Jesaja 49,13–16

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Jesaja 49,13–16

„Selbst wenn eine Mutter ihr Kleinkind vergessen würde: Gott will dich nicht vergessen.“ | 1. So. nach Christfest | 2. 1. 2022 | Predigt zu Jesaja 49,13–16.  | verfasst von Hansjörg Biener |

Predigttext

„13 Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde!

Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen!

Denn der HERR hat sein Volk getröstet

und erbarmt sich seiner Elenden.

14 Zion aber sprach:

Der HERR hat mich verlassen,

der Herr hat meiner vergessen.

15 Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen,

dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?

Und ob sie seiner vergäße,

so will ich doch deiner nicht vergessen.

16 Siehe,

in die Hände habe ich dich gezeichnet;

deine Mauern sind immerdar vor mir.“ (Jesaja 49,13-16)

Predigt

Bittere Nachrichten aus unseren Zeiten

Lassen Sie uns zunächst auf Alltagserfahrungen achten, die sich mit dem Predigttext verbinden lassen. „Könnte eine Mutter ihr Kleinkind vergessen?“ Das ist im Predigttext eine rhetorische Frage. Selbst wenn eine Mutter ihr Kleinkind vergessen würde: Gott will dich nicht vergessen. So stellen wir fest: Jesaja oder genauer Deutero-Jesaja, das wird noch erklärt, setzt Mutterliebe als Regelfall voraus.

Bleiben wir einen Moment bei der Mutterliebe. Seit einigen Jahren findet man das Thema „bereute Mutterschaft“ in den Medien. 2015 veröffentlichte die Soziologin Orna Donath dazu eine Studie. (Deutsch: Donath, Orna: #regretting motherhood. Wenn Mütter bereuen, München: Knaus, [2016]) Die befragten Frauen gaben an, in ihrer Rolle als Mutter gefangen zu sein. Sie kamen zu einer scheinbar widersprüchlichen Aussage: Sie liebten ihre Kinder, aber sie hassten es, Mutter zu sein. Manche hätten die Mutterschaft schon in der Schwangerschaft bereut. Das schließt einen Zusammenhang zwischen der Reue der Mutter und der Persönlichkeit des Kindes aus. Eine deutsche Umfrage kam zu einem ähnlichen Schluss wie die Gesellschaftswissenschaftlerin aus Israel. (https://yougov.de/news/2016/07/28/ein-funftel-der-deutschen-eltern-bereut-die-eltern. Breit aufgegriffen, wie das Suchstichwort „bereute Elternschaft“ zeigt. ) Hier wurden auch Väter befragt. Jeweils 20 Prozent der Väter und Mütter bereuten ihre Elternschaft. Trotzdem gaben 95 Prozent an, dass sie ihre Kinder liebten. Das muss man erst einmal sacken lassen, obwohl solche Aussagen im Kern nicht neu sind. (Vgl. eine Generation früher Beck-Gernsheim, Elisabeth: Alles aus Liebe zum Kind, in: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt: Suhrkamp, 1990, S. 135-183. Hier werden auch Themen wie Kinderlosigkeit oder Abtreibung „aus Liebe zum Kind“ beobachtet.)

Dass Erzeuger ihre Kinder verlassen und deren Mutter mit dazu, – das kommt oft genug vor, ist aber offenbar keine Schlagzeile wert, weil Männer halt so sind. Anders ist es, wenn Mütter ihre Kinder verlassen oder kein Erbarmen mit ihnen kennen. Da ist die öffentliche Empörung groß. Man findet die Beispiele nicht nur in der Sensationspresse, sondern auch bei geachteten Nachrichtenanbietern. (Mir sind solche Fälle bei der britischen BBC begegnet, der ich für meinen internationalen Informationsbedarf folge. Der im Folgenden geschilderte Fall war der Anlass, mich um den Auftrag für diesen Predigtvorschlag zu bewerben.)

Im Sommer 2021 wurde in Südengland eine junge Erwachsene zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Sie war am 5. Dezember 2020 aufgebrochen, um ihren 18. Geburtstag zu feiern. Am 11. Dezember 2020 kam sie nach Hause zurück. Dort fand sie ihr 20 Monate altes Kind – tot. Die Staatsanwältin rechnete vor Gericht vor, wie lange die junge Mutter nicht zuhause war: „Fünf Tage, 21 Stunden und 58 Minuten“. Dies habe die Auswertung der Videoüberwachung des Hauses gezeigt. Die Angeklagte hätte die Pflicht gehabt, für ihr Kind zu sorgen. Aber: [Zitat] sie „stellte selbstsüchtig ihr eigenes Bedürfnis nach Party über alles andere“. Die Richterin sah es ebenso: [Zitat] „Es ist schier unerträglich, an das Leiden Ihrer Tochter in ihren letzten Lebenstagen zu denken, Leiden, das sie ertragen musste, damit Sie als unbeschwerter Teenager Ihren Geburtstag und die Geburtstage Ihrer Freunde feiern konnten.“ ([…] Mum left girl to die to party for 6 days, 6. August 2021, https://www.bbc.com/news/uk-england-sussex-58102792

Eine weitere Schock-Geschichte: The short life and death of a beloved toddler, 14. Dezember 2021, https://www.bbc.com/news/uk-england-leeds-59599884 […])

Ich war schockiert, als ich den Artikel das erste Mal las. Die Berichterstattung war ausführlich. Dennoch hatte ich viele Fragen. Wo war eigentlich die Familie, die später ein Statement der Bestürzung veröffentlichte. Wo waren Nachbarn? Die hätten doch etwas merken müssen. Wo war die Sozialfürsorge, die immerhin die Überprüfung ihrer Routinen ankündigte. Und für mich als Pfarrer stellte sich die Frage: Wo war Gott? Immerhin macht die BBC eines richtig. Sie weist routinemäßig darauf hin, dass man professionelle Hilfe suchen soll, wenn ein Artikel eigene Lebenserfahrung berührt. Glücklicherweise haben wir auch in Deutschland ein Netz von Beratungsstellen. Wer selbst Vernachlässigung erlebt hat, findet dort jemanden zum Reden. Wer sich mit der Elternschaft überfordert fühlt, möge dort Hilfe suchen.

Ich habe mit einer schockierenden Geschichte aus den Medien begonnen, aber es geht mir nicht darum, mit dem Finger zu zeigen. Es geht darum, in welche Welt das Evangelium sprechen soll. Und es geht mir auch darum, dass christliche Verkündigung nicht als Harmoniesoße erlebt wird. Niemand sollte in einem Gottesdienst sitzen und innerlich schreien, „das ist doch alles ganz anders!“. Wir mussten ja erkennen, dass Kinderheime nicht immer eine Zuflucht waren. Umso bitterer, dass das auch von kirchlichen Häusern gilt.

Gute Nachrichten für bittere Zeiten

„Selbst wenn eine Mutter ihr Kleinkind vergessen würde: Gott will dich nicht vergessen.“ Schon als unser Predigttext das erste Mal sprechen sollte, musste sich die Botschaft gegen deprimierende Umstände behaupten. Wir befinden uns nach Auskunft der Wissenschaft in den 540er Jahren vor Christus. Wir sind nicht in Jerusalem, sondern in Babylonien. Man kennt das Gebiet heute als Irak. Wir sprechen von Jahrzehnten nach dem Untergang Jerusalems, nach dem Ende der Staatlichkeit Judas, nach Deportationen in ein anderes Land und Jahrzehnten der Konfrontation mit einer überlegenen Kultur in Babylonien.

Wir können schwerlich ermessen, welch tiefe Erschütterung die Eroberung und Zerstörung Jerusalems gewesen sein muss. Jerusalem, das war für die Menschen in Jerusalem, um Jerusalem und weit darum herum der Ort des einzigen rechtmäßigen Tempels des Gottesvolks und regelmäßiger Pilgerort. Es war auch der Sitz des Königs, von dem es in einer Einsetzungszeremonie heißt: „Du bist mein Sohn, heute[, bei der Throneinsetzung,] habe ich[, Gott,] dich gezeugt. Bitte mich, so will ich dir Völker zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum.“ (Psalm 2,7b-8) Nach 587 sind Stadt und Tempel zerstört. Das Zentrum der Religion und der politischen Führung – ausradiert. [Das war in gewisser Hinsicht noch schlimmer als der Einschlag der Flugzeuge im New Yorker World Trade Center und im Pentagon von Washington, auch wenn die Attentäter des 11. September symbolisch gut gewählt ein Wirtschafts- und ein Militärzentrum der USA angegriffen haben.]

Jerusalem ist eine Trümmerstätte, die Bevölkerung in die Babylonische Gefangenschaft geführt. [Das ist mehr als der Untergang Berlins am Ende des Zweiten Weltkriegs. Ja, die Hauptstadt Nazi-Deutschlands war eine Trümmerwüste. Ja, symbolträchtig war die rote Fahne der Sowjetunion auf dem Reichstag gehisst worden. Aber wo wäre eine Nazi-Kultstätte gewesen, zu der man pilgerte? Außerdem: In Berlin wurde weitergelebt. Nur wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Ost-Teil der Stadt wieder als offizielle Hauptstadt ausgerufen. Gehen wir zurück nach Babylonien.]

Jahrzehnte der Babylonischen Gefangenschaft sind inzwischen vergangen. Die älteren Generationen werden längst in fremder Erde bestattet. Die jüngeren erinnern sich kaum noch an Jerusalem und die Umgebung. Und [für die Kinder ist es, wie wenn Großeltern Nachkriegsenkeln von Masuren oder dem Sudetenland erzählen. Die Heimat und Kultur der Vorfahren dürften nicht mehr selbstverständlich Heimat gewesen sein.] Lag es für die in Babylonien geborenen Kinder und Kindeskinder nicht näher, sich in der offensichtlich überlegenen Welt Babyloniens einzugliedern?

Weil es den Tempel nicht mehr gab, konnten nur noch Klagefeiern gehalten werden. In diese Stimmung einer offenkundigen Abwesenheit des Gottes Israels spricht unser Predigttext. „Zion sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ (Jesaja 49,14) Doch dagegen setzt der Prophet sein Gotteswort: „Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! […] Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir. (Jesaja 49,13.15-16)

Es spricht ein zweiter Jesaja, der weit nach der Gottesklage lebt, die heute das Jesaja-Buch eröffnet: „Höret, ihr Himmel, und Erde, nimm zu Ohren, denn der HERR redet! Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen.“ Das klingt so ähnlich und ist doch verschieden. Zion klagt über Gottverlassenheit, doch weit zuvor hat Gott darüber geklagt, dass Zion ihn verlassen hat.

Auch solche Zerwürfnisse fallen in den Bereich unserer Lebenserfahrung. Es gibt Söhne und Töchter, die jeden Kontakt zu Vater oder Mutter abgebrochen haben. Aus welchen Gründen auch immer. Übrigens hat uns die Klage Gottes über seine Verlassenheit Ochs und Esel in der Weihnachtskrippe beschert. „Ich habe Kinder großgezogen und hochgebracht, und sie sind von mir abgefallen. Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn; aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk versteht’s nicht.“ (Jesaja 1,2-3)

Das von verschiedenen Propheten angekündigte Strafgericht für den Abfall von Gott ist zur Zeit des zweiten Jesaja längst eingetroffen. Aber Deutero-Jesaja sieht Licht am Horizont, den Aufstieg des Perserkönigs Kyros: „So spricht der HERR zu seinem Gesalbten, zu Kyrus, den ich bei seiner rechten Hand ergriff, dass ich Völker vor ihm unterwerfe und Königen das Schwert abgürte […]. Um Jakobs, meines Knechts, und um Israels, meines Auserwählten, willen rief ich dich bei deinem Namen und gab dir Ehrennamen, obgleich du mich nicht kanntest.“ (Jesaja 45,1.4*)

Deutero-Jesaja sieht in unserem Predigttext den Wiederaufbauplan für Jerusalem wortwörtlich in der Hand Gottes. Dauerhaft eingezeichnet in die Handinnenflächen. Wir haben heutzutage Ähnliches, wenn Mütter die Namen ihrer Kinder als Tattoos auf dem Unterarm tragen. Und wir alle wissen: Tattoos lassen sich nicht spurlos beseitigen. Deutero-Jesaja hat Recht behalten: Kyros hat 539 Babylon eingenommen. Nachfahren der nach Babylonien Weggeführten konnten sogar nach Jerusalem aussiedeln. Dort haben sie sich an den Wiederaufbau gemacht und um 517 mit dem Bau eines neuen Tempels begonnen.

Gute Nachricht für heute

„Selbst wenn eine Mutter ihr Kleinkind vergessen würde: Gott will dich nicht vergessen.“ Als unser Predigttext das erste Mal sprechen sollte, musste sich die Botschaft gegen die Umstände der Babylonischen Gefangenschaft behaupten. Aber Deutero-Jesaja hat mit seiner Verkündigung wider den Augenschein recht behalten. Heute soll die Zusage ein weiteres Mal gehört werden, aber an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit.

Der andere Ort ist der christliche Gottesdienst. Wir, die wir in der Regel nicht jüdischer Abstammung sind, suchen Anteil an den biblischen Verheißungen. Jesus Christus ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments Erlöser „für Juden und Griechen“ und alle anderen Völker. (Galater 3,28; Matthäus 28,18-20) Das ist eine Internationalisierung, die das Taufzeugnis wichtiger macht als Pässe, geschweige denn NS-Ahnenpässe. Nachdem dem alttestamentlichen Text ansatzweise Genüge getan ist, muss er jetzt in die Predigt von Jesus Christus eingebettet werden. Ich greife dazu auf ein „Gottesknechtslied“ zurück, das wir ebenfalls im Trostbuch von der Erlösung Israels finden, wie die Lutherbibel die Kapitel Jesaja 40-55 überschreibt, die von der Wissenschaft Deutero-Jesaja genannt werden. Das zweite Neue ist unsere Zeit und unser Leben, in dem sich die Zusagen Gottes neu zu behaupten haben.

Zunächst zum Gottesknechtslied: „Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf […]. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des HERRN Plan wird durch ihn gelingen.“ (Jesaja 53,2-7.10)

Das klingt doch sehr nach der Passionsgeschichte. Und tatsächlich war Jesaja 53 eine Deutungshilfe für die ersten Christen. Sie standen vor der Not, das Unerklärliche zu verstehen. Der Verbrechertod Jesu am Kreuz schien seine Widerlegung gewesen zu sein. Auch durch Gott, denn verflucht ist, wer am Holze hängt. Doch Unerklärliches ist geschehen: Die Auferstehung als Bestätigung durch Gott. Also musste man dem Kreuz einen Sinn abringen. Der Naheliegendste: die Rede vom Opfer. Dass man Tiere opferte, um Gottheiten zu besänftigen oder ihr Wohlwollen zu erhalten, war in der Antike gängige Praxis. Der römische Schriftsteller Tacitus (ca. 58-120), der in der Zeit lebte, als das Neue Testament entstand, berichtet in der Germania davon, dass die Germanen sogar Menschenopfer brachten.

Für die Christen wurde Jesus zum letzten und einzigen Opfer. Paulus zitiert ältere Glaubensformeln, wenn er schreibt: „Wir glauben an den, der unsern Herrn Jesus auferweckt hat von den Toten, welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unsrer Rechtfertigung willen auferweckt.“ (Römer 4,24b-25) Das ist noch ganz im antiken Schema von Schuld und Strafe gedacht und doch geöffnet, wenn von unserer Rechtfertigung und Heiligung als Projekt des neu ermöglichten Lebens gesprochen wird.

Und damit sind wir bei Gottes Projekt mit uns. Gerne würden wir die Botschaft hören: „Selbst wenn eine Mutter ihr Kleinkind vergessen würde: Gott will dich nicht vergessen.“ Doch da leben wir möglicherweise in einer mehrfachen Babylonischen Gefangenschaft, die uns das nicht glauben lässt. Zwei Mauersteine unseres mentalen Gefängnisses möchte ich nennen, und dabei von der schockierenden Medienmeldung des Anfangs ausgehen. Es sind die Fragen „Wie konnte Gott das zulassen?“ und „Warum ich…“, die uns auf der Misstrauensseite einmauern.

Viele von uns tragen ein Päckchen Lebenslast mit sich. Manche seit frühester Kindheit. Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Deportation in der ältesten Generation unserer Gemeinden. Verlust von Eltern, mangelnde Zuwendung in der Kindheit, Missbrauch in allen möglichen Generationen. Wir können die Liste der Lebenslasten fortsetzen. Manche wurden uns ohne unser Zutun aufgebürdet; bei anderen müsste man ehrlicherweise auch von eigenem Zutun sprechen. Manchmal ist professionelle Hilfe angeraten, nicht nur wegen der Vergangenheitsbewältigung. Es geht auch darum, dass wir nicht allein im Vergangenen leben und Verhaltensmuster wiederholen, die sich damals eingebrannt haben, uns für die Zukunft aber nicht helfen. Glücklicherweise haben wir auch in Deutschland ein Netz von Beratungsstellen. Da hat die BBC mit ihrem Hinweis unter Schockthemen recht. Wer selber Vernachlässigung erlebt hat, findet dort jemanden zum Reden. Wer sich selber mit der Elternschaft überfordert fühlt, möge dort Hilfe suchen.

Nehmen wir das Beispiel von der Wegführung ins Exil auf: Ich bin Menschen begegnet, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren haben, aber es in späteren Jahren verstanden, Heimat zu geben. Ich bin Menschen begegnet, die aus einem schweren Schicksal Vereine und Einrichtungen der Selbsthilfe gegründet haben. [In meiner Zeit als Gemeindepfarrer in Amberg hätte ich als Lokalbezug die Lebenshilfe ansprechen können oder Armin Nentwigs Verein Schädel-Hirn-Patienten in Not (https://www.schaedelhirnpatienten.de).] Das für mich beeindruckendste öffentliche Zeugnis ist die Björn-Steiger-Stiftung (https://www.steiger-stiftung.de), denn Björn Steiger wäre so alt wie ich. 1969 wurde er angefahren. Obwohl die damalige Hilfskette sofort anlief, kam die Rettung zu spät. Das Kind starb nicht an Verletzungen, sondern am Schock. Die Eltern gründeten eine Stiftung, die die Notfallhilfe beschleunigen sollte. Sie stellte zum Beispiel die Notrufsäulen auf, die wieder abgebaut werden, weil Smartphones inzwischen das Festnetz ablösen.

Es geht darum, Traumatisierung zu transformieren. Der Glaube kann dafür eine Kraftquelle sein. Und dafür muss man dann wohl auch gelegentlich die biblische Verheißung bei Gott einklagen: „Selbst wenn eine Mutter ihr Kleinkind vergessen würde: Gott will dich nicht vergessen.“ Amen.

Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und derzeit als Religionslehrer an Nürnberger Gymnasien tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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