Johannes 16,16-22

Home / Bibel / Neues Testament / 04) Johannes / John / Johannes 16,16-22
Johannes 16,16-22

Jubilate | 30.04.2023 | Joh 16,16-22 (dänische Perikopenordnung) | Anders Kjærsig |

Einen Augenblick

Als ich noch ein Kind war, eilten wir von der Schule nachhause am letzten Tag vor den Pfingstferien. Hier war Chaos zu erwarten, während alles aufgeräumt und am Eingang bereitgestellt wurde, bis mein Vater mit seiner Arbeit fertig war und das Auto gepackt werden konnte. Dann ging es darum, Spiele und Spielzeugautos mit einzuschmuggeln, die mit harter Hand aussortiert waren, weil dafür kein Platz mehr war. Und dann setzte man sich an seinen Platz. Denn die Reise war unendlich lang, und da mir meistens beim Fahren schlecht wurde, habe ich das nicht in besonders guter Erinnerung.

Ich kannte jedes Haus und alle Orte auf dem Wege. Die Fabrik, den Dom von Viborg, die Reise durch einen Wald., die Türme von Ålborg, die alte Kirche von Mårup, die seit langem ins Meer zu stürzen drohte, und schließlich kamen wir zum Sommerhaus meiner Großmutter in Lønstrup. Nahe bei der alten Mühle umgeben von Glasbläsern, die ihre Gebrauchskunst verkauften, und die schweren Holzboote am Strand – bereit zum Fischfang.

Sind wir bald da? So fragten wir immer wieder. Geduldig erzählte unsere Mutter von der Geschichte Dänemarks. Von Absalon, dem Reformator Hans Tausen, von dem Pionier Dalgas, der die Heide in Jütland urbar machte. Von dem Dichter I.P. Jakobsen und von der Dichterin Thit Jensen, von letzterer vor allem aus eigenem Interesse. Wenn wir erst in der Dämmerung angekommen waren, verschwanden alle Unannehmlichkeiten und alle Langeweile mit einem Mal. Dann empfing uns nämlich Großmutter mit Eierlikör und frischgemachten Betten.

Am nächsten Morgen wurde ich durch Fliegen geweckt, die hinter den braungelben Papiergardinen summten. Da musste man so früh wie möglich aufstehen und zu Onkel Jørgen laufen, der in der Garage auf uns wartete, um mit uns einen Morgenspaziergang am Strand zu gehen – über die Dünen und zurück durch den kleinen Wald. Die Sonne kam langsam zum Vorschein.

Wenn ich da mit meinem Onkel ging, waren alle Unannehmlichkeiten vergessen. Die lange Reise, die kurvenreichen Straßen, die Übelkeit und die Langeweile. In der Erinnerung standen nicht einmal die Geschichten, die meine Mutter erzählt hatte. Sie tauchten erst wieder auf bei der Rückreise. Bis dahin sollte ich jedoch drei Tage hier im Sommerhaus von Großmutter verbringen. Eine Zeit, die ich jetzt überhaut nicht ermessen kann. Wie lange dauerte damals das Pfingstfest? Ich weiß es nicht.

Wir erinnern uns nämlich nicht an den Gang der Zeit, wir erinnern uns an das, was da geschah.  Die Kirchen, an denen wir vorbeifuhren, und die Landschaften, die wir sahen, einschließlich dessen, was uns erzählt wurde. Aber nicht die Zeit, die das dauerte. Die verschwand ja bloß und wurde zu nichts. Es die die Ereignisse, die die Zeit füllen. Das gilt für all das, was wir liebhaben, die Freude, die Schönheit – nicht die Zeit selbst an sich bedeutet etwas, sondern das, was die Zeit ausfüllt.

„Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen“. So sagt Jesus seinen Jüngern. Das griechische Wort für „eine kleine Weile“ ist „Mikron“. Das ist dasselbe Wort, das wir in Worten wie Mikrochip, Mikrokosmos usw. finden, im Deutschen könnte man es einen Augenblick nennen, eine Art Qualitätszeit ohne Ausdehnung – oder vielleicht eine Erinnerung, etwas was war, aber nicht mehr ist und doch bleibt.

Ein Mikron ist etwas, was verschwunden ist aber noch immer lebt, weil nichts für ewig verschwinden wird. Hier ein paar Aphorismen, die sich in diese Richtung bewegen.

„Ich vermisse alle die, die ich verloren habe. Ich vermisse auch alle die, die ich nicht verloren habe und die nioch da sind. Ich vermisse meine Freunde, vermisse meine Familie und vermisse eine Zeit, die einmal war. Ich vermisse die dänischen Wälder, wo wir Wange an Wange tanzten in aller Unschuld, vermisse die schöne wunderbare Frau, die nur die Doors hören wollte und mich küsste auf Abstand freiwillig auf meinen Mund“.

„Musik ist eine Stimme, die man schon gehört hat. Der Klang kommt wie ein Akkord, der an eine Erfahrung erinnert von einer Zeit, die nicht mehr ist. Ich erinnere mich nicht an die Toten, aber ich denke an ihr Leben. Sie sind bei mir als Tote und dennoch: Lebendige Klänge“.

„Ich liebe Ruhe und richtige Augenblicke. Vor allem wenn man nicht zu viel erwartet und einem das gegeben wird, was man sich nicht selbst geben konnte, Wenn eine Möwe auf das Wasser trifft mit einem zielgerichteten Taucher und einen Fisch bis zur Unkenntlichkeit verändert, dann ist man glücklich“.

„Ich sehne mich nach dem Körper, seinen Zusammenstoß und die Wechselwirkung mit anderen; seine Gegenwart von kleinen Gunstbeweisen, über die man nicht nachdenkt. Nach der Schrift, die von jeder Reise zurückkehrt. Mir fehlt die Möglichkeit, Sprache und Körper verschwinden zu lassen in eine Passage von Dunkelheit; mir fehlt die Stimme des Lichts, die über den Himmel schreitet an einem Novemberabend; mir fehlen Pflaumen, die ungeduldig schwer an den Zweigen hängen ohne Vorwarnung; mir fehlt eine rote Rose in einem grünen Garten aus Erde und Gras; mir fehlt die Möglichkeit von Nüssen, die auf einen Verfall mit Gnade warten.

Amen.

Pastor Anders Kjærsig

DK 5881 Skårup

E-Mail: ankj(at)km.dk

de_DEDeutsch