Jesaja 49, 1-6

Home / Kasus / 17. So. n. Trinitatis / Jesaja 49, 1-6
Jesaja 49, 1-6

Heilsversprechen in heilloser Zeit | 17. So. n. Trinitatis | 09.10.2022 | Jes. 49, 1–6 | Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Diese Worte wurden vor sehr langer Zeit gesprochen, ungefähr in der Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus in Babylon. Dorthin war die Oberschicht Israels ein paar Jahrzehnte zuvor von den Babyloniern verschleppt worden. Die hatten zuvor Israel erobert und den Tempel und vieles andere in Jerusalem zerstört. Die Verschleppten hatten sich inzwischen an ihre Lage gewöhnt und aufgehört zu hoffen, dass sie ihre Heimat jemals wiedersehen würden. Es herrschte trostlose Stimmung. Der Prophet, der die eben vorgelesenen Sätze gesprochen hat, hatte ihnen zwar Mut zugesprochen und baldige Heimkehr vorausgesagt. Der König des benachbarten persischen Reiches schickte sich ja an, sein Herrschaftsgebiet mächtig zu vergrößern und auch Babylon zu erobern. Aber die meisten Menschen trauten ihm das einstweilen nicht zu. So haben die Exilisraeliten denn auch dem Propheten nicht geglaubt.

Das Wirken dieses Propheten war für die Geschichte der jüdischen Religion von großer Bedeutung. Leider kennen wir seinen Namen nicht. Wir nennen ihn behelfsweise den zweiten Jesaja, weil man in alter Zeit seine Weissagungen dem Buch Jesaja einfach angehängt hat. Er selbst nennt sich „Gottes Knecht“. Dieser Ausdruck bezeichnet sonst im Alten Testament das Volk Israel. Der Prophet repräsentiert also das ganze Volk und redet es zugleich aus prophetischer Vollmacht an. Was er zu sagen hat, reicht weit über den Augenblick hinaus und weitet sich auf die Zukunft der gesamten Weltgeschichte aus. Es geht auch uns etwas an.

Zunächst ist der Prophet freilich darüber enttäuscht, dass seine bisherige Wirksamkeit kein Echo gefunden hat. Seine Enttäuschung reicht tiefer als bei uns, wenn uns einmal etwas nicht gelungen ist. Denn er war Gottes Knecht vom Mutterleib an. Er verstand also sein Leben ganz und gar als Dienst für Gott. Er sollte Gottes scharfes Schwert und sein spitzer Pfeil sein, sagt er. Diese kriegerischen Bilder haben nichts mit gewaltsamer Mission zu tun. Sie bedeuten, dass Gott keinen Widerspruch duldet, wenn er durch seinen Boten zu den Menschen spricht. Diese Botschaft hat damals vielen missfallen, weil sie sie unsanft aus ihrer Trägheit und Bequemlichkeit aufweckte. Aber sie hatten ein dickes Fell und ließen seine Worte an sich abprallen. Und Gott? Der greift nicht ein. Er lässt seinen Boten hängen, so scheint es. Der klagt Gott sein Leid. Doch dann äußert er sogleich sein ungebrochenes Vertrauen zu diesem Gott. Davon können auch wir lernen: Echter Glaube hat einen langen Atem.

Doch nun spricht Gott von neuem. Jetzt wird es Ernst. Wir wissen nicht, was hinter diesem plötzlichen Ruck steht. Vielleicht hatte sich die politische und militärische Lage verändert? Aber der Nachdruck, mit dem der Prophet redet, spricht eher dagegen. Er berechnet nicht die Chancen, ob der Aufbruch glücken könnte oder nicht. Erst recht hatte er noch keine Ahnung davon, dass die kommende Besatzungsmacht der Perser in Palästina die Israeliten großzügig behandeln, ihnen sogar erlauben würde, den zerstörten Tempel wieder aufzubauen. Das lag alles noch ganz im Dunkeln. Jedenfalls ist der Prophet sich ganz sicher, dass die von Gott versprochene Rückkehr in die alte Heimat jetzt unmittelbar bevorsteht.

An dieser ihm von Gott gegebenen Einsicht gibt es nichts zu rütteln. Diese feste Haltung des Propheten nötigt uns noch heute Respekt ab. Doch mehr als 2500 Jahre später fragen wir uns wohl, wie denn dazu die lange Leidensgeschichte des jüdischen Volkes passt, die ja auch mit der Gründung des modernen Staates Israel nicht aufgehört hat. Gott lenkt die Geschichte, ja. Seine Vorsehung sorgt dafür, dass wir nicht verloren gehen. Das ist die feste Überzeugung auch des christlichen Glaubens. Aber kann man diese göttliche Lenkung so zweifelsfrei erkennen? Es hat ja auch in Israel manches Mal falsche Propheten gegeben, Propheten, die sich geirrt haben. Solche falschen Propheten kennen wir Heutigen nur zu gut. Das schlimmste Beispiel ist Hitlers Prahlerei, im Namen der göttlichen Vorsehung zu handeln.

Immerhin hat der „zweite Jesaja“ damals mit seiner Ankündigung der Rückkehr nach Palästina Recht behalten. Das kann man nur so stehen lassen. Nun ist er aber sogleich noch weit darüber hinausgegangen. Die Heimkehr nach Palästina, das ist nur der Anfang, ruft er aus. Gott spricht zu dem Propheten: „Ich will dich zum Licht machen, nicht nur für die Israeliten, sondern für alle Völker.“ Das bedeutet nicht weniger als Frieden und Freiheit auf der ganzen Erde. Auf diese und ähnliche Verheißungen berufen sich manche Christen bis heute, wenn sie für den Weltfrieden demonstrieren. Besonders nach dem Ende der beiden Weltkriege haben auch viele Nichtchristen geglaubt, nach diesem Wahnsinn könne doch niemand mehr auf die Idee kommen, noch einmal einen Krieg vom Zaun zu brechen.

Nun gehört der Einsatz für den Frieden zweifellos zu unserem Glauben. Gleichzeitig aber erinnert uns der russische Angriff auf die Ukraine daran, dass die Machtgier von Gewaltherrschern noch immer bereit ist, alle roten Linien zu ignorieren. So hat denn auch der Prophet damals nicht gemeint, dass es innerhalb der menschlichen Geschichte zum Ende aller Kriege und zu einem ungebrochenen Frieden kommen werde. Er hat mit seiner Prophezeiung vielmehr das Ende der menschlichen Geschichte im Sinn gehabt.

Und doch scheint seine Verheißung des Heils für alle Völker in gewisser Weise tatsächlich in Erfüllung gegangen zu sein, wenn auch nicht in einem politischen Sinn. Die Rückführung der Exilisraeliten in die alte Heimat und ihre Wiedervereinigung mit ihren dort verbliebenen Freunden kann man nämlich als ein weit vorausgreifendes Zeichen dafür verstehen, dass Gott seine Güte, ausgehend von Palästina, allen Menschen zugänglich machen will. Das geschah, so glauben wir als Christen, durch das Auftreten Jesu Christi. Der wurde ja in Palästina geboren. Davon konnte der alttestamentliche Prophet zwar noch nichts wissen. Dennoch ist die alte jüdische Religion faktisch zur Wiege des Christentums geworden, das sich dann von früh an eigenständig entwickelte und über die ganze Welt ausbreitete.

Daran haben wir Christen uns gewöhnt und lange gemeint, das gehe nun immer so weiter. Doch in neuerer Zeit hat die geschichtliche Entwicklung offenbar einen kräftigen Knick bekommen, zumindest in Europa und neuerdings auch in den USA. Immer mehr Menschen kehren den großen christlichen Kirchen den Rücken. Das muss zwar nicht heißen, dass sie auch vom christlichen Glauben nichts mehr halten. Aber vielfach ist auch das der Fall. Viele von uns beobachten das an den eigenen Kindern oder Enkeln und sind tief beunruhigt. Sie fragen sich: Was haben wir da falsch gemacht? Manchen kommen vielleicht sogar Zweifel an der göttlichen Verheißung, so wie wir sie heute aus dem Alten Testament gehört haben. War der Siegeszug des Christentums nur vorläufig? Kehrt sich die Geschichte jetzt etwa um? Immerhin sind wir als Christen heute in Deutschland statistisch bereits eine Minderheit, fühlen uns also ein bisschen so wie damals die Verbannten in der fremden Welt Babylons.

Was hat Gott da mit uns vor? Wir können ihm nicht in die Karten gucken. Die christliche Theologie aller Konfessionen hat zum Teil bis in die neueste Zeit hinein großartige Bilder vom Lauf der Geschichte entworfen, wie sie gemäß der göttlichen Vorsehung verlaufen müsse. Aber so imponierend viele dieser Denkgebäude sind, man muss sie wohl als menschliche Anmaßung beurteilen. So viel aber lässt sich sagen: Die moderne Entwicklung warnt uns vor jeder Art von christlicher Siegerpose. Die hat im Lauf der Geschichte unglaublich viel Unheil angerichtet. Christliche Nationen haben sich als Herrenrasse stilisiert und in Nord- und Südamerika indigene Bevölkerungen weitgehend ausgerottet. In Afrika haben christliche Missionare mit den weißen Kolonialherren zusammengearbeitet, die die einheimische Bevölkerung ausbeuteten und als Sklaven verkauften. Und hier in Europa haben Christen die Juden, die sich der christlichen Mission nicht fügen wollten, über Jahrhunderte hinweg in fürchterlichen Pogromen verfolgt und ermordet, lange bevor das Hitler-Regime solche Verbrechen auf die Spitze getrieben hat.

Aber über einen solchen Ruf zur Besinnung hinaus dürfen wir sehr wohl auf Menschen hoffen, die wie einst die Propheten in göttlicher Vollmacht auf neue, eindrückliche Weise unseren Glauben verkünden. Vielleicht gibt es sie schon irgendwo, ohne dass sie bisher großes Aufsehen erregt hätten. Unterdessen wollen wir aber nicht untätig bleiben. Wir haben zwar alle nicht das Niveau des zweiten Jesaja. Aber das entbindet uns nicht von dem Auftrag, anderen Menschen von den Erfahrungen zu erzählen, die in uns den Glauben geweckt und erhalten haben. Das Christentum hat sich ja auch bisher nicht durch Zauberei ausgebreitet, sondern durch die engagierten Gläubigen, die sich dafür eingesetzt haben. Lassen Sie uns aktive Zeugen für unseren Glauben bleiben, auch wenn Misserfolge uns frustrieren. Denn das eine ist gewiss: Gott steht uns dabei zur Seite, auch dann, wenn es gar nicht danach aussieht. Darauf fest zu vertrauen, das können wir von den alten Propheten lernen.

Amen.

Prof. em. Dr. Dietz Lange

Göttingen

E-Mail: dietzclange@online.de

Dietz Lange, geb. 1933, Professor für Systematische Theologie in Göttingen 1977-1998, seit 1988 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien ebendort

de_DEDeutsch