Johannes 1,29-34

Johannes 1,29-34

Ein Zeugnis | 1. Sonntag nach Epiphanias | 08.01.2023 | Joh 1,29-34 | Nadja Papis |

Lamm Gottes, Herr, Menschensohn, Rabbi, Messias, Wanderprediger, Gesalbter, Immanuel, Sohn Gottes. Er rettet, erlöst, trägt die Sünd’ der Welt, gibt Frieden, schenkt Leben, richtet, sitzt zur Rechten Gottes. Gesandt, gegeben, geboren, Fleisch geworden, geopfert, gekreuzigt, auferweckt, emporgehoben.

Bezeichnungen aus einer anderen Zeit, Bezeichnungen aus einer anderen Welt – überliefert bis heute.

Unsere Kirchenlieder bezeugen es – traditionelle wie moderne.

Bezeichnungen für einen besonderen Menschen, eine besondere Identität oder zumindest eine besondere Gabe dieses Menschen.

Ja, wir Christinnen glauben an Jesus, den Christus. Selbstverständlich! Das macht uns ja zu Christen. Ohne diesen Christusglauben kein Christentum.

Für mich war das nie selbstverständlich. Ich bin zwar als Christin aufgewachsen, also getauft, aber ohne Christus. Jesus kannte ich nur als neugeborenes Baby aus der Weihnachtsgeschichte. Die lag jeweils im Advent bei uns in der Stube. Ich habe mich nie gefragt, warum die Geburt dieses Babys im Stall von Bethlehem überall erzählt wurde. Das Bilderbuch war da, ich mochte es. Es war spannend, es rührte mich irgendwie, mir gefielen die Engel und der leuchtende Stern. Meine Eltern betonten, wie im Stall sowohl arme Hirten als auch reiche Könige zusammenkamen.

Mit 15 Jahren erlebte ich im Konfjahr eine Art Berufung zur Pfarrerin. Christus ist mir auch da nicht begegnet, ja, ich war weiterhin sozusagen Christin ohne Christus. Allerdings kam ich immer mehr in Kontakt mit Menschen, die zu Christus beteten. Das war mir sehr fremd. Es tönte für mich nach Personenkult. Besonders in den Gospelliedern, meiner Kirchenmusik, wo doch dauernd «I love Jesus» gesungen wird. Ich liebte lieber meinen gerade aktuellen Freund als diesen Mann Jesus, der vor 2000 Jahren gelebt hatte.

Dann kam das Studium und mit ihm die Christologie. Nun kam ich nicht mehr daran vorbei, an diesem Jesus Christus. Mit Jesus hatte ich ja nie ein Problem. Wie viele andere Menschen sah ich in ihm ein Vorbild und nahm gerne an, was ich aus seinem Lehren und Handeln lernen kann. Aber was genau ist eigentlich dieser Christus für mich? Ein Gesalbter? Der Messias? Gottes Sohn? Der Erlöser?

Johannes, der Täufer, hatte da keine Mühe. Jesus kommt herbei, und für Johannes ist es sonnenklar, wer da kommt. Er kann ohne Zögern ein Zeugnis ablegen: Seht doch, das ist das Lamm Gottes, das die Welt von der Sünde befreit! Der Geist Gottes ist wie eine Taube auf ihn gekommen und bei ihm geblieben. Er ist der Sohn Gottes.

Noch heute stolpere ich über jedes Wort.

Das Lamm Gottes? Befreiung von Sünde? Geist? Sohn Gottes?

Mittlerweile habe ich nicht nur studiert und schon einige Jahre Pfarramt auf dem Buckel, sondern auch meinen persönlichen Zugang zur Christologie gefunden, ja, dieser Christus gehört jetzt zu meinem Glauben und ich gerate nicht mehr in Verlegenheit, wenn mich jemand darauf anspricht. Mein «Zeugnis» ist nicht so sonnenklar wie das von Johannes, aber es ist erarbeitet, erkrampft, erzweifelt und erglaubt. Wollen Sie teilhaben?

Erst einmal trenne ich nach wie vor Jesus von Christus. Jesus war für mich der Mensch, der damals gelebt hat. In ihm hat sich der Christus gezeigt oder besser gesagt die Christus-Qualität, die Christus-Gabe.

Denn das muss ich vorneweg nehmen: Mit der koreanischen Theologin Chung Hyun Kyung glaube ich, dass diese Gabe sich nicht nur in diesem galiläischen Mann, Jesus von Nazareth, gezeigt hat, sondern auch in anderen Menschen. Das war für mich eine befreiende Erkenntnis. Und für Sie? Vielleicht empören Sie sich jetzt, schalten ab: Die ist ja keine richtige Christin! Vielleicht bleiben Sie aber auch bei mir und kommen ein Stück weit mit auf meinen Weg.

Die Christus-Gabe… Ob nur in Jesus oder auch in anderen Menschen, was macht sie denn aus?

Hier nehme ich mir den zentralen christologischen Titel aus dem Johannesevangelium zu Hilfe; Johannes der Täufer nennt ihn in seinem Zeugnis: Er ist Sohn Gottes.

Jesus ist Sohn Gottes.

Was wird damit ausgedrückt?

Jesus nannte Gott «Abba», wir müssten es mit «Papi» übersetzen. Es ist die familiäre, sehr vertrauliche Anrede des Vaters, ich würde ergänzen: eines nährenden Vaters, eines guten Vaters. Und für mich könnte es nebenbei gesagt auch «Mami» heissen. Nährende Eltern sind für kleine Kinder in der Regel der Ort der grössten Geborgenheit, die vertrautesten Menschen, Menschen, die für das Kind sorgen, zuverlässig, beschützend, zugewandt. Es gibt auch andere Eltern, das ist mir bewusst, und das führt bei diesem Gottesbild auch immer wieder zu verheerenden Verletzungen. Darum fasse ich gern anders zusammen: Das Göttliche ist etwas, das uns ganz nahekommt, das in den Herzensbereich gehört, dass für eine Geborgenheit steht, in die wir immer wieder zurückkehren dürfen und die uns gerade darum wahre Freiheit ermöglicht.

Jesus, der Christus, ist Sohn Gottes.

Er steht für diese Nähe zum Göttlichen.

Er ist mit dem Göttlichen vereint.

Und das ist es, was Erlösung bringt: diese ganz besondere Nähe zum Göttlichen, diese umfassende Geborgenheit, dieses erfüllende Vertrauen.

In unserem Text steht der berühmte und viel besungene Vers: Er ist das Lamm Gottes, das trägt die Sünd’ der Welt! Oder in einer anderen Übersetzung: Das die Sünde der Welt fortnimmt.

Der Christus-begabte Mensch nimmt die Sünde fort, erlöst uns von der Sünde.

Mit dem Begriff «Sünde» habe ich wohl ebenso lange gehadert wie mit dem «Christus». Dabei hilft mir immer wieder die Unterscheidung der Sünde von den Sünden. Auch hier in unserer Stelle ist das Wort in der Einzahl gebraucht. Es geht nicht um unsere Verfehlungen, es geht um die Sünde, also das, was uns trennt von Gott, was uns entfremdet, was uns unserer Mitte beraubt, was uns vom vollen Leben abhält.

Der Christus-begabte Mensch ist dem Göttlichen so nahe, dass er (oder sie) diese Nähe auch anderen vermitteln kann. Und ihnen so den Weg zur Erlösung zeigt: den Weg zur Lebensfülle, zur Zufriedenheit, zum Vertrauen und der Hoffnung – oder schlicht: zum Göttlichen.

Wo bin ich heute mit dem Christus?

Ich werde wohl nie ein solches Zeugnis ablegen, wie Johannes der Täufer es tut. Aber ich habe mein eigenes Zeugnis gefunden, das, was ich bezeugen kann, das, was ich glaube. Ja, ich glaube an die Urkraft des Lebens, glaube an die Möglichkeit, ihr ganz nahe zu kommen, glaube auch daran, dass es Menschen gibt, die uns in diese Nähe führen können. Und ich glaube, Jesus war einer von ihnen. Für mich muss er nicht der einzige gewesen sein. Gottes Geist so einzuschränken, würde mir nicht gefallen. Denn dieser Geist ist es, der die Gabe bewirkt, der die Nähe schafft, der wie eine Taube auf Menschen kommt und bei ihnen bleibt.

Und was ist mit Ihnen? Welches Zeugnis können Sie heute hier ablegen? Oder – wenn Ihnen der Begriff «Zeugnis» auch ein wenig Mühe macht: Was könnten Sie heute von Ihrem Glauben mit uns teilen?

Die koreanische Theologin Chung Hyun Kyung hielt 1991 an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen eine bewegende Rede, ein vom Glauben erfülltes Zeugnis, hier ein paar Worte daraus:

«Ich komme aus Korea, dem Land der von HAN erfüllten Geistern. HAN ist Zorn, Groll, Bitterkeit, Kummer. Es ist Aufgabe der Lebenden, auf die von HAN beherrschten Geister zu hören und am Wirken der Geister zur Wiedergutmachung des Unrechts teilzuhaben. Wenn wir das Schreien dieser Geister nicht hören, können wir auch die Stimme des heiligen Geistes nicht vernehmen… Ich vermittle Ihnen mein Bild des Heiligen Geistes, so wie es mir von meinem kulturellen Hintergrund aus erscheint. Es  ergibt sich für mich aus dem Bild der KWAN IN, der Göttin des Mitleidens und der Weisheit. Sie weigert sich, ins Nirvana einzugehen, weil sie Mitleid mit den leidenden Lebewesen hat… Ihre mitleidende Weisheit heilt alle Formen des Lebens und befähigt diese, zum Ufer des Nirwana zu schwimmen… Könnte dies ein weibliches Bild für Christus sein?… Komm, heiliger Geist, erneuere die ganze Schöpfung!»

Amen

Quelle:

Chung Hyun Kyung, Schamanin im Bauch, Christin im Kopf, Kreuz Verlag 1992, Seite 19ff

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