Johannes 11,19-45

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Johannes 11,19-45

16. Sonntag nach Trinitatis | 02.09.22 | Johannes 11,19-45 (dänische Perikopenordnung) | Von Mikkel Wold |

Auf seinem Weg nach Jerusalem kommt Jesus in das Haus von Martha und Maria, von den beiden hörten wir im Evangelium des letzten Sonntags. Nu war ihr Bruder gestorben, und viele waren gekommen, um die beiden in ihrer Trauer zu trösten.

   Das erste, was wir in dieser Erzählung hören, ist also der menschliche Trost für die beiden Schwestern. Damals wie heute ist das der Trost, den die meisten vor allem gerne dem Trauernden geben wollen. Das Mitgefühl ist eine authentische und echte Einstellung, eine Aufforderung, die ganz von selbst den überwältigt, der Zeuge einer großen Trauer bei anderen wird. Das geschieht in der Regel ganz ohne Hintergedanken. Später, manchmal kurz danach, können die Hintergedanken oder Berechnungen oder vielleicht die Zurückhaltung eintreffen, aber das unmittelbare Mitgefühl ist selten etwas anderes als eben die unmittelbare Reaktion.

   Den Trauernden zu trösten, das ist nicht immer leicht. Wir reagieren unterschiedlich, und man muss die Unterschiede im Trost beachten. In unserer eigenen Zeit berichten viele davon, dass sie sowohl einen Willen zum Trost erleben, aber auch eine Zurückhaltung und eine Distanz zu dem Trauernden, die ich gerade nannte. „Sag es mit Blumen“, sagt man ja, aber so viel kann man also auch nicht mit Interflora sagen. Das erfordert eine Gegenwart, die vielen schwerfällt. Was soll man dem Trauernden sagen? „Herzliches Beileid“, das ist meist eine Distanz schaffende Wendung. „Es tut mir leid, dass du deinen … verloren hast“, das würde dem Trauernden viel mehr geben.

In den letzten 20 bis 30 Jahren gab es einen recht verbreiteten therapeutisierenden Zugang zur Trauer. Es geht darum, so sagt man, dass man in der rechten Weise reagiert, nicht zu lange, aber auch nicht zu kurz, und zudem sind einige der Meinung, dass eine besondere Art des Weinens zu einer richtigen Reaktion gehört. Dann steht der Trauernde nicht nur mit der Trauer über den Verlust da, sondern man muss sich auch dafür schämen, dass man falsch reagiert, weil man nicht imstande ist, weiterzukommen, wie wir das so oft in unserem hastigen Zugang zu den Dingen sagen, die Zeit brauchen. Viel mehr Zeit als die meisten glauben. Und auch wenn viele Professionelle allmählich diesen auf die Reaktion konzentrierten Zugang verlassen, prägt er noch immer vieles in der modernen Auffassung der Trauer.

Für Martha und Maria war die Katastrophe eingetroffen – ihr Bruder war tot. Deshalb waren viele zu ihnen gekommen, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Anteilnahme bedeutet ja eben dies, dass an etwas teilhat, so dass der andere nicht allein dasteht. Anteilnahme bedeutet, dass man mitträgt oder dass man den anderen nicht alleinlässt.

   Aber wie wir ja alle gut wissen, da ist ein weiter Weg davon, seine Anteilnahme zeigen zu können, hin zu dem, dass man ein ganz erlösendes Wort sagen kann. Sie sind da, die Worte, die einen anderen Menschen trösten können, und wenn der, der spricht, Erfahrung hat und Liebe, dann kann man viel Gutes und Reiches sagen. Aber dennoch ist der Tod ja für die allermeisten von uns und in den meisten Fällen eine mächtige und erschütternde Erfahrung.

In dem heutigen Text wird der Tod nicht beschönigt. Alles ist tiefe Tragödie, als Jesus in das Haus der beiden Schwestern kommt. Das ist ein wahrhaft verwunderlicher Bericht, und das Verwunderliche ist nicht nur der Bericht selbst von der Auferweckung des Toten, sondern auch die Beschreibung der Reaktion Jesu. Jesus geriet stark in Bewegung, da steht sogar, dass er in Tränen ausbrach. Es ist nicht selten, dass wir von Reaktionen Jesu hören, aber es ist selten, dass es so ausführlich geschildert wird wie hier.

   Aber was ist das dann, was da geschieht? Das Evangelium berichtet, dass Jesus zu ihnen kommt mit dem Reich Gottes. Das ist der Kern in der heutigen Erzählung. Er erklärt ihnen nichts über das Mysterium des Todes oder um die Freude daran, der Toten zu gedenken. Er kommt mit dem Reich Gottes, und da, wo dies geschieht, geht es stets um Veränderung. In der Erzählung geschieht dies in einer Weise, die mit unserer modernen Vorstellungswelt in einer denkbar starken Weise zusammenstößt. Jesus macht den Toten lebendig. So wird es uns erzählt – zudem so lebendig, dass es wie der Bericht eines Augenzeugen wirkt, was es sicher auch ist. Wir hören die Worte in dem Bericht, und doch können wir das nicht anders als mit kritischen Augen sehen. Damals war es nicht weniger unfassbar als heute, jemanden von den Toten zu erwecken. Das Ganze wird ja ziemlich konkret geschildert, wenn da geradezu gesagt wird, dass der Tote schon anfing zu verwesen.

   Aber Jesus macht Lazarus lebendig. Durch den Befehl Jesu geschieht Leben, und durch ihn kommt Leben – auch wo der Tod ias einzige Möglichkeit zu sein scheint. Manchmal hört man einen spitzfindigen Einwand

gegen die Erzählung. Wozu Lazarus lebendig machen, er muss ja dann doch wieder sterben. Da übersieht man aber, dass das, was Jesus begegnete, ein ganz ungerechter Tod war, der Tod, der dem jungen Lazarus wiederfuhr. Hätten die Schwestern über den Tod eines alten Menschen getrauert, wäre eine Auferweckung zweifellos merkwürdig gewesen, aber es ist natürlich entscheidend, dass Lazarus kein alter Mann war. Deshalb ist die Auferweckung des Lazarus nicht ein Beweis für irgendetwas oder eine Demonstration der Macht Jesu. Sie ist eine Wohltat. Jesus machte den Toten lebendig. Zugleich sagt er: „Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen“, und er fügt hinzu, dass er das er das um des Volkes willen sagt, „damit sie glauben, dass du mich gesandt hast“, wie da geschrieben steht. Und weiter wird in der Geschichte auf das Wort verwiesen, das Jesus zu Martha sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben“. Das ist die Botschaft an uns alle, die verwundert diesen Bericht hören. Ganz gleich, ob wir ihn in einer Situation hören, wo wir verzweifelt sind und trauern, oder ob wir ihn in ruhigeren Perioden unseres Lebens hören, es ist eine bewegende Geschichte, vielleicht einer der bewegendsten Geschichten im Neuen Testament von den Wohltaten Jesu und seiner Macht über den Tod. Ganz gleich wo der Tod herrscht, bei Lazarus oder wo auch immer, so gilt, dass mitten in dem, was man das Reich des Todes nennen könnte, kommt Jesus mit der Herrlichkeit Gottes. Mitten in unserer Welt. Das ist so rätselhaft, aber es ist so, dass Jesus ein Wort in den Tod hinein spricht, und sogleich ist der Tod vorbei. Die Befreiung für uns heute liegt in diesem einen, dass Jesus befiehlt: Lazarus, komm heraus, sagte er. Heute wird gesagt: Deine Sünden sind dir vergeben – und ich mache alles neu. So ist der Weg aus dem Tode in das Leben. Da ist kein anderer Weg. Keine Kunst, keine Wissenschaft, nicht unserer eigenen Trostmittel. Christus erlöst. Vergebung und Erneuerung bedeuten, dass wir nicht mit uns selbst und unserem Schicksal alleingelassen werden. Wir feiern gleich das Abendmahl. Das ist, hat einmal jemand gesagt, der Rest einer Mahlzeit mit richtigem Essen und Trinken. Und in dieser Mahlzeit ist Christus dabei mit seiner Gegenwart. Für den, der das nicht glaubt und der nur seiner Logik folgt, ist das Abendmahl höchstens eine symbolische Handlung oder ein Gedächtnismahl. Der Glaube aber sagt, dass viel mehr in dieser Mahlzeit liegt als nur eine Erinnerung an etwas, was einmal war. So wie Jesus einst Zöllner und Sünder einlud und all das, was in diesen Worten liegt, also alle, die im Dunkeln leben, so lädt er uns heute ein.

   Der Bericht von der Auferweckung des Lazarus ist somit sowohl ein bewegender Bericht von einem der Ereignisse, die einmal geschahen, als Jesus auf Erden wandelte, als auch eine Botschaft an uns: Wenn wir teilhaben an ihm, haben wir auch teil an der Auferstehung, die Gott gibt. In seiner Gegenwart liegt die ganze Hoffnung unseres Lebens. Amen.


Sognepræst Mikkel Wold

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