Jesaja 51,9-16

Jesaja 51,9-16

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


4. Sonntag
nach Epiphanias, 28. Januar 2001

Predigt über Jesaja 51,9-16, verfaßt von Friedrich
Seven


9 Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des Herrn! Wach auf,
wie vor alters zu Anbeginn der Welt! Warst du es nicht, der Rahab zerhauen und
den Drachen durchbohrt hat?

10 Warst du es nicht, der das Meer austrocknete, die Wasser der
großen Tiefe, der den Grund des Meeres zum Wege machte, daß die
Erlösten hindurchgingen?

11 So werden die Erlösten des Herrn heimkehren und nach Zion
kommen mit Jauchzen, und ewige Freude wird auf ihrem Haupte sein. Wonne und
Freude werden sie ergreifen, aber Trauern und Seufzen wird von ihnen fliehen.

12 Ich, ich bin euer Tröster! Wer bist du denn, daß du
dich vor Menschen gefürchtet hast, die doch sterben, und vor
Menschenkindern, die wie Gras vergehen, 13 und hast des Herrn vergessen, der
dich gemacht hat, der den Himmel ausgebreitet und die Erde gegründet hat,
und hast dich ständig gefürchtet den ganzen Tag vor dem Grimm des
Bedrängers, als er sich vornahm, dich zu verderben? Wo ist nun der Grimm
des Bedrängers?

14 Der Gefangene wird eilends losgegeben, daß er nicht
sterbe und begraben werde und daß er keinen Mangel an Brot habe.

15 Denn ich bin der Herr, dein Gott, der das Meer erregt,
daß seine Wellen wüten – sein Name heißt Herr Zebaoth -;

16 ich habe mein Wort in deinen Mund gelegt und habe dich unter
dem Schatten meiner Hände geborgen, auf daß ich den Himmel von neuem
ausbreite und die Erde gründe und zu Zion spreche: Du bist mein Volk.

„Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des Herrn!“- so
möchte auch ich rufen, doch mit wem sollte ich rufen, welche Menschen,
welche Gruppe kann diesem Weckruf des Volkes Gottes heute noch Stimme geben.
Wer will sich heute auf diese Erzählungen einlassen? Wohin kann heute die
Geschichte von Gottes Rettungstat, diese Wundererzählung vom Durchzug
durch das Meer, führen? Wer beschwört in unserer Zeit Gottes starken
Arm, seine hilfreiche Hand über dem Wasser?

„Wach auf“ ! Wer hört auf diese Geschichten, wer gehört
zu dem Volk der Hörenden und Staunenden? Der Statistik nach vielleicht Sie
und ich. Aber wie lange ist Papier noch geduldig? Sicher, Gottes Geschichten
können immer wieder die unseren werden, vielleicht wenn sich zwischen
Menschen plötzlich ein Meer auftut und sie trockenen Fußes an allen
Mißverständnissen und Sprachbarrieren vorbei hindurchgehen
können bis an ein fremdes Ufer. Oder wenn wir plötzlich Gottes Sohn
begegnen, der mit uns geht, das Brot uns bricht und sich gegen Abend bitten
läßt, bei uns zu bleiben über den Tag hinaus.
Gehören
wir damit schon zum Volk Gottes? Oder wohin gehören wir dann? Die Stimmen
der Modernen sagen: jeder gehört sich selbst. Als ob sie ahnten, wie arm
wir mit uns sind. Könnte es angesichts solcher Verlorenheit helfen, wenn
wir einander zuriefen : „Wacht auf!“
Die Erlösten mögen nach Zion
kommen, wir aber werden auf unserem Acker bleiben. Und von redlicher Nahrung
kein Spur. Wir, Gefangene, werden hungern und zugrunde gehen auf Boden, der nie
unser eigen wird. Auch die Heimat bleibt fremde Welt. Wach genug sind wir, eben
so zwischen hell-und halbwach, allzeit bereit für das Hin-und Her zwischen
dem, was heute noch Pflicht ist und vielleicht morgen schon unerwünschte
Kür.

Wie wenn wir plötzlich nicht mehr auf der Tagesordnung
stehen, nicht mehr vorgesehen sind, weil wir uns nicht genug vorgesehen haben
und schon vor der Zeit herausgefallen sind aus der Eile ohne Weile. Mit wem
sollen wir loben den Namen des Herrn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem
Niedergang? Wo bleibt der Klang aus weitem Raum und wo die sanfte Nähe,
wie sie aus Morgen- und Abendliedern mit der güldenen Sonne und dem Mond
über unserem Schweigen und Singen aufging? Wo ist die Zeit, in der die
Stille wachsen konnte, ohne uns damit zu erschrecken, der ruhige Augenblick von
Angesicht zu Angesicht? Was kann uns das alles helfen, wenn alles gleich fern
und nah, jedes mit jedem gleichzeitig sein soll und gleichgültig ist.

In solcher Gleichgültigkeit scheint alles unwichtig und zugleich immer
wichtiger. Da hilft auch keine Zeit des Wachens oder Schlafens . Keine Stunde
darf versäumt werden, doch nichts scheint dabei gerade an der Zeit zu
sein. Ein Leben im ewigen Augenblick. „Wach auf!?“- Mit wem sollen wir rufen,
wenn wir doch zur großen Herde der Verlorenen zählen.

„Ich, ich bin euer Tröster! Wer bist Du denn…? „In die
Trostlosigkeit und Verlassenheit hinein fragt eine Stimme, die uns bekannt
vorkommt, die sich in den Weg stellt und sich nicht überhören
lässt.
„Wer bist du denn, daß du dich vor Menschen
gefürchtet hast, die doch sterben, und vor Menschenkindern, die wie Gras
vergehen, und hast des Herrn vergessen, der dich gemacht hat, der den Himmel
ausgebreitet und die Erde gegründet hat“

Ja, wir haben Angst, Angst vor Menschen, Angst vor
unseresgleichen. Menschen sind es, die wir fürchten, keine himmlischen
Gewalten! Trauen wollen wir keinem von uns. Vielen haben wir uns anvertraut und
waren nur zu wenigen ehrlich , am wenigsten zu uns selbst. Die
größte Furcht ist die vor Worten, denen wir nicht gewachsen sind.
Darum haben wir auch Gott und sein Wort vergessen- lieber schnell vergessen,
als langsam erinnert.
Wir fürchten Gott und die Menschen, weil wir uns
nur zu gut zu kennen meinen. Verdrängen möchten wir, was uns an Gott
erinnern könnte, vor allem die Hilfsbedürftigkeit, unsere und seine,
Gottes Ohnmacht am Kreuz von Golgatha. Doch je mehr uns dies gelingt, von uns
selbst und von Gott ganz abzusehen, desto größer wird die Angst,
desto mehr fürchten wir, wie das Gras zu vergehen.

„Wer seid Ihr?“ Wir sind die, die bald im Grase verschlafen
hätten. Nicht Gott hat geschlafen, sondern wir auf dieser Erde, auf der er
uns zum Leben einlädt: „Ich habe mein Wort in deinen Mund gelegt und habe
dich unter dem Schatten meiner Hände geborgen, auf daß ich den
Himmel von neuem ausbreite und die Erde gründe und zu Zion spreche: Du
bist mein Volk.“

D u tröstest uns, lieber Gott, daß wir reden
können mit dem Wort, welches du in unseren Mund gelegt hast und daß
wir mit Deinem Wort verstanden werden. Wenn Du nur Deine Zusage wahrmachst und
auch anderen Worte geben willst, Worte für Dein Volk, für Tausende
Münder, aber von einem Geist. Da können die Stimmen wieder viele
werden und ein großer Sang und Klang. Leben möchten wir mit Dir, als
Dein Volk und Deine Kinder. Ohne Dich würden wieder verschlafen. Darum
weck uns alle Morgen und breite Dein Zelt über uns aus.

Glauben möchten wir aus vollem Herzen, daß Du Deinen
Sohn auferweckt hast an einem neuen Morgen. Jeden Tag möchten wir mit Dir
beginnen, der Du jeden Morgen neu machen kannst.

Dr. Friedrich Seven
Im Winkel 6
37412 Scharzfeld
E-mail: friedrichseven@compuserve.de


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