Jesaja 40,1-11

Jesaja 40,1-11

Trost ohne Illusionen | 3. Advent | 11. Dezember 2022 | Jesaja 40,1-11 | Thomas Muggli-Stokholm |

Tröstet, tröstet mein Volk!

Es scheint, wie wenn Jesaja direkt in unsere wirre und kalte Zeit spräche: Ja, wir lechzen nach Trost, nach guten und verlässlichen Worten, die Klarheit schaffen im Durcheinander von Problemen und Fragen, nach Zuspruch, der uns zu Herzen geht, stärkt und Mut macht.

Wir sehnen uns nach Entlastung von all dem, was uns jetzt bedrückt: Ungewissheit und Angst angesichts des Wahnsinns von Machthabern, welche die Welt mit Gewalt und Krieg terrorisieren, das schreiende Unrecht, die bedrohte Schöpfung.

Tröstet, tröstet mein Volk.

Redet zum Herzen Jerusalems und ruft ihr zu,

dass ihr Frondienst vollendet,

dass ihre Schuld abgetragen ist.

Ja, wie schön wäre es doch, wenn Gott wirklich käme und uns entlasten würde von allem Schlimmen, das uns bedrückt, von Pflichten und Aufgaben, die uns durch den Tag jagen, von persönlicher und gesellschaftlicher Schuld, welche wir allzu lange verdrängten, und welche nun wie eine gewaltige Woge über uns hereinbricht.

Tröstet, tröstet mein Volk!

Was Jesaja verkündet, geht uns zu Herzen. Doch ändert es etwas an der Weltlage? Vielleicht gehen Sie und ich, wenn ich Jesaja noch oft genug zitiere, getröstet in diesen Sonntag. Doch wenn wir morgen die Zeitung aufschlagen, wird uns bewusst, wie alles beim Alten bleibt.

Verkündet Jesaja also billigen Trost? Lullt er uns ein in fromme Illusionen?

Seine damaligen Hörerinnen und Hörer stellen sich gewiss ähnliche Fragen. Sie schauen zurück auf Jahrzehnte des Exils in Babylon. Hoffte man zu Beginn noch auf eine wunderbare Rückkehr ins verheissene Land, herrscht nun Resignation: Babylon bleibt mächtig und unterdrückt die Deportierten systematisch. Es gibt keine Perspektive, keinen Weg in die Zukunft.

Da sind wir in der Schweiz besser dran. Noch leben wir in einem freien und reichen Land. Es bringt auch nichts, angesichts der aktuellen Probleme zu erstarren wie die Maus vor der Schlange und resigniert den Kopf hängen zu lassen. So redet uns unser Bundespräsident Ignazio Cassis in der neusten Ausgabe des „reformiert“ Mut zu. Gefragt, was seine Hoffnung in dieser Adventszeit sei, meint Cassis:

„Mir gibt der Mensch als solcher Hoffnung … Gerade in schwierigen Zeiten zeigt er sich immer wieder anpassungsfähig, willensstark und kreativ. Aus der Not heraus kann Gutes geboren werden: Vorher Undenkbares wird möglich, scheinbar unüberwindbare Hürden können beseitigt werden.“

Undenkbares wird möglich. Der zweite Teil unseres Textes nimmt diese Hoffnung auf:

Bahnt den Weg des Ewigen in der Wüste,

in der Steppe macht die Strasse gerade für unseren Gott!

Jedes Tal wird sich heben

und senken werden sich alle Berge und Hügel.

Der Prophet schildert hier kein kolossales Tiefbauprojekt Gottes. Er nimmt Hoffnungsbilder aus den Psalmen auf, Bilder, die seinen Hörerinnen und Hörern altvertraut sind und Menschen, welche die Psalmen beten, bis heute Kraft und Zuversicht schenken: Mit dem Psalm 23 bleiben wir auch im Todesschattental gewiss, dass Gott bei uns bleibt und sein Stecken und Stab uns tröstet. Es gibt keinen Ort in dieser Welt, so finster und bedrohlich er auch sein mag, wo Gott nicht da bleibt – für uns und mit uns. Mit dem Psalm 121 erheben wir die Augen zu den hohen Bergen von Sorgen und Problemen, Missverständnissen und Konflikten. Wir fragen uns: Woher wird uns Hilfe kommen? Und wir finden mit all den Menschen, die diesen Psalm seit über 2000 Jahren gemeinsam mit uns beten, zur Zuversicht,

dass unsere Hilfe von dem Gott kommt, der Himmel und Erde erschaffen hat.

Jesaja erinnert das Volk an den Gott, der es seinerzeit aus der Sklaverei in Ägypten befreite und der ihm auch heute eine Zukunft schafft, aller menschlichen Hoffnungslosigkeit und Resignation entgegen.

Der Prophet verlegt diesen neuen Anfang nicht zufällig in die Wüste: Vierzig Jahre lang musste das alte Israel durch die Wüste ziehen, bis es ins verheissene Land einziehen konnte. Was zunächst als Strafe Gottes wegen des Murrens und des Ungehorsams des Volks galt, wird im Rückblick zur Zeit intensivster Gottesbegegnungen. Israel sieht sich in der Wüste völlig von der Fürsorge Gottes abhängig, angewiesen darauf, dass er die Menschen mit dem Wesentlichen versorgt, mit dem täglichen Brot, mit Wasser in der Dürre, mit Schutz und Orientierung in der lebensfeindlichen Umgebung.

Die Gegenwart steht im Gegensatz zu dieser Urerfahrung: Die Stadt Babel protzt mit Prachtstrassen und unermesslichem Reichtum. Den Götzen wird in üppig ausgestatteten Tempeln geopfert, um die Macht und das Glück für alle Zeiten zu sichern.

Bahnt den Weg des Ewigen in der Wüste.

Jesaja führt die Seinen weg aus diesem Prunk, der sie blendet und in Schockstarre versetzt, zurück in die Wüste, in Dürre und Leere, damit sie Gott neu begegnen können. Und Gott wird seinem Volk nicht nur neu den Weg in die Zukunft bahnen. Er wird in der Wüste seine Herrlichkeit offenbaren, damit alles Fleisch es gemeinsam sieht.

Die Herrlichkeit Gottes sehen – Darum bittet Mose seinerzeit am Berg Sinai. Gott erfüllt ihm diese Bitte nicht – weil kein Mensch dies überleben würde. Nun ist aber genau dies allem Fleisch, jedem Menschen, vergönnt – in der Wüste, wo Gott neu anfängt mit seinem Volk.

Was ist unsere Wüste?

In gewisser Weise geht es uns ähnlich wie den Menschen, die Jesaja anspricht: Unsere Blicke sind gebannt von Prachtstrassen, Prunk und Reichtum. Und wie im alten Babylon wird viel geopfert, damit die Maschinerie des Wohlstands rund läuft: Menschlichkeit, Zeit und Energie für Beziehungen, Ressourcen, Bodenschätze, Tiere und Pflanzen. Doch anders als die Israeliten in Babylon sind wir noch nicht reif für die Wüste. Noch fehlt uns die Einsicht in unser Versagen, in unsere Sünde und die Schuld, die wir anhäuften. Ja, vielleicht liegt gerade hier der Kern des Problems und der Grund, warum sich wenig bis nichts zum Guten bewegt: Niemand will schuld sein. Im Gegenteil: Wir verwenden einen Grossteil der Energie darauf, die Schuld auf andere abzuschieben.

Der nächste Abschnitt unseres Textes nimmt genau dieses Problem in den Fokus.

Horch, einer spricht: Rufe!

Und er sagt: was soll ich rufen?

Jesaja weckt nochmals hohe Erwartungen: Die Bahn für Gott ist geebnet, die Strasse durch die Wüste gerade. Und alles Fleisch wird seine Herrlichkeit sehen. Kommt es jetzt noch besser? Darf der Rufer in der Wüste verkündigen, dass das Volk triumphal ins verheissene Land zurückkehrt und dort der Messias die Weltherrschaft antritt?

Was soll ich rufen? fragt der Prophet. Und Gott antwortet: Alles Fleisch ist Gras. Das Gras vertrocknet, die Blume verwelkt, wenn der Atem des EWIGEN darüberweht.

Ernüchternd, diese Fortsetzung! Alles Fleisch, dem gerade verheissen wurde, es werde die Herrlichkeit Gottes sehen, alles Fleisch vergeht wie nichts. In der Mitte unseres Textes

finden wir nicht den Höhepunkt der Verheissung, sondern die nüchterne Feststellung, dass nichts auf Erden Bestand hat.

Wo bleibt da der herzerwärmende Trost?

Alles Fleisch ist Gras. So hart diese Wahrheit ist, genau sie verhindert, dass wir aus dem Glauben billigen Trost machen, die Illusion also, dass Gott jene Menschen, welche sich auf seine Seite stellen, mit irdischem Erfolg und Glück belohnt.

Alles Fleisch ist Gras. Dieses kurze Sätzchen kehrt die Verhältnisse um: Was die Israeliten in ihrer trostlosen Lage als ewig gegeben ansehen. Die Pracht, der Prunk, die Überlegenheit und Überheblichkeit Babels. All das erweist sich im Angesicht es ewigen Gottes als nichtige Illusion. Ja, alles, was Menschen bis heute zustande bringen, vergeht wie Gras, seien es technische oder künstlerische Meisterleistungen, seien es grossartige Erkenntnisse und Einsichten.

Wir sind und bleiben vergänglich. Diese Wahrheit, die jedem Kind offensteht, ist in zweifacher Hinsicht heilsam:

Wenn ich einsehe, dass ich nichts bin und nichts habe, was dem Atem des EWIGEN trotzt,

dann bin ich da, wo er mir begegnen will, am Nullpunkt, in der Dürre und Leere der Wüste,

wo ich empfänglich werde für sein Wort, welches für immer besteht.

Und wenn wir gemeinsam erkennen, dass wir alle Empfängerinnen und Empfänger sind, radikal angewiesen auf die Liebe und Fürsorge Gottes, dann hat niemand mehr Grund, sich über andere zu erheben.

Nun hat Jesaja den Boden gelegt für das Schlussbouquet seiner Trostbotschaft:

Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin Zion!

Der Berg erhält jetzt eine positive Bedeutung. Die Freudenbotschaft kommt von oben, vermittelt die himmlische Perspektive, wie später die Bergpredigt Jesu. Wieder aber baut Jesaja kein Wolkenschloss von Träumen. Die Freudenbotin soll verkündigen:

Sieh, Gott, der EWIGE, er kommt als ein Starker,

und sein Arm übt die Herrschaft aus für ihn.

Das knüpft ganz handfest an beim Auszug Israels aus Ägypten. An vielen Stellen wird in den Mosebüchern bezeugt, wie Gott sein Volk mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus Ägypten geführt habe.

Jesaja verheisst dem Volk im Namen Gottes die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft, den neuen Auszug aus der Fremdherrschaft und die Rückkehr ins verheissene Land.

Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin Zion!

Was verkündigt die Freudenbotin Zion uns heute, jetzt im Advent, wo wir auf die Geburt Jesu warten?

Wesentliche Motive der Weihnachtsgeschichte knüpfen an die Verheissungen Jesajas an: Der Sohn Gottes kommt nicht in einem Palast in einer prächtigen Stadt zur Welt, sondern draussen auf dem Feld, in der Wüste. Hier, wo es keine Ablenkung und keine Zerstreuung gibt, hier offenbart sich die Herrlichkeit des EWIGEN, und gemeinsam kann alles Fleisch es sehen – im Kind, das wehrlos in der Krippe liegt.

Gott geht bei dieser Offenbarung ein hohes Risiko ein: Das Neugeborene würde sterben ohne die Fürsorge Marias und Josefs. Seine Geburt bliebe unbemerkt, wenn sich die Hirten nicht auf das Wort des Engels hin auf den Weg zur Krippe machten und allen verkündeten, wer da zur Welt gekommen ist.

Wollen wir heute die Stimme der Freudenbotin Zion hören, müssen wir den Gang in die Wüste wagen, uns lösen von allem Vertrauten und Gewohnten, leer und offen werden für das Wort Gottes, das darum himmlisch ist, weil es uns berührt und bewegt.

Das ist auch für Ignazio Cassis wichtig. So schreibt er am Ende seines Textes im „reformiert“:

„In der Adventszeit, der Vorbereitungszeit auf das Fest der Geburt Christi … zieht sich der Mensch zurück, besinnt sich auf das Wesentliche, und das voller Hoffnung.“

Ja, besinnen wir uns voller Hoffnung auf das Wesentliche: In der Heiligen Nacht offenbart Gott sein Wesen. Sein ewiges Wort wird Mensch im Kind in der Krippe. In ihm redet er uns zu Herzen und bewegt uns, so menschlich zu werden wie er.

Er beruft uns, Freudenbotinnen und Freudenboten zu werden und je an unserem Ort mit Worten und Taten zu bezeugen, dass der Frondienst vollendet und die Schuld vergeben ist.

Er sagt uns zu, dass er uns nahe bleibt und behütet:

Ja, wie ein Hirt weidet er seine Herde, die Lämmer sammelt er auf seinem Arm, und er trägt sie an seiner Brust, die Muttertiere leitet er. Amen.


E-mail: thomas.muggli@kirche-fehraltorf.ch

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