„Shalom“ – Friede, Friede?

Home / Kasus / 21. So. n. Trinitatis / „Shalom“ – Friede, Friede?
„Shalom“ – Friede, Friede?

Predigt zu Jeremias 29, 1. 1. 4-7; 10-14 | verfasst von Reiner Kalmbach |

Die Gnade Gottes, unseres Vaters, die Liebe Jesu, unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

Manchmal möchte man fast erschrecken angesichts der Aktualität eines uralten Textes aus dem Alten Testament. Da ist nichts verstaubt, nichts „längst vergangen“, das spricht uns an, immer noch und immer wieder.

Ein Wort, eine Botschaft des grossen Propheten Jeremias, gerichtet an die Verschleppten in Babylon. Dieses kleine Detail ist für unser Verständnis sehr wichtig: die Botschaft richtet sich, zuallererst, an das jüdische Volk. Und das ist nicht nur geschichtlich gemeint, das ist nach wie vor brandaktuell. Mir ist dieses Detail deshalb so wichtig, weil es uns den Weg weist, um unsere eigene Rolle in dieser Geschichte zu erkennen und zu verstehen.

Textlesung: Jeremias 29, (1) 4-7; 10-14

In der Fremde

Seit über 30 Jahren lebe und arbeite ich in Argentinien. Und hier verfasse ich auch diese Predigt, in meiner Muttersprache. Nun versuche ich mich in den deutschen oder europäischen Kontext hineinzudenken und sehe alles klar vor mir: Migranten, Flüchtlinge, aus „aller Herren Länder“…, vermutlich mussten viele von ihnen ihre Heimat gerade wegen dieser „Herren“ verlassen. Hundertausende, Millionen…, in der Fremde. Und dann steht da, in Luthers Übersetzung: „suchet der Stadt Bestes!“ Da scheint es doch zwingend notwendig zu sein, diesen „Fremden“ den Integrationsgedanken nahe zu bringen, „…die sollen sich gefälligst anpassen…“.

Sollen wir des Propheten Wort so verstehen? Schliesslich sind wir ja die Herren im Haus.

Und dann sehe ich die argentinische Geschichte und Gegenwart: ein typisches Immigrantenland. 90% der Bevölkerung sind Nachkommen europäischer Einwanderer. Selbst unsere „Evangelische Kirche am Río de La Plata“ ist eng mit dieser Geschichte verbunden. Viele kamen, um hier ein neues Leben aufzubauen. Hunger, Krieg, oft genug auch religiöse oder politische Intoleranz haben diese Menschen in die Fremde getrieben. Nun sind sie hier, die meisten schon in der vierten und fünften Generation. Haben sie „der Stadt Bestes“ gesucht?, am Aufbau einer neuen und gerechteren Welt mitgearbeitet? Wenn ich mir die aktuelle wirtschaftliche und soziale Situation anschaue, kann ich mich der Zweifel nicht erwehren.

Aber noch einmal: die Botschaft des Propheten richtet sich in erster Linie an seine Landsleute in der Fremde. Also an Juden. Sie kamen ganz einfach unter die Räder der politischen und militärischen Maschinerie einer Grossmacht, wurden verschleppt und müssen nun in einem fremden Land und unter einer fremden Kultur ausharren…, abwarten?, auf gepackten Koffern sitzen…?

Nein, da gibt es ganz klare Anweisungen. Sie sollen eigentlich genau das tun, was wir von „unseren“ Ausländern erwarten: sich integrieren, sich in der Masse auflösen, unsichtbar werden, so wie wir…, stimmt das? Suchen wir wirklich das Beste, wenn wir uns ein und unterordnen, uns mit dem Strom mitziehen lassen, alle in die gleiche Richtung?, tun wir damit der „Stadt“ einen Gefallen?

Der Stadt Bestes suchen

Vor ein paar Jahren unternahm ich mit einer Gruppe von jungen Leuten eine Deutschlandreise. Für alle Teilnehmer war es das erste Mal, dass sie die ehemalige Heimat ihrer Vorfahren betraten. Bei einem Spaziergang durch die engen Gassen einer mittelalterlichen Stadt in Süddeutschland, hat plötzlich eine der Jugendlichen gefehlt. Also gingen wir den gleichen Weg zurück. Da sass sie auf der Treppe eines Hauseingangs und weinte. Mit dem Finger zeigte sie auf eine im Boden eingelassene Bronzetafel. Darauf stand der Name einer jüdischen Familie und das Datum ihrer Hinrichtung in Bergen Belsen. Ihr Professor an der Uni in Argentinien trägt denselben Nachnamen. Ein paar Tage später besuchten wir einen alten jüdischen Friedhof in einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb.

Ja, das jüdische Volk hat, durch die Jahrhunderte hindurch, immer wieder und in so vielen Ländern „der Stadt Bestes“ gesucht. Was wäre die deutsche Kultur und Musik, die Wissenschaft, ohne die Geschichte der Juden?! Sie haben mitgearbeitet, mitgebaut, mitgeforscht und sogar in den Kriegen mitgekämpft. Sie haben der Stadt, dem Land… Bestes gesucht. Und dabei haben sie ihre eigene Identität nicht verleugnet, sie waren immer Juden und… mussten deshalb leiden.

Und gerade darum geht es in der Botschaft des Propheten: sie sollen Häuser bauen, Familien gründen, am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen. Sie sollen sogar für das Wohlergehen des Landes und ihrer Herren zu Gott beten. Aber keine Integration!, im Sinne einer Vermischung. Die Bewahrung der eigenen Identität ist oberstes Gebot! Ja mehr noch: sie sollen die Zeit des Exils nutzen, um sich auf ihre Wurzeln und ihren Glauben zu besinnen.

Denn: das Exil ist eben, wie es das Wort selbst beschreibt: zeitlich begrenzt. Siebzig Jahre, das sind ungefähr drei Generationen. In gewissem Sinne sind die Adressaten Jeremias in derselben Lage wie ihre Vorfahren in Ägypten, die sich dort mehrten und zu einem grossen Volk heranwuchsen. Die Exilanten sollen sich in Babel nicht durch geringe Geburtenzahl schwächen, damit sie nicht in der Mehrheitsgesellschaft aufgehen, sondern erkennbar bleiben.

Dieses sich nicht integrieren, im Sinne einer Assimilierung, hat ja ein Ziel: Gott will sein Volk wieder heimführen, nach Jerusalem.

Aber das ist noch nicht alles: am Schluss weitet sich die Verheissung auf die gesamte jüdische Diaspora aus: „aus allen Völkern und aus allen Orten.“

Und über dieser ganzen Geschichte schwebt ein Begriff, ein Wort, das „grösste“ Wort:

Shalom: Friede, für sie, Friede für uns!

„Ich weiss wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nichts des Leides, dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.“ Shalom ist das Leitwort des ganzen Abschnitts. Shalom ist weit mehr als ein innerer oder jenseitiger Frieden, Shalom ist ganzheitlich zu verstehen, allumfassend und meint: Heil, Wohlergehen, Wohlstand, von allem das Beste, auch politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Im Grunde geht es um Gerechtigkeit. Jeremias warnt vor falschen „Shalom-Aussichten“, leeren Versprechungen, die ausschliesslich auf das „Jetzt“ abzielen. Jeremias klagt an, dass das eben in Jerusalem geschehen ist, und zwar gerade von den religiösen Autoritäten, den Priestern und Propheten. Ein solcher Missbrauch geschieht, wenn mit der frommen Rede vom Shalom Korruption und Ungerechtigkeiten zugedeckt werden. Wer Shalom ruft, wo kein Shalom ist, lügt.

Und plötzlich steht die Aufforderung der „Stadt Bestes“ zu suchen, in einem ganz anderen Licht da.

Der „Stadt Bestes“ suchen kann z.B. Widerstand bedeuten, Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die Stimme erheben, das Böse beim Namen nennen.

Wir wissen nicht, ob die Juden in Babel den Mut hatten, auf diese Art der Stadt Bestes zu suchen. Aber sie haben die Zeit des Exils genutzt, um sich auf ihre Wurzeln, ihre Werte zu besinnen. Viele Schriften im Alten Testament sind während dieser Zeit entstanden: wer seine Vergangenheit nicht kennt hat auch keine Zukunft. In diesem „sich besinnen“ erkennen die Juden im Exil, dass ihr Gott sie nie verlassen hat, dass er seine Verheissungen stets erfüllt hat. Nun erkennen sie, dass sie sich auf das Wort ihres Gottes verlassen dürfen. Und damit eröffnet sich ihnen eine ganze neue Hoffnung für die Zukunft. Gott wird die Seinen in ihre Heimat zurückführen. Ihr Gott, der nur Gutes für sein Volk bereit hat, ihr Gott, der wie ein Schäfer seine Herde aus allen Teilen der Welt zusammenruft, und alle kommen und ER wird mitten unter ihnen wohnen… Shalom.

Und wir, wo kommen wir Christen darin vor? Wann und wo gibt es für uns Shalom?

Mein Grossvater war ein unglaublich „unbequemer“ Mensch, sehr direkt, konnte seinen Mund nicht halten, musste überall anecken, militanter Sozialist und frommer Pietist. Für ihn war dies überhaupt kein Widerspruch. Den Mund halten um des lieben Friedens willen? Niemals!, „gegen die Strömung rudern…aufbegehren!“, hat er immer gesagt.

Kurz vor seinem Tod habe ich ihn noch zu den Ostermärschen begleitet. Unbequem und mit einem herrlichen Humor ausgestattet, hat er einen tiefen Frieden ausgestrahlt. Immer wieder habe ich mich gefragt, woher er diese Kraft schöpft, diese Freude…, ein Mensch der zwei Mal seine Heimat verlassen musste und jedes Mal in der „Fremde“ neu angefangen hat. Einmal begleitete ich ihn zum Friedhof. Wir setzten uns auf eine Bank und er rauchte seine Pfeife. Dann stellte ich ihm alle diese Fragen. Am Ende des breiten Mittelwegs erhob sich ein grosses Kreuz mit dem Gekreuzigten. Mein Grossvater deutete mit der Hand auf ihn: „Dort ist der grosse Friedensbringer, ER gibt mir die Kraft.“ Shalom.

Amen.

 

Reiner Kalmbach, Pfarrer

Evang. Kirche am Río de la Plata (EKaLP)

und

Vereinigte Lutherische Kirche (IELU)

San Carlos de Bariloche / San Martin de los Andes

Patagonien, Argentinien

Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

de_DEDeutsch