Johannes 15,1-11

Johannes 15,1-11

18. Sonntag nach Trinitatis | 07.10.22 | Johannes 15,1-11 (d.P.) | Marianne Frank Larsen |

In den fruchtbaren Bergen südlich von Florenz liegen die Weinberge dicht nebeneinander. Jeder Hang, ob er nun wenige Hektar oder nur einen Hektar Land umfasst, ist mit Weinstöcken bepflanzt. In der milden Sommersonne stehen sie hellgrün in den Reihen und werden gepflegt und beschnitten, so dass die Blätter keine Schatten werfen und die Trauben genug Sonnenschein bekommen. Weinstöcke sind ja eigentlich keine Bäume. Weinstöcke können zwar genauso dick und knorrig sein wie Baumstämme, aber sie werden nicht so hoch und gewaltig wie Buchen. Im Gegenteil: Weinstöcke sind niedrig, knorrige Pflanzen, die nicht nach viel aussehen, und wenn sie nicht hochgebunden werden wie in Chianti, würden sie auf der Erde liegen. Weinstöcke ragen nicht in den Himmel, sie bleiben an der Erde, ganz im buchstäblichen Sinne. Nichtsdestoweniger sind es verblüffend üppige und widerstandsfähige Pflanzen. Auch wenn sie uralt sind, stehen sie da mit vielen frischen hellgrünen Blättern in der brennenden Sonne – dank der Wurzeln, die weit und tief in die Erde reichen und die Zweige und Trauben mit Saft und Kraft versorgen. Und welch ein Saft und was für eine Kraft! Es ist das Geheimnis des Weinstocks, dass diese knorrige, krumme Pflanze mit überraschender Stärke Früchte trägt, Geschmack und Potential. Dass aus den Früchten der unansehnlichen Pflanze lieblicher Wein entsteht, der den Menschen Freude bereitet.

Ich bin der Weinstock, sagt Jesus im heutigen Evangelium, und ich denke, das ist ein wunderbares und g ut gewähltes Bild. Er ist ganz genau so unansehnlich und erdverbunden wie ein Weinstock, denn er wird ja nur von einer gewöhnlichen Mutter geboren und schläft in ihren Armen ganz wie unsere gewöhnlichen kleinen Kinder und wie das kleine Kind, das heute getauft wird. Und später wandert er auf den Wegen in Galiläa und den Straßen Jerusalems wie ein gewöhnlicher Mann, der nicht viel hermacht, ein verletzlicher Mann, den man enttäuschen und verletzen kann. Im Verborgenen aber wohnt in dem verletzlichen, unansehnlichen Menschen, der hier auf unserer Erde wandelt, eine verblüffende Kraft und eine große Stärke, die sich nicht umwerfen lässt. Widerstand, Verlassen, Verrat, Gewalt und Übergriffe können ihm wohl wehtun, aber sie lassen ihn nicht böse werden. Er zieht sich nicht zurück, wird nicht kühl. Er gibt weiter alles, was er in sich hat, für jeden, der es annimmt. Am Ostermorgen zeigt sich, dass nicht einmal der Tod ihn kalt werden lässt.

Deshalb glauben wir, dass der Mann, der in Galiläa und Jerusalem vor zweitausend Jahren umherging, noch immer lebt, auch wenn das merkwürdig vorkommt. Sonst würden wir ja nicht hier in die Kirche kommen, wenn es nicht deshalb wäre, um zu hören, was er noch immer zu sagen hat, und um zu empfangen, was er noch immer zu geben hat. Weder der Lauf der Zeit noch der Widerstand oder die Gleichgültigkeit von Menschen kann ihm das Leben rauben. So unansehnlich und erdverbunden ist er wie ein Weinstock, aber genauso voller Kraft, zäh und unverwüstlich.  Und genauso herrliche Früchte bringt er. Worte, die unserem Dasein Kraft und Saft geben. Und Wein, der den Menschen Freude bereitet.

Mit den Worten, die er spricht, und dem Wein, den er uns reicht, verbindet er sich mit uns so eng wie der Weinstock mit den Zweigen verbunden ist, die seine Früchte tragen. Und so gibt er uns nicht allein ein unvergessliches Bild dafür, wer er selbst ist, sondern auch dafür, wer wir sind. In seinen Augen sind wir nicht irgendjemand oder irgendetwas. Wenn er der Weinstock ist, sind wir die Zweige. Dann ist dies das erste, was über uns zu sagen ist, und auch das letzte. Das wir keine isolierten Individuen sind, der jeweils ihr eigenes Leben in einem öden Universum leben, wo es an uns liegt, selbst einen Sinn zu schaffen. In seinen Augen sind wir Zweige am Weinstock, mit ihm verbunden in jedem einzelnen Pulsschlag, tief abhängig vom Stamm, der uns nährt, und in eine Welt gestellt mit dem ganz bestimmten Ziel, seine Früchte zu tragen.

Bleibt in mir, sagt er, bleibt in meiner Liebe. Denn es ist klar, wenn wir Zweige sind, können wir nicht ohne ihn leben, ohne die Kraft und den Saft, die er uns gibt. Getrennt von ihm verdorren wir und werden in unserem Tun gelähmt und fruchtlos, wenn der Herbst kommt. Bleibt in mir. Dafür beten wir das Vaterunser oder singen ein Abendlied oder gehen in die Kirche, sowohl wenn es Frühling ist, als auch wenn der Sommer vorbei ist. Dann kommen wir, um in ihm und seiner Liebe zu bleiben, Kraft und Saft zu saugen, um zu leben und die Früchte zu bringen, um die er uns bittet, in einem weiteren Herbst. Freundliche Worte, helfende Hände, Aufmerksamkeit, Zeit, Trost, Stütze, Fürsorge, alles was den anderen bildlich gesprochen trägt, was er hätte tun wollen. Kraft und Saft, um Frucht zu tragen, erhalten wir durch seine Worte, solange sie in uns bleiben, die Worte, die wir hier hören und singen, die wir aber auch zudem fühlen und schmecken, wenn er uns sich selbst im Brot und Wein gibt. Wenn uns im buchstäblichen Sinne seine Worte unter die Haut gehen. Deutlicher kann die Zugehörigkeit zwischen ihm, der der Weinstock ist, und uns, die wir die Zweige sind, nicht zum Ausdruck kommen. Das Brot und der Wein, die wir im Mund empfangen, sind Zeichen dafür, was die Worte sagen, dass er in uns bleibt und wir in ihm bleiben. In seiner Liebe bleiben. Auch wenn es Oktober ist.

Ihr seid schon rein, sagt er, und das sagt er wohlgemerkt den Jüngern, die ihn in derselben Nacht verraten, verleugnen und verlassen, und uns, die ihn zuweilen auch verraten, verleugnen und verlassen., ihn, den wir lieben sollten. Wir sind ja nicht rein. Nicht, wenn wir uns selbst mit einem nur einigermaßen nüchternem Blick sehen. Aber es ist gut, dass wir uns hier mit anderen Augen sehen dürfen. Mit seinen Augen. Und das bedeutet, im Lichte der Liebe in seinem Blickwind wir etwas anderes und viel mehr als wir waren, als wir kamen: Reine Menschen, die er liebt, Zweige, die wirklich in noch einem Herbst Frucht tragen können. Dank des Weinstocks, in den wir eingepflanzt sind. Fruchtbare Zweige. Solange wir in ihm bleiben und sein Wort in uns bleibt, sind wir eben das. Amen.


Pastorin Marianne Frank Larsen

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