Jesaja 11,1-9

Jesaja 11,1-9

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Christfest II,
26. Dezember 2000

Predigt
über Jesaja 11,1-9, verfaßt von Berthold W. Köber, Hermannstadt
(Sibiu)


Sehnsucht, die auf Erfüllung blickt

Liebe Schwestern und Brüder!

Wir hängen gerne Bilder in unsere Wohnung. Es sind nicht
zufällige Bilder, sondern Bilder, die wir schön finden, die uns etwas
sagen. Darum gefallen uns auch die Kalender mit ihren herrlichen Fotos mit
blauestem Himmel, goldenstem Sonnenschein, leuchtenden, wunderschönen
Farben und klarster Sicht, die zur jeweiligen Jahreszeit bestens passen.
Deswegen haben wir uns auch diesmal solche Kalender geschenkt. Wir werden sie
bald an die Wand hängen und aufschlagen und die ihre Bilder immer wieder
gerne betrachten. Wir wissen freilich, daß die Wirklichkeit anders
aussieht, daß sie nur selten, vielleicht sogar nur für wenige
Stunden im Jahr so bunt, so leuchtend, so klar erlebt werden kann wie auf den
Bildern, und dennoch freuen wir uns daran. Warum eigentlich?

Ein schönes Bild malt uns auch der Prophet Jesaja mit diesen
Worten vor unsere Augen, heute, an diesem 2. Christtag, wo unsere festliche
Stimmung schon im Abklingen begriffen ist, unsere Erwartungen und unsere Freude
gedämpfter, wir aber vielleicht um einige Enttäuschungen reicher
sind. Bei diesem beginnenden Abstieg von der Höhe des Festes in die
Niederungen des Alltages sind wir vielleicht nüchterner, ist uns die
Realität präsenter als am Heiligen Abend. Aber vielleicht sind wir
gerade darum viel empfänglicher für dieses Bild von dem Zweiglein,
das aus dem gefällten, leblosen Baumstumpf hervortreibt, mit den
Wölfen und Panthern, die friedlich bei den Schafen und Lämmern
lagern, mit den Kühen und Bären, die miteinander weiden und deren
Jungen miteinander spielen, mit dem kleinen Mädchen, das in nächster
Nähe der Schlange spielt, ohne daß etwas Böses geschieht oder
auch nur befürchtet werden müßte.

Wir fühlen uns durch dieses Bild sehr angesprochen. Warum
eigentlich? Aus ihm spricht eine tiefe Sehnsucht, die Sehnsucht nach einer
harmonischen und heilen Welt, nach Freude und Frieden – für uns
Menschen, aber auch für die Tiere, für unsere ganze Schöpfung.
Eine Sehnsucht, die sich nicht mit der Realität resignativ abfindet. Oder
versucht, sich mit ihr zu arrangieren. Sondern:

Es ist eine Sehnsucht, die auf Erfüllung blickt. Denn
zwischen Verheißung und Erfüllung sind wir: (1) bedrängt von
unseren Wirklichkeitserfahrungen; (2) erfüllt von Sehnsucht nach
Gerechtigkeit und Frieden und (3) getragen von Gottes Verheißung.

Angesprochen ist mit diesem Bild zunächst das alte
Gottesvolk. In wunderbarer Weise hatte es Gottes Führung erlebt. Es hatte
bedeutende politische und wirtschaftliche Erfolge gehabt, Ordnung und Recht
aufgebaut, Wohlstand und Blüte erlebt und hatte Gott geehrt. Daran hatten
alle Volksangehörigen in gleicher Weise Teil gehabt. Garant dafür war
der König, der als der von Gott selbst Gesandte und Gesalbte geachtet und
geehrt wurde, David und die seinem Haus entstammenden Nachkommen.

Doch das war alles längst vergangen, vergessen, vorüber.
Manche hatten sich mit List und Betrug bereichert, während andere in Armut
und Elend leben mußten. Gewalttätigkeit und Unrecht gegenüber
den eigenen Volksgenossen nahmen Überhand. Es wurde nicht mehr nach dem
Recht, sondern nach dem Augenschein und nach Hörensagen gerichtet.
Reichtum und Einfluß gaben den Ausschlag, der Arme war rechtlos.
Frömmigkeit und Kultus veräußerlichten, das Wohlergehen schrieb
man seinen eigenen Bemühungen und dem politischen Geschick zu. Man fragte
weder nach Gott noch nach dem Nächsten, sondern war ausschließlich
auf sich selbst bedacht. Ganz oben fing das an, beim König selbst und
seiner Umgebung. Wo konnte dann noch überhaupt Recht gesucht werden, wenn
nicht einmal beim Garanten des Rechts?!

Dieses ganze Volk wird durch Gottes Gericht heimgesucht. Sein
Königtum und mit ihm alle Herrschaft wird durch die gewaltige Axt der
assyrischen Weltmacht wie ein Baum gefällt. Nicht nur das stolze Jerusalem
und seine Oberen, sondern das ganze Israel ist davon an seinem Lebensnerv
getroffen. Es ist nur noch ein Rest seiner selbst und gleicht nur mehr einem
leblosen Baumstumpf. Von daher die Sehnsucht dieses Volkes nach neuem Leben,
nach Recht und Gerechtigkeit, nach Versöhnung und Frieden.

Auch wir fühlen uns durch dieses Bild angesprochen. Denn wir
machen heute, nach über 2500 Jahren, ähnliche Erfahrungen. Wir haben
nach den furchtbaren Gerichtsjahren Gottes ein neues Leben und Freiheit und
Menschenwürde, eine neue Gesellschaft und eine neue Rechtsordnung
aufgebaut. Man wußte, daß das nur mit Gott möglich war, und
bekannte sich zu ihm im Grundgesetz. Es war ein Aufbau, wie er nur gemeinsam
bewerkstelligt werden konnte und der die Menschen einte. Er brachte Wohlstand
und Frieden. Heute gibt es Menschen und Institutionen, die es verstehen, mit
Raffinesse und mit brutaler Rücksichtslosigkeit ihren Reichtum auf Kosten
der Nächsten zu vermehren. In Rechtssachen können sie sich die
teuersten und schlauesten Anwälte leisten, gegen die einfache Menschen
kaum Chancen haben. Viele können sich gar keinen Anwalt nehmen, sind aber
auch nicht arm genug, um von rechtswegen einen Anwalt bekommen zu können.
„Jeder Staat aber erweist sich darin und insoweit als Rechtsstaat, wie er
das Recht seines schwächsten Gliedes ehrt“( O. Kaiser). Geschieht das
bei uns? Wird nicht oft nur nach einem Schein des Rechts geurteilt, wenn denen,
die im Recht sind, mit juristischen Spitzfindigkeiten ihr Recht letztlich doch
vorenthalten wird? Und unsere heutigen Garanten des Rechts? Das
zurückliegende Jahr hat da so manches an den Tag gebracht, was man sich
gar nicht hätte vorstellen können. Und alle Gewalttätigkeit
unter uns, wie sie uns die Medien täglich vor Augen führt. Und wie
wir sie auch an uns selbst erfahren.

Wir können die Sehnsucht des Gottesvolkes nach Recht und
Gerechtigkeit für alle, nach Versöhnung und nach Frieden verstehen.
Es ist auch unsere Sehnsucht. Wir sehnen uns nach einer Welt, in der Kinder
nicht mehr entführt werden. In der kleine Mädchen und junge Frauen
nicht mehr vergewaltigt werden. In der niemand Kampfhunde hält, die Kinder
zerfleischen. In der es keine Feindschaft, keinen Krieg und keinen Terrorismus,
keinen Nationalismus und keinen Fremdenhaß mehr gibt. In der Menschen
nicht mehr durch mobbing zugrunde gerichtet werden. In der sich nicht mehr der
eine auf Kosten des anderen durchsetzt. In der die Menschen die gute
Schöpfung Gottes nicht mehr fortgesetzt zerstören… Auch wir sehnen
uns nach einer heilen Welt.

Zu diesen Menschen voller Sehnsucht spricht der Prophet mit diesem
wunderbaren Bild.

Gott selbst greift machtvoll ein durch seinen Gesandten, den
Messias. Er schenkt einen neuen Anfang, der wieder dort seinen Ausgang nimmt,
von wo das Königtum Israels herkam: Aus dem unbedeutenden Haus Isais, dem
David entstammte, kommt der Messias, der die Gottesherrschaft errichten wird.
Seine Herkunft weist auf das Wesen seiner Herrschaft hin: im Gegensatz zu den
auf irdische Gewalt und Macht gründenden Reichen geschieht sie in der
Kraft des Geistes Gottes. Er wird auf ihm ruhen, er wird also allezeit bei ihm
sein, ihn erfüllen, leiten und bestimmen.

Es ist ein Geist der Gotteserkenntnis und der Gottesfurcht.
Gotteserkenntnis heißt im Verständnis der Bibel nicht nur ein
theoretisches Wissen über Gott haben. Gotteserkenntnis heißt, mit
Gott in liebender Gemeinschaft leben. Aus ihr erwächst dann auch Wissen
über Gott und seinen Willen. Nicht zufällig bezeichnet dort dasselbe
Wort auch die innige, liebende Gemeinschaft zwischen Mann und Frau. Und damit
eng verbunden ist die Gottesfurcht. Sie achtet Gott als höchsten Herrn und
trachtet allein nach der Erfüllung seines heiligen Willens. Denn sie
weiß sich in letzter Verantwortung vor ihm.

In der Kraft dieses Geistes und nicht im Vertrauen auf die eigene
Macht und Kraft geschieht das Wirken des Messias. Seine schöpferische
Kraft verwandelt die Menschen, die Verhältnisse, die ganze Welt. Er wird
seine Herrschaft aufrichten, die Recht und Gerechtigkeit für alle bringt,
im besonderen denen, die bisher rechtlos waren, den Armen, den Ausgeschlossenen
und Elenden. In seiner Herrschaft haben Gewalttat und Gottlosigkeit keinen
Bestand. Alle Feindschaft, nicht nur die zwischen den Menschen, sondern auch
zwischen Mensch und Tier, ja auch zwischen den Tieren untereinander wird einer
umfassenden Gemeinschaft der ganzen Schöpfung weichen. Es wird kein
Unrecht und keine Sünde mehr geben, weil alle in wahrer Gotteserkenntnis
leben.

Dieses Bild, das der Prophet hier den Menschen vor Augen malt, ist
kein Phantasiegebilde und kein Märchenbild. Es ist keine idealisierte
Gegenwart und auch keine Vertröstung auf eine utopische Zukunft. Es ist
das Bild der messianischen Erfüllung.

Es entspricht nicht der Wirklichkeit, sondern es ist vielmehr ein
Gegen-Bild gegen die Gegenwart und auf diese Weise ein Protest Gottes gegen sie
in ihrem Sein. Es zeigt, daß sich Gott nicht mit dieser Realität
abfindet, sondern mit diesem verheißungsvollen Bild dagegen machtvoll
protestiert.

Zugleich deckt dieses Bild den tiefsten und eigentlichen Ursache
für diesen Zustand auf. Es ist die fehlende Gotteserkenntnis und
Gottesfurcht. Daraus erwächst alle Gewalttätigkeit, alle
Rechthaberei, Rechtsbeugung und Rechtlosigkeit, alles Mißtrauen und alle
Feindschaft. Rechte Verantwortung für Mensch und Tier und Schöpfung
erwächst aus der Verantwortung vor Gott. Verantwortungslosigkeit,
Lieblosigkeit und Heillosigkeit sind nichts anderes als – Gottlosigkeit.

Dieses Bild ist gleichzeitig aber auch ein Bild dafür, wie
Gott die Welt haben will, wie sie sein soll. Eine Welt, in der Gott selbst
wohnt und in der er als der Herr geehrt wird. Eine Welt der Gerechtigkeit und
des Friedens in umfassendstem Sinn.

Dieses Bild hält die Sehnsucht der Menschen nach dem Kommen
Gottes wach. Sie sollen sich gerade nicht mit dem jetzigen Zustand der Welt
abfinden. Oder sich gar mit ihr arrangieren. Denn wir haben es hier mit mehr
als einem Bild zu tun. Es ist die konkrete Zusage Gottes dieser neuen
Wirklichkeit, die er selbst schaffen wird. Es gilt, dieser seiner Zusage zu
vertrauen und ihrer Erfüllung entgegenzuhoffen.

Von und mit dieser Zusage lebt das jüdische Volk bis heute.
Es erwartet sehnsüchtig das Kommen des Messias und das Aufrichten seines
Reiches.

Für uns Christen ist es mehr als ein Bild der
Verheißung. Für uns ist dieses Bild schon Wirklichkeit geworden,
wenn auch nur zeichenhaft und anbruchsweise. Denn es ist einer gekommen, der
sich gerade für die Armen, Entrechteten und Elenden eingesetzt hat. Der
nicht nach Reichtum und Ansehen urteilte. Der Heuchelei und Gottlosigkeit
aufdeckte. Der an Stelle von Entzweiung und Feindschaft Vergebung und Liebe
aufrichtete. Der nicht Unrecht tat, sondern Unrecht erduldete. Der sich auch zu
den Tieren und zur ganzen Schöpfung gesandt wußte, um allen
Versöhnung und Frieden zu bringen. Der das alles in der Kraft des Geistes
Gottes wirkte. Und der für Gotteserkenntnis und Gottesfurcht mit seinem
Leben und Sterben eintrat. Sein Kommen feiern wir zu Weihnachten. Es ist das
Jesuskind in der Krippe, in dem unser Glaube den Messias, den Christus, erkennt
und ehrt.

Das, was wir uns zu Weihnachten zutiefst wünschen, und die
Weise, wie wir Weihnachten feiern, weisen mehr oder weniger verborgen gerade
auf die zeichenhaft geschehene Erfüllung unserer Sehnsucht nach Freude und
Frieden und heiler Welt hin.

Auf dieses Zeichen gilt es zu sehen. Es ist mehr als das Bild.
Denn gleichwie sich der Morgen nur zeichenhaft, durch einen kaum wahrnehmbaren
Schimmer ankündigt, so kündigt sich in Jesus Christus unserem Glauben
das Kommen des messianischen Friedensreiches an. Dessen möchte uns unser
Weihnachtsfest aufs Neue vergewissern.

Diesem Bild begegnen wir in einem unserer ältesten und
schönsten Weihnachtslieder. Darin hat die messianische Verheißung
bereits ihre Erfüllung gefunden. Dabei ist das Reis ist zum Röslein
geworden und der Isai zum Jesse.

Es ist ein Ros‘ entsprungen / aus einer Wurzel zart.
Wie
uns die Alten sungen, / von Jesse kam die Art…
Wahr‘ Mensch und
wahrer Gott / hilft uns aus allem Leide,
Rettet von Sünd‘ und
Tod.

In diesem Sinne darf ich allen unseren Schwestern und
Brüdern, die diese Predigt zu sich sprechen lassen, gesegnete und frohe
Weihnachten wünschen.

Prof. Dr. Berthold W. Köber
Hermannstadt
(Sibiu)
Siebenbürgen/Rumänien
E-Mail: wkoeber@sibnet.ro


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