Jesaja 58, 1-9a

Jesaja 58, 1-9a

 


Estomihi,
10. Februar 2002
Predigt über Jesaja 58, 1-9a, verfaßt von Peter Maser

(Zugleich Semesterschlußgottesdienst in der Universitätskirche
Münster)Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!

Die evangelische Universitätsgemeinde in Münster feiert heute
Ihren Semesterschlußgottesdienst. Das Wintersemester 2001/2002 ist
vor wenigen Tagen zu Ende gegangen. Die akademische Welt lebt ja in einem
besonderen Zeitrhythmus, der außerhalb der Hochschulmauern kaum
bekannt ist. Wir teilen unsere Zeit in Semester ein, also in Sechsmonate-Abschnitte.
Diese Semester erlebt jede und jeder auf unterschiedlichste Weise. Es
macht schon einen Unterschied, ob ich es mit einem Erstsemester, einem
Examenssemester oder vielleicht einem Freisemester zu tun habe. Es macht
auch einen Unterschied, ob einer mit diesem Semester vielleicht gerade
sein zehntes Studiensemester hinter sich gebracht hat und sich fragt,
ob nun nicht langsam an das Examen zu denken sei. Für mich war es,
wenn ich es richtig berechnet habe, wohl das 48. Semester an dieser Universität
Münster und in unserer Evangelisch-Theologischen Fakultät. Welch
unterschiedliche Bedeutung nun aber dieses zu Ende gegangene Semester
für jede und jeden von uns auch gehabt haben mag, in einem sind wir
heute alle gleich: Wir schauen gemeinsam zurück auf ein Stück
gemeinsamer Lebenszeit – und wir tun dies im Gegenüber zu einem Bibeltext
aus der hebräischen Bibel, bei dessen Hören vielleicht mancher
von Ihnen zunächst so etwas wie Mitleid mit dem Prediger des heutigen
Tages empfunden haben mag. Die prophetische Botschaft vom falschen und
richtigen Fasten: Was hat die mit diesem gemeinsamen Stück akademischer
Lebenszeit zu tun, auf die wir heute zurückblicken? Fastenübungen
stehen in unserem evangelischen Bewußtsein doch eher am Rande. Natürlich
weiß auch ich davon, daß inzwischen immer mehr evangelische
Christinnen und Christen sich an Aktionen wie „Sieben Wochen ohne“
beteiligen und damit die am kommenden Mittwoch beginnende Fastenzeit für
sich wieder auf eine neue Weise ernstzunehmen versuchen. Aber über
den Sinn solcher Aktionen möchte ich heute nicht mit Ihnen nachdenken.

Als ich den heutigen Predigttext aus Jesaja 58 zum dritten oder vierten
Mal gelesen hatte, da war ich mir plötzlich sehr gewiß: Dieses
Stück prophetischer Botschaft, über das übrigens gerne
auch zum Erntedankfest gepredigt wird, kann auch sehr direkt zu einer
evangelischen Hochschulgemeinde am Ende eines Semesters im Jahr 2002 sprechen.
Was der Prophet da seinem Volk in einer Zeit nach dem großen Exil
und des wiederbeginnenden Aufbaus zu sagen hat, kann auch uns in einer
Weise treffen, die so konkret ist, daß es vielleicht sogar weh tut.
Wenn ich es nun doch wage, die Botschaft des Propheten Jesaja in unsere
Welt, in unsere Westfälische Wilhelms-Universität Münster,
in unsere Hochschulgemeinde hineinzuholen, dann geht es mir vielleicht
wie dem Propheten damals, der von Gott so kräftig ermutigt werden
mußte: „Rufe getrost, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme
wie eine Posaune!“ Ich weiß nicht, ob die Stimme des Propheten
dann wirklich wie eine Posaune gedröhnt hat. Vielleicht hat er seine
Botschaft ja trotz solch kräftigen Zuspruch nur mit gedämpfter
und stockender Stimme vorgetragen. Wichtig aber ist ja nur, daß
das Wort gesagt wird in aller Unvollkommenheit, die sich nur durch die
Gewißheit getröstet werden kann, daß hier ein Auftrag
ausgeführt wird: „Rufe getrost, halte nicht an dich!“

Jesaja hatte es mit einer Fastenpraxis zu tun, die ganz offensichtlich
zum frommen Brauch, vielleicht auch zu ungeliebten Last geworden war.
Man fastete, weil es sich so gehörte. Ja, wahrscheinlich hungerte
und dürstete man tatsächlich in der vorgeschriebenen Weise.
Man machte es sich gewiß nicht einfach, aber es brachte einfach
nichts. Die Beachtung des frommen Brauchs, das routinierte Einhalten der
einschlägigen Gebote – es blieb ohne Antwort. All das Hungern, all
das Kopfhängenlassen und in Sack und Asche durch die Gegend Laufen,
brachte Gott nicht näher: „Warum fasten wir, und du siehst es
nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib, und du willst’s nicht wissen?“
So fragten die Frommen Juden damals voller Verzweiflung oder doch voller
Unwillen, daß sich der ganze Aufwand offensichtlich nicht lohnt.

Versuchen wir nun einmal das, was wir da wie in einer Momentaufnahme
aus dem Alltag des Volkes Israel erfahren, auf unsere Situation anzuwenden.
Fasten, das nichts bringt: Was könnte das heute bedeuten? Könnte
das nicht für uns bedeuten: Ihr begnügt Euch mit Eurer christlichen
und kirchlichen Routine. Die Evangelisch-theologische Fakultät bietet
das übliche, reichhaltige und manchmal auch schwer verdauliche Menü
ihrer Lehrveranstaltungen an. Die theologische Forschung wird auf den
unterschiedlichsten Feldern mit Hingabe vorangetrieben. Als Forschungsbeauftragter
der Fakultät weiß ich, wovon ich spreche. In der Universitätskirche
finden regelmäßig die akademischen Gottesdienste statt und
immer wieder auch wunderschöne Kirchenkonzerte. Auch das Programm
der Studierendengemeinde entfaltet ein breit gefächertes Angebot
unterschiedlichster Aktivitäten und Gruppen. Was will man eigentlich
mehr?

Die Menschen, mit denen der Prophet Jesaja es zu tun hatte, wollten offensichtlich
mehr. Sie begehrten, daß „Gott sich nahe“. Diese Aussage
war die erste, an der ich wie an einem Widerhaken hängen blieb. Ist
bei all der gelehrten und studentischen Betriebsamkeit, die wir so entfalten,
bei uns noch der Wunsch wirklich lebendig, daß Gott sich uns nahe,
daß er uns nahekommt? Ich weiß natürlich auch etwas davon,
wie auch in unserer Gemeinde immer wieder einmal und bei einzelnen die
Frage aufbricht: Ist Gott uns, ist Gott mir wirklich nahe? Aber trotzdem
frage ich: Leben, studieren, lehren und forschen wir nicht oft so wie
Leute, die einmal den Befehl „Vorwärts!“ vernommen haben
und nun loslaufen, ohne sich umzuschauen? Wo bleibt der, der uns da in
Bewegung gesetzt hat? Laufen wir vielleicht nur noch um des Laufens willen?
Wo kommt da der noch wirklich in unserem Alltag vor, der uns nahe sein
will, der uns antworten will. Empfinden wir noch jenen Mangel, über
den die Gemeinde des Jesaja klagte?

Jesaja hat es seinen Zeitgenossen sehr konkret und direkt gesagt, weshalb
das bei ihnen mit ihrem Verhältnis zu Gott nicht funktioniert. Mit
aller Schärfe analysiert er den großen Dissens, der zwischen
allem frommen Reden und Tun und der Alltagspraxis besteht. Da wird gefastet,
daß es wehtut, zugleich aber wird gehadert und gezankt, daß
es nur so kracht. Da wird Unrecht getan -ohne Rücksicht auf Verluste.
Da werden Menschen unterjocht und in Unfreiheit gehalten. Da werden die
Augen fest geschlossen vor dem Elend des Mitmenschen.

Ich glaube, es fällt nicht schwer, das alles auf unsere Verhältnisse
zu übertragen. Wenn es darum geht, sich durchzusetzen, dann stehen
wir in nichts denen nach, denen Gottes Nähe oder Ferne gleichgültig
ist. Wenn es darum geht, Zeit für den Menschen an unserer Seite zu
haben, der – vielleicht auch ohne Worte bittet „Schenke mir etwas
Zeit, ich brauche sie“, dann ziehen wir unsere Terminkalender hervor.
Wenn es darum geht, anderen ihre Art und Weise zu lassen in dem Wissen,
daß auch sie geliebte Geschöpfe unseres Gottes sind, dann sind
wir mit unseren Urteilen oft sehr schnell dabei. Dann verhalten wir uns
– wie Menschen sich eben verhalten: eigennützig, unsensibel, selbstgerecht
und tragen damit zu einer Gestaltung der Welt bei die Gott nicht will,
von der er sich zurückzieht in ein Schweigen, das wir oft genug überhaupt
nicht einmal merken.

Jesaja entwickelt gegenüber solchen Zuständen ein radikales
Gegenprogramm. Er reiht sich damit in die lange Reihe jener Gotteszeugen
ein, die immer wieder davon gesprochen haben, daß Gott uns in dem
Menschen an unserer Seite oder uns gegenüber begegnet. Zusammenfassend
könnte man vielleicht sagen: Bring dein Verhältnis zu diesem
Menschen in Ordnung, dann braucht Dir nicht mehr bange um dein Verhältnis
zu Gott zu sein. Martin Luther, der die Dinge immer wieder auf den Punkt
zu bringen wußte, hat sich auch hier in brutalstmöglicher Weise
geäußert: „Spricht Christus: Ich habe euch nur ein äußerlich
Zeichen gegeben. Alle anderen, auch zum Sakrament gehen, können fehlen.
Aber an dem einen sollt ihr erkennen, ob ihr meine Jünger seid. Willst
du einen Christen, so suche kein ander Zeichen an ihm als Nächstenliebe.
Laß sie beten und Kappen tragen. Hier ist beschlossen: Wenn ihr
euch untereinander liebet, so seid ihr meine rechten Jüngerinnen
und Jünger.“

Ich weiß nicht, wie Ihre Bilanz im Rückblick auf das nun beendete
Semester ausschaut. Da wird sich jeder und jede unter uns wohl auch mancher
gedankenloser Fehler und bitterer Versäumnisse anklagen müssen.
Dietrich Bonhoeffer hat beschrieben, mit welchen Fragen wir da vor uns
selber, vor unseren Mitmenschen und dann eben auch vor Gott stehen: „Wir
sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern
gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen
Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen
geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig
bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht
sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar? Nicht Genies, nicht
Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern
schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere
innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere
Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug […] sein, daß
wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?“

Jesaja, der große Prophet, hat seiner Gemeinde ein radikales und
sehr konkretes Gegenprogramm gegen unsere Normalverfassung verkündet:
– Laß die Gebundenen los!
– Gib frei, die du bedrückt hast! Reiß jedes Joch weg!
– Brich den Hungrigen dein Brot!
– Führe die Obdachlosen ins Haus!
– Kleide die Nackten!
– Halte dich nicht auf Distanz, die doch als Gottes geliebte Kinder deine
Mitmenschen sind.

Liebe Gemeinde, diese Worte brauche ich wohl nicht mehr eigens in unsere
Situation hinein zu übersetzen. Wir wissen alle, wo und wann und
wem gegenüber wir auch in dem vergangenen Semester gefehlt haben.
Da werden unsere üblichen Entschuldigungen ganz schnell fadenscheinig.
„Wir wären gerne gut anstatt so roh, aber die Verhältnisse,
die sind nicht so“, dichtete Bert Brecht und die scheinbar zynische
Feststellung war doch eigentlich eine bittere Anklage, denn wer ist denn
für die Verhältnisse verantwortlich, wenn nicht wir.

In einigen Wochen werden wir uns wieder in dieser Kirche zu einem Semestereröffnungsgottesdienst
zusammenfinden. Und wir werden es erneut versuchen, uns als Christen kenntlich
zu machen – durch eine Nächstenliebe, die ihre Kraft allein aus dem
schöpfen kann, der uns in unseren Mitmenschen begegnet. Wir werden
auch in dem neuen Semester mit unserem eigenen Versagen konfrontiert werden,
aber vielleicht kommen wir doch auf unserem gemeinsamen Weg ein Stück
voran. Wo der Mensch dem Menschen zum Helfer wird, da soll jene große
Verheißung sich zu verwirklichen beginnen, von der Jesaja in so
machtvollen Bildern zu sprechen wußte. Dann wird Licht sein, dann
wird die Heilung rasch voranschreiten und wir werden uns in einen Zug
einreihen, dem unsere Gerechtigkeit voranschreitet, und die Herrlichkeit
des Herrn wird unseren Zug beschließen.

Ich weiß nicht, ob wir tatsächlich so etwas auch nur in Ansätzen
erleben könnten, und wie das aussähe, wenn wir in einem solchen
Zug so daherkämen. Mir und vielleicht uns allen würde es ja
wohl schon zur Gänze ausreichen, wenn an uns die Verheißung
Jesajas wahr werden würde, daß wir rufen und der Herr uns antwortet.
Daß wir schreien und die Antwort des Herrn hören: „Siehe,
hier bin ich“.

Amen

Prof. Dr. Peter Maser
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