Jesaja 55,6–13

Jesaja 55,6–13

Wort unter Bäumen | Sexagesimae | 12.02.2023 | Jes 55,6–13 | Christoph Kock |

 

I. Gottesferne

Eine Momentaufnahme vor rund 2.500 Jahren. Die Menschen in Israel verbindet eine Katastrophe. Ein verlorener Krieg, die Hauptstadt zerstört, Gottes Tempel in Trümmern. 50 Jahre ist das her. Nach der Niederlage gingen die Wege auseinander, gezwungenermaßen. Etliche wurden deportiert, Fachkräfte und ihre Familien, nach Babylon, weit weg. In der Hauptstadt der Sieger mussten sie arbeiten. Andere konnten bleiben, lebten von der Hand in den Mund in den Ruinen, kaum wahrgenommen, in einer Schattenwelt.

Zwei Generationen später: Die persische Armee besiegt die Babylonier. Eine neue Macht mit einer neuen Strategie: Die Kinder und Enkel der Verschleppten dürfen zurückkehren. Sollen doch die Israeliten das Land ihrer Väter und Mütter wieder aufbauen. Egal, wo sie geboren sind: Die Menschen im Land eint der Versuch zu überleben. Dafür zu sorgen, dass man Essen auf dem Teller, ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Schlafen hat. Das zehrt die Kräfte auf. Für große Pläne haben sie keinen Kopf. Ungeheuer erschöpft sind sie alle, ihnen fehlt der lange Atem. Mehr als fraglich geworden ist ihnen Israels Gott, der aus der Sklaverei herausruft und befreit. Ihr Gott? Gott erscheint so weit weg. Als sich in Babylon die Wende abzeichnet, träumt ein Prophet von einer Prachtstraße, auf der Israels Gott mit den Seinen nach Jerusalem, zum Zionsberg, unterwegs ist. Rückkehr als Triumphzug. Schön wär’s. Die Prachtstraße hat sich als Durststrecke erwiesen. [1] Kein roter Teppich für die, die in die Fremde heimgekehrt sind. Stattdessen am Ziel verbrannte Erde, soweit das Auge reicht. Vertrockneter Glaube. Kriegsbedingter Kahlschlag.

 

II. Gottes Wort

Der Prophet ergreift noch einmal das Wort. In Gottes Namen. Im Jesajabuch heißt es in Kapitel 55 (6–13):

Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist.

Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.

Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR,

sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.

Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen,

so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.

Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.

Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.

Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem HERRN soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.

 

III. Weit weg und wirksam

Himmel und Erde sind weit voneinander entfernt. Das lässt sich weder in Kilometern noch in Lichtjahren messen. Doch Gott ist zu finden, aber bleibt auf Abstand, verlangt von Menschen, dass sie lernen zu unterscheiden. Gottes Gedanken und der Menschen Gedanken. Gottes Wege und der Menschen Wege. Dazwischen liegen Welten. Das sind zwei Paar Schuhe. Gott spielt in einer anderen Liga. Höher, weit entfernt, anders. Und doch tritt Gott zu seinem Volk in Beziehung. Durch das, was Gott zu sagen hat.

Der Prophet vergleicht Gottes Wort mit Wasser. Beides wirkt in einem Kreislauf. Ermöglicht Leben. Stillt Durst und Hunger. Das Wasser sorgt auf seinem Weg zwischen Himmel und Erde dafür, dass Menschen neues Saatgut erhalten und Brot backen können. Und Gottes Wort? Es wirkt ebenfalls, aber anders als erwartet. Auf dem Weg von Gott zu den Menschen und zurück zu Gott macht es lebendig, jenseits der Spirale von Hass und Gewalt. Statt von Vergeltung ist von einem Frieden die Rede, der die Natur einbezieht und in der Natur zu erkennen ist. Jubelnde Landschaften und blühende Bäume werden das ewige Zeichen dieses Friedens sein. Ein Auszug, ein Neubeginn unter anderen Vorzeichen. Sehnsucht wächst.

Bäume, die in die Hände klatschen. Was für ein eigenwilliges Bild hat der Prophet da im Kopf. Bäume haben keine Hände. Gottes Frieden, ein Ding der Unmöglichkeit? Und doch vergleichbar mit dem, was Menschen vor Augen haben. Bäume, die grünen und blühen. Was für ein Kontrast zu den verkohlten Stümpfen, die der Krieg hinterlassen hat. Ein grünender Baum, das blühende Leben. Der Anblick gibt zu denken: Wer Gott vertraut, so heißt es bei einem anderen Propheten, „gleicht einem Baum, der am Wasser gepflanzt ist. Seine Wurzeln streckt er hin zum Bach. Vor der Hitze

fürchtet er sich nicht, seine Blätter bleiben grün. Selbst ein trockenes Jahr macht ihm nichts aus, und er hört nicht auf, Frucht zu bringen.“ (Jer 17,8)

 

IV. Unter Bäumen

Ich stehe vor einem Wegweiser. Das weiße R steht für den Rennsteig. Das ist beruhigend, ich bin also richtig gelaufen. Da ist der Ort, an dem ich heute Morgen gestartet bin. Fast dreizehn Kilometer bin ich auf dem Wanderweg schon gelaufen. Da ist das Ziel, das ich heute erreichen möchte: Noch 8,5 Kilometer. Das ist zu schaffen, auch wenn ich meine Füße schon spüre. Und dann fällt mein Blick auf ein Schild ohne Pfeil. Das Grün etwas dunkler als die Schilder mit den Ortsnamen. Ebenfalls weiß umrandet. Darauf steht: „Klimawandel: alle Richtungen“. Hinter dem Wegweiser erstreckt sich eine kahle Fläche. Da standen Nadelbäume. Vermutlich gestorben und abgeräumt. Dahinter ein Gebiet mit Fichten, alle gleichhoch und gleichalt. Ein Drittel ist braun. Baumsklette. Der heiße und trockene Sommer hat seine Spuren hinterlassen. Ebenso die Fehler der Vergangenheit. Fichtenplantagen statt Wald. Gepflanzt für schnelles Holz. Die Bäume verdursten, der Borkenkäfer gibt ihnen den Rest. Sie passen nicht in den Thüringer Wald, der jetzt über Strecken wie eine Mondlandschaft wirkt. Es ist nicht die erste geräumte Fläche, die mir ins Auge fällt und wird nicht die letzte sein. „Klimawandel alle Richtungen“ – das ist beunruhigend. Ich gehe weiter. Nach drei Kilometern beginnt ein Stück Laubwald. Der Weg liegt im Schatten, führt unter hohen Buchen entlang. Am Abend lese ich vom geheimen Leben der Bäume.[2] Peter Wohlleben, ein Förster und inzwischen Autor, beschreibt Bäume als soziale Wesen, die miteinander kommunizieren und sich gegenseitig mit Nährstoffen unterstützen. Wohlleben weiß, welche Bilder wirken, spricht vom „Wood-Wide-Web“, vergleicht also den Wald mit dem Internet. Es ist spannend, seinen Gedanken zu folgen. Als ob Bäume ein Gedächtnis und Gefühle haben, füreinander sorgen, auf ihre Umwelt reagieren. An was für interessanten Lebewesen bin ich heute vorbeigelaufen, die nach wie vor viele Fragen offenlassen. Dass sie in Hände klatschen, wie es im Jesajabuch heißt, erscheint mir gar nicht mehr so merkwürdig.

 

V. Von Bäumen und Menschen

Gott spricht: Mein Wort wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden.

Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem HERRN soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.

Ich höre: Schaut die Bäume an – sie tragen Gottes Wunder und Wunden.

Ich höre: Lasst neue Bäume wachsen – und ihr setzt, so Gott will, Segen ins Werk.

Ich höre: Wo das Wort Gottes zum Aufbruch ermutigt, da kann Neues wachsen, da wachsen Menschen wie Bäume, da wächst auch Gottes Wort wie ein Baum. Langsam, stetig, nachhaltig.

Ihr müsst es nur zulassen.

Wer glaubt, setzt auf Bäume? Selbst wenn der Retter in Person naht, der Christus, der Messias. „Jeder Baum zählt.“[3]

Das legt Rabbi Jochanan ben Sakkai nahe. Der jüdische Gelehrte wurde geboren, als Jesus starb, und wirkte, nachdem der Tempel wieder in Schutt und Asche lag. Er sagte:

„Wenn du gerade einen jungen Baum in der Hand hast und man zu dir sagt:

Da kommt der Messias! Pflanze dann zuerst den jungen Baum, und gehe ihm [erst] danach entgegen.“[4]


Liedvorschläge:

  • Tut mir auf die schöne Pforte EG 166
  • Wir haben Gottes Spuren festgestellt EG.RWL 648
  • Wer Gottes Wort hört (WortLaute 100)

Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.


[1] Vgl. zu dieser Einordnung von Dtjes Ruth Poser, Biblische Baumschule, in: GPM 77 (2022), 140–147, hier 141f., mit Bezug auf Rainer Albertz, 6. Jahrhundert v. Chr. (BE 7), Stuttgart 2001, 292, der von zwei Editionen dieses Buchteils ausgeht.

[2] Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume, München 42015.

[3] Peter Wohlleben, Der lange Atem der Bäume. Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen – und warum der Wald uns retten wird, wenn wir es zulassen, 197–205. Das gelte für Bäume in der Stadt, die das lokale Klima positiv beeinflussen. Im Hinblick auf den Wald plädiert er dafür, den Wald in Ruhe zu lassen statt Bäume zu pflanzen, weil sich der Wald so am wirkungsvollsten regenerieren könne, a.a.O., 221–232 (Der Wald kehrt zurück.

[4] Zitiert von Yehuda Aschkenasy u. a., Die jüdischen Feste, Uelzen 2010, 258.

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