Jesaja 43,10-12

Jesaja 43,10-12

Quasimodogeniti | 24.04.2022 | Jes 43,10-12; Apg 2,22-28; 1. Petr 1,17-25; Joh 21,15-19 | Christiane Gammeltoft-Hansen |

Ein Dichter nähert sich dem Abschluss seines Lebens, aber er bittet darum, dass der Abschluss zu einem anderen Zeitpunkt geschehen möge:

Nicht jetzt, wo ich geblendet bin

von Klarheit

Wo das Gras meine Haut durchbohrt

mit der Fülle des Seins.[1]

Das Gras ist nicht vertrocknet, die Blumen sind nicht verwelkt. Dafür ist da etwas, was ihm zuflüstert. Es flüstert – lebe, lebe, lebe.

Dasselbe Flüstern hat auch den Evangelisten Johannes erreicht. Er nähert sich dem letzten Punkt, da, wo nichts mehr hinzugefügt wird. Und dann doch noch ein Kapitel zu dem Evangelium, das ansonsten für eine unmittelbare Betrachtung zu seinem Abschluss gelangt ist.

Wenn jemand den Dichter gefragt hätte, dessen Haut von der Fülle des Seins durchbohrt ist, ob er nicht hier am Ende von dem Leben erzählen will, das er gelebt hatte, hätte er sich sicher geweigert. Nicht jetzt. Da war immer noch zu viel Leben, das sich aufdrängte. Da ist keine Zeit, sich zurückzublicken. Warum von alten Tagen erzählen, eine Anekdote nach der anderen erzählen, wenn das Gras grün leuchtet und mit Klarheit blendet.

Wer weiß, vielleicht ging es dem Dichter auch so wie vielen anderen. Vielleicht war auch sein Gedächtnis löcherig in einer Weise, wo nach rückschauend keine klare Linie findet. Die Vergangenheit liegt selten da wie ein Stapel von ausführlichen Berichten. Und es ist eine Herausforderjung, wenn nach einer fortschreitenden biographischen Erzählung gefragt wird. Die Vergangenheit erscheint viel mehr in kleinen einzelnen Augenblicken, die sich plötzlich entfalten können als ein Duft, ein Blick, ein Klang eines Namens oder einige Töne – kleine aktivierte Erinnerungen bei sonst vergesslichen Leuten.

Natürlich bedeutet unsere Geschichte etwas. Was sie bedeutet, ist nur nicht so leicht zu sagen, jedenfalls nicht auf einmal, Und dann ist da auch dieses Jetzt, das einen ergreifen und die ganze Aufmerksamkeit erfordern kann.

Was für einen Dichter gilt, gilt auch für einen Evangelisten. Es kann gut sein, dass sich Johannes dem Abschluss seines Evangeliums nähert, das ist dann aber ein Abschluss, der nach vorn weist. Da, wo sein Text endet, werden wir schon in Gang gesetzt. „Folgt mir“, ruft der Auferstandene. Ein Schlusswort, das mehr ein Beginn ist als ein Ende.

Der Ruf zur Nachfolge ergeht erst an Petrus. Auch er hätte sich sicher geweigert, wenn jemand ihn gebeten hätte, von seinem Leben zu erzählen, jedoch kaum, weil er sich nicht erinnert oder weil er mit der Gegenwart beschäftigt ist. Das Problem des Petrus ist eher, dass er sich allzu gut erinnert.

Ja, sie bedeutet etwas, unsere Geschichte. Sie bestimmt uns im Guten wie im Schlechten. Das gilt auch für Petrus. Wenn er tatsächlich den Versuch gemacht hätte und sich zurückgeblickt hätte, wäre das deshalb auch ein gemischtes Bild gewesen, das ihm da begegnet. Einerseits das Bild eines Menschen, der im Vollen gelebt hat. Ein Mensch, der die Schürze aufgebunden hat, zur Tat schritt, das Garn ausgeworfen hat und wieder eingeholt hat. Ein Mensch, der sich auf die 70.000 Wogen gewagt hat. Ein mutiger Mensch, der sich dem innersten Kern und dem Sinn seines Lebens gewidmet hat, und ein Fels, der fest stand mitten im Lärm und den Gleichgültigkeiten der Welt.

Andererseits aber würde er in seinem Rückblick auch einen elenden Menschen gesehen haben. Einen Menschen, der versagt hatte, als es darauf ankam, der sich in die Schatten zurückzog, statt aufzutreten. Ein kleiner Mensch, der wackelte und log, und der als das Bedeutendste in seinem Leben sagte: „Ich kenne ihn nicht“.

Die Löcher im Gedächtnis können gnädig sein für die, die in ihrem Leben Fehler gemacht haben. Für Petrus aber liegt das Versagen nicht länger zurück als dass er nicht anders kann als es in frischer Erinnerung zu haben. Oder eher: Das Versagen ist zu groß, als dass man es vergessen kann. 

Was hätte Petrus tun sollen, wenn Gott Vergeltung gefordert hätte? Wenn die Schuld von Karfreitag zurückbezahlt werden  sollte, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ja, was hätte eine Menschheit überhaupt getan, wenn das Gesetz der Vergeltung das Gesetz wäre, das uns überlassen war? Ist es vielleicht wohl deshalb, dass noch ein Kapitel zum Johannesevangelium hinzugefügt wurde? Damit wir nicht in unserer angelaufenen Vergangenheit behaftet bleiben, und damit wir nicht daran zweifeln, dass es das Gesetz der Liebe ist, das gilt und in unserem Leben Gültigkeit haben soll.

Das Evangelium des Johannes schließt wie ein Liebesbrief. „Liebst du mich?“ fragt der Auferstandene.  Ja, antwortet Petrus drei Mal und darf mit diesen drei Antworten sein dreimaliges Verleugnen in der Nacht zum Karfreitag in drei Liebeserklärungen verwandeln.

Das Leben des Petrus war ein Chaos, in dem er nun leben muss in den menschlichen Mischungen von Gut und Böse. Und seine Geschichte bedeutet etwas. Er trägt sie mit sich.  Aber das bedeutet mehr. Die Liebe tut nicht so, als sei das, was geschehen ist, gleichgültig. Aber sie lässt auch nicht die Sünder zurück, eingebunden in das Versagen ihrer Vergangenheit. Die Liebe richtet wieder auf und befreit satt dessen zu einem Leben in der Zukunft. 

Da ist noch mehr, was zu tun ist, und trotz seines Versagens wird Petrus noch immer gebraucht. Auch die frohe Botschaft soll nämlich nicht in die Vergangenheit eingesperrt werden. Sie soll in die Welt, zum Trost, zur Freude und Hoffnung, zu Fleisch und Blut werden in den Werken der Liebe. Das Heil gilt allen, und Petrus wird dazu berufen, es zu verkünden. 

Da sind unsichtbare Bande zwischen einem Dichter und einem Evangelisten. Da wo sie sich beide ihrem Ende nähern, fängt es so für sie beide erst richtig an. Fang an, heißt es, und die Worte schaffen das, was sie sagen. 

Elend und zugleich gut beginnen wir so jeden Tag. Wir fangen an mit Löchern in unserem Gedächtnis, aber doch mit der Bildung, die sich daraus ergibt, im Bilde Gottes geschaffen zu sein. Wir gehen aus von der Liebe. Das ist unser Ausgangspunkt. Er trägt uns, führt uns zueinander, verweist uns auf unsere Verantwortung. Da ist etwas, was gesagt werden muss, und etwas, was getan werden muss. Da ist eine frohe Botschaft, die wir teilen müssen, und eine Hoffnung, die auszubreiten ist als der gemeinsame Horizont. Jeder Tag etwas Aufmunterung, etwas Poesie, etwas Himmel, etwas Liebe. Jeder Tag eine Verantwortung dafür, Mitarbeiter zu sein an der Freude der anderen. Jeder Tag Vertrauen und Vergebung.

Wir begreifen niemals die große unerklärliche, göttliche Liebe. Das ist nun einmal das Wesen der Liebe, dass sie höher ist als unser Verstand.  Aber die frohe Botschaft ist, dass wir von dieser Liebe umfangen sind. Sie war im Anfang, schreibt der Evangelist Johannes und sie war am Ende. Also nein: 

Nicht jetzt, wo ich geblendet bin

von Klarheit

Wo das Gras meine Haut durchbohrt

mit der Fülle des Seins.

Es ist nicht die Zeit zum letzten Punkt. Die Liebe flüstert – lebe, lebe, lebe!“ Amen.

Pastorin Christiane Gammeltoft-Hansen

DK-2000 Frederiksberg

E-mail: cgh(at)km.dk 


[1] Poul Borum; ”Hvis det”, Gyldendal 1994.

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