schalom», Frieden im umfassenden Sinn. Die Verbannten sollen aus sein auf den Frieden, das umfassende Wohlergehen ihrer Feinde, die sie gedemütigt und gequält haben, und sie sollen für sie beten. Das weist voraus auf die Bergpredigt Jesu, mit welcher dieser noch 600 Jahre später gewaltigen Anstoss erregt.

Wir können uns gut vorstellen, dass der Brief Jeremias bei den Verbannten mehr Ärger und Wut als Trost bewirkt. Unglaublich, was ihnen dieser unverschämte Prophet wieder einmal zumutet: Sie sollen selbst an ihrem Unglück schuld sein. Sie sollen sich arrangieren in der Verbannung und es sogar zulassen, dass es zu Ehen mit Töchtern oder Söhnen der Feinde kommt. Und sie sollen beten für ihre Peiniger! Unmöglich! Skandalös!

Wie steht es mit uns? Was würde Jeremia uns schreiben?

Stellen wir uns vor, wie der Prophet am Fenster eines Hauses in Bern sitzt und besorgt hinausschaut auf die Gassen. Auch diese Stadt wirkt wie ausgestorben, aber nicht weil irgendeine feindliche Macht das Land erobert hat. Die Corona-Pandemie lässt die meisten freiwillig zuhause bleiben. Das ist aber nicht der Grund für Jeremias Sorge, weiss er doch, dass diese Krise in absehbarer Zeit durchgestanden ist.

Es geht um Grundsätzlicheres: Im Kapitel 23 seines Buchs hat er verheissen, dass Gott aus dem Haus des Königs David einen gerechten Spross auftreten lassen wird, den König, der Recht und Gerechtigkeit üben wird im Land. Jeremia weiss, dass die Menschen in unserem Land viele Jahrhunderte lang aus dem Glauben lebten, dass diese Verheissung sich in Jesus von Nazareth erfüllte.

Was aber ist heute davon geblieben? Nachdenklich schaut Jeremia zum Bundeshaus. Nein, dort regieren keine korrupten Könige, sondern vom Volk gewählte Frauen und Männer. Von wem oder was lassen sie sich leiten? Jeremia weiss von der Art und Weise, wie die Menschen das Evangelium dieses Jesus, seine Botschaft des Friedens und der Gerechtigkeit, im Lauf der vergangenen Jahrhunderte immer wieder verdrehten und für ihre eigenen Interessen missbrauchten. Der Prophet hat darum Verständnis dafür, dass sich die Frauen und Männer im Bundeshaus grossmehrheitlich mit Händen und Füssen gegen die Einflussnahme der Religion wehren und allergisch reagieren, wenn jemand mit dem Wort Gottes Politik betreibt. Doch scheint ihm, dass dieses Volk mit der Verbannung des Religiösen aus der Öffentlichkeit zu weit geht.

Und es schmerzt Jeremia, dass die Minderheit, welche noch an Jesus von Nazareth und Gott, seinen Vater, glaubt, sich verschüchtert hinter die Kirchenmauern zurückgezogen hat und sich dort brav an das ungeschriebene Gesetz hält, dass Religion Privatsache ist und niemanden sonst etwas angeht.

Traurig schüttelt der Prophet den Kopf. Was wäre damals geschehen, wenn die Verbannten seinen Brief voller tröstlicher Zumutungen zerrissen und in Selbstmitleid und Abschottung versunken wären?

Jeremia denkt sich: Äusserlich leben die Menschen in der Schweiz zwar in Freiheit. Doch innerlich fühlen sie sich ins Exil verbannt. Nichts ist mehr wie früher. Es gibt keinen Sonderfall Schweiz mehr, kein Bankgeheimnis, keine Volkskirche.

Auch die verbleibenden Anhänger von Jesus sehen sich in der Fremde. Sie lassen sich Augen und Ohren verdrehen durch jene, die behaupten, dass es rasch wieder aufwärtsgeht, wenn sie nur die Gesetze des Marktes beachten und sich dementsprechend attraktiv, volksnah und zeitgemäss präsentieren. Religion als Wellness- und Wohlfühlprogramm. Ist das nicht genau das, was er vor mehr als 2’500 Jahren in aller Schärfe an den Lügenpropheten und Wahrsagern kritisierte und damit Kopf und Kragen riskierte?

Jeremia mahnt sich zur Eile. Sein Brief muss schnell fertig werden, damit er auf allen Kanälen ausgestrahlt werden kann. Nach einem Moment der Stille und Besinnung beginnt er zu schreiben:

So spricht der Gott Israels, der Vater Jesu, zu allen Verbannten, die ich in die Verbannung geführt habe, von Jerusalem in die Schweiz und in viele andere Länder:

Findet euch ein an dem Ort, wohin ich Euch gebracht habe. Akzeptiert die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, baut auf, pflanzt an. Zieht euch nicht zurück, sondern nehmt Anteil an der Welt, wie sie sich euch zeigt und bringt euch ein. Vergesst dabei nicht, kritisch zu bleiben und im Licht meines Wortes die Geister zu unterscheiden.

Sucht die Beziehung zu den Menschen. Und seid aus auf den Frieden der Städte und Orte, wohin ich euch geführt habe, selbst wenn ihr sie fremd oder gar feindlich empfindet. Betet für sie, denn Euer eigener Friede hängt unauflöslich mit dem Frieden im Land zusammen.

So spricht Gott: Ein Menschenalter seid ihr hier auf Erden. Ihr seid voll Sehnsucht nach Heimat, die bleibt, nach Frieden und Fülle. Doch allzu schnell lasst ihr euch verführen durch Lügenpropheten und Wahrsager, die Euch einreden, dass ihr glücklich werdet, wenn ihr euch den Götzen von heute unterwerft, wenn ihr Güter anhäuft, nach Ansehen strebt und euch an das klammert, was vergeht. Dabei kenne ich meine Gedanken für euch. Es sind Gedanken des Friedens und nicht des Verderbens. Ruft mich, sucht mich, betet zu mir und gestaltet Euren Alltag aus dem Gebet. Dann findet ihr mich, mitten in eurem Alltag. Ich führe euch hinaus aus aller Zerstreuung. Ich sammle euch bei mir. Ich bin mitten unter euch und verbinde euch zur Gemeinschaft, wo Suchende Halt und Einsame Geborgenheit finden. Ich gebe euch Zukunft und Hoffnung. Und ich lade euch ein: Stimmt von ganzem Herzen ein in mein neues Lied der Versöhnung und der Verheissung des vollkommenen Friedens auf Erden. Amen.

de_DEDeutsch