Johannes 17,1-8

Johannes 17,1-8

Glaubenswege | Palmarum | 10.04.22 | Joh 17,1-8 | Benedict Schubert |

Vorbemerkung:

Die traditionelle Bild- und Symbolsprache für Palmsonntag kommt im Text nicht vor, den die Perikopenordnung uns vorlegt. Ich wollte sie in der Auslegung auch nicht in den Text eintragen, sondern sie in der Liturgie aufnehmen. Die Gemeinde singt vor dem Eingangsgebet die ersten drei Strophen vom Adventslied «Dein König kommt in niedern Hüllen» (RG 371/EG 14); die Kantorei antwortet auf das Gebet mit «Tröstet, tröstet mein Volk» von E.K.Nössler.

Zwillinge werden getauft. Für die Taufliturgie verwende ich das Motiv des Einzugs. Doch dann kommt der Verkündigungsteil mit der Predigt. Die Kantorei antwortet mit der Vertonung eines an Johannes 8,51 anlehnenden Worts (Wahrlich, wer an mich glaubt, wir den Tod nicht sehen, von nun an bis in Ewigkeit).

So wie nach Joh 17 der eigentliche Leidensweg von Jesus beginnt, lassen wir den Palmsonntag hinter uns: Nach den Fürbitten wird die Abendmahlsliturgie vom Passionslied strukturiert: «Du gingst, o Heiland, hin für uns zu sterben» (RG 448 / Melodie EG 81, Text von). Weil das Lied sich nicht im EG findet, hier der Text von Johann Andreas Cramer

1. Du gingst, o Heiland, hin, für uns zu leiden,/ erwarbst uns allen deines Himmels Freuden/ und starbst, vom Fluche und von allem Bösen/ uns zu erlösen.

2. Das sollen deine Jünger nie vergessen:/ Wir sind, die wir von einem Brote essen,/ aus einem Kelche trinken, deine Glieder,/ Schwestern und Brüder.

3. Dein heilig Mahl gebietet den Gemeinen,/ durch einen Geist mit dir sich zu vereinen,/ dass unter einem Hirten eine Herde/ aus allen werde.

4. Wir sind mit einem Opfer losgekaufet;/ wir alle sind auf einen Tod getaufet,/ dass jeder nun mit gleichem Ernst und Triebe/ den andern liebe.

5. Wenn wir in Frieden beieinander wohnten,/ Gebeugte stärkten und die Schwachen schonten,/ dann würden wir den letzten heilgen Willen/ des Herrn erfüllen.

6. Ach, dazu müsse deine Lieb uns dringen./ Du wollest selbst, o Herr, dies Werk vollbringen,/ dass unter einem Hirten eine Herde/ aus allen werde.

Die erste Strophe wird vor der Einleitung zum Abendmahl gesungen, 2+3 vor dem Gebet, 4 anstelle des «Sanctus», dann folgen die restlichen Eile der Liturgie, wobei das Unser Vater von der Kantorei auf Ukrainisch in einer Vertonung durch Rihards Dubra gesungen wird. 5+6 singen wir als Schlusslied vor Sendung und Segen.

Predigt:

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

die Zeit steht still in diesem Abschnitt des Johannesevangeliums. Der Evangelist unterbricht die dramatische Bewegung, die Jesus immer tiefer ins Leiden und schliesslich in den Tod führt. Er lässt alles in der Schwebe – wie wenn wir als Leserinnen oder Hörer den Atem anhalten sollten zwischen dem Entschluss von Jesus, aufzubrechen in den Garten, und dem Moment, in dem er und seine Schar tatsächlich hinausgehen in die Nacht.

Johannes beschreibt die Fusswaschung, wo die anderen Evangelisten vom Abendmahl berichten. Er schreibt von der Verunsicherung unter denen, die mit Jesus waren. Und er schreibt, wie Jesus sie tröstet und beruhigt, wie er ihnen einen Horizont eröffnet, ihnen verspricht, dass sie Zukunft haben. Vom Frieden redet Jesus, den er zurücklässt, aber auch davon, dass und wie die Seinen weiterführen werden, was er selbst angefangen hat. Jesus spricht ihre Ängste an und macht dem verzagten Haufen Mut. Das klingt alles nach Schlusswort, nach Vermächtnis, erst recht, da Jesus mit der schlichten Aufforderung schliesst: «Steht auf, lasst uns von hier aufbrechen!» 

Das lässt erwarten, dass sie das auch unverzüglich tun; tatsächlich geschieht es aber erst viel später. Stattdessen redet Jesus weiter, wie wenn er nicht soeben zum Aufbruch geblasen hätte. Er redet ohne Überleitung, ohne Erklärung oder Begründung über drei lange Kapitel. Eben: Die Zeit steht still.

Mit dem Wort vom Weinstock wird der neue Redeblock eröffnet, über die Beziehung zwischen Jesus und denen, die mit ihm gehen und auf ihn hören. Jesus legt dar, wie diese Beziehung sich gestalten soll, wenn er einmal nicht mehr leibhaftig da ist. Lebendig bleibt die Freundschaft, die Liebe durch den Beistand, die «Trösterin», die im himmlischen Windstoss und Auflodern die Seinen ergreifen, erfüllen, heilen und verändern wird. Noch einmal redet Jesus schliesslich von der Angst, die die Seinen in der Welt mit guten Gründen haben. Doch sie können und sollen getrost sein, schliesslich hat Jesus die Welt überwunden (16,33). 

Hier setzt der Text ein, der uns dieses Jahr für den Palmsonntag vorgelegt ist, die ersten Verse von Kapitel 17. Jesus hat lange zu den Seinen gesprochen. Jetzt ändert er seine Blickrichtung und sein Gegenüber: 

17 1So redete Jesus, und er erhob seine Augen zum Himmel und sprach:
Vater, die Stunde ist gekommen, verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche. 
2Denn du hast ihm Macht gegeben über alle Sterblichen, damit er alles, was du ihm gegeben hast, ihnen gebe: ewiges Leben. 
3Das aber ist das ewige Leben: dass sie dich, den einzig wahren Gott, erkennen 
und den, den du gesandt hast, Jesus Christus.
4Ich habe dich auf Erden verherrlicht, indem ich das Werk vollendet habe, das zu tun du mir aufgetragen hast. 5Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.
6Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und mir hast du sie gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. 7Jetzt haben sie erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. 8Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast. 
[Neue Zürcher Bibel]

Grossartig klingt das alles, unbescheiden, masslos. Ich vergleiche Texte gerne mit Räumen – unser Abschnitt kommt mir vor wie ein Prunkgemach; da glänzt alles, Schönheit blitzt auf und wird hundertfach gespiegelt. Ich stehe voller Ehrfurcht und weiss nicht, ob ich mich nähern, diesen Raum überhaupt betreten darf. Die «Herrlichkeit», die Schönheit Gottes lässt mich verstummen. Ich stehe ehrfürchtig still und bestaune den gewichtigen Glanz, der sich vom Ewigen auf Jesus gelegt hat und von ihm zurückgestrahlt wird 

Dass ich alles verstanden hätte, was mir in den überwältigenden Begriffen entgegenkommt, die Jesus verwendet, bilde ich mir gar nicht ein. Der Text behält seine Fremdheit – wie wenn er mir als erstes eine unüberbrückbare Distanz vermitteln wollte. Dort, in der Höhe, im Himmel, ist Gott – ich aber gehöre unten hin, zu denen, die die Zürcher Bibel als «die Sterblichen» bezeichnet. Die Lutherbibel, die ich sonst ja sehr liebe, beschränkt sich auf das harmlose Wort «Mensch», die Bibel in gerechter Sprache schreibt von «allen Geschöpfen». Johannes dagegen hat ursprünglich drastisch formuliert: Der Sohn habe Macht über «alles Fleisch».

Wer immer den Klang der Sprache dieses Evangelisten etwas im Ohr hat, denen wird bewusst sein, dass Johannes wiederholt den Begriff «Fleisch» verwendet – und zwar gerne an Stellen, wo er uns irritiert, fast ein bisschen peinlich ist.

Das ist womöglich durchaus beabsichtigt. Wir sollen irritiert sein. Es soll uns nicht wohl sein als Geschöpfe, als «Fleisch», denn das ist für Johannes die an die Erde gebundene, vergängliche Existenz. Sobald Fleisch nicht mehr einen lebenden Körper meint, verrottet es. Wenn wir nicht Wege finden, es zu konservieren, fängt es rasch an zu faulen.[1] Ja, «Fleisch» sind wir Sterblichen. Unser Leben ist ständig vom Sterben bedroht. Gleichzeitig – und das wiegt schwerer – haben wir Menschen einen eigentümlichen Hang, den Tod zu suchen und zu bringen; das wird uns dieser Tage ja auf schreckliche Weise vor Augen geführt. Wie kann jemand auf so hemmungslose Weise Tod und Elend über Tausende bringen wollen? «Fleisch» – das bedeutet auch die Blutspur der Gewalt, die sich durch die Menschheitsgeschichte zieht, und die wir nun beklemmend in naher Nachbarschaft beobachten.

Weil ich, weil wir «Fleisch» sind, haben wir kein Recht und keine Möglichkeit, den lichtdurchfluteten Raum der Schönheit Gottes zu betreten; wir gehören da schlicht nicht hin. Wir gehörten da nicht hin, wenn Jesus uns nicht betend, in seiner wachen Kommunikation mit Gott, Zugang verschafft hätte: Vater, die Stunde ist gekommen, verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche. Denn du hast ihm Macht gegeben über alle Sterblichen, über alles Fleisch, damit er alles, was du ihm gegeben hast, ihnen gebe: ewiges Leben.

Wir sind nicht für das Verrotten und Verfaulen bestimmt, uns ist das Leben zugesagt, und zwar ewiges Leben. Uns ist Leben geschenkt, das nicht mehr vom Tod definiert ist. Es lässt sich nicht mehr vom Tod und der Todesangst bestimmen. Es bringt nicht mehr Tod. Es beschädigt nicht mehr, was leben und lieben will. Es ist Leben, in dem die Liebe blüht, in dem das Vertrauen uns Boden unter die Füsse gibt, in dem die Hoffnung Zukunft schafft.

Beim Begriff der «Ewigkeit», vermute ich, taucht bei vielen zunächst die Vorstellung einer ins Unendliche weitergezogenen Zeitachse auf. Sie sehen vor sich das Gleis der Zeit, auf dem wir durchs Leben fahren. Dieses Gleis zieht sich gradlinig ins Unendliche weiter, weil es nicht mehr am Prellbock des Todes endet, wo wir mehr oder wenig abrupt, aber jedenfalls endgültig zum Stehen kommen.

Ewigkeit bedeutet jedoch, dass die Zeit aufgehoben wird. Wir folgen nicht mehr einer Lebenslinie, wir werden befreit davon, ihr folgen zu müssen – manche ja so lange, dass sie es müde werden und des Lebens endgültig satt sind. Wir werden vielmehr in einen unvorstellbar anderen Zustand versetzt. Ewiges Leben ist die ganz andere Art von Leben, die Johannes in seinem Evangelium beschreibt. Sie ist um Gottes Willen möglich, denn – in den Worten aus dem Prolog des Evangeliums: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit (Joh 1,14a). Die Ewigkeit ist hereingebrochen in die Zeit und breitet sich in ihr aus.[2] Und uns wird ewiges Leben geschenkt, indem wir von oben geboren werden aus Wasser und Geist (3,3-5).

Für den Evangelisten ist entscheidend: Das ewige Leben ist nicht das, was dann kommt, wenn wir einmal gestorben sind. Ewiges Leben ist das Leben, das Jesus Christus gelebt hat; und er beruft, befreit und befähigt uns dazu. Unser sterbliches Leben, unser Leben «im Fleisch» verwandelt sich allmählich, zusehends in dieses Leben von himmlischer, göttlicher, ewiger Qualität. Für dieses Leben bedeutet der Tod nicht mehr das Ende. Um es mit dem Pauluswort zu sagen, das ich jeweils zitiere, wenn ich diejenigen nenne, von denen wir Abschied genommen haben: Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir nun leben oder sterben, wir gehören dem Herrn (Röm 14,8). Diese Zugehörigkeit wird uns durch durch Wasser und Geist[3] geschenkt:

Wasser: In der Gemeinschaft der Getauften entdecken wir sie. Wir üben das ewige Leben miteinander ein. Wir fragen einander, wie es sich lebt und gestaltet, und wir unterstützen einander in Zweifeln, in Unsicherheiten, wenn wir die Orientierung verlieren. Im gegenseitigen Austausch, in der Gemeinschaft leben wir es immer leichter und selbstverständlicher. Ella und Amalia werden das hoffentlich auch einmal entdecken und für sich in Anspruch nehmen.

Und Geist: Das ewige Leben ist zugleich das überraschende, nie zu kontrollierende Geschenk der göttlichen Geistkraft, die wie der Wind weht, wo und wie sie will (3,8). Wir können uns im ewigen Leben nicht einrichten; es steht nicht zu unserer Verfügung, nicht in unserer Macht und unter unserer Kontrolle. Aber wir erfahren es als die himmlischen Momente – oft dann, wenn wir sie nicht erwartet hätten. Es löst sich eine Verkrampfung. Wir finden das richtige Wort. Wir schliessen Frieden nach langem Streit. Wir werden berührt und geheilt. Wir verstehen einander, uns selbst oder Gott so, dass unser Herz leicht wird. Wir schweigen und hören die Stimme, die alles zurechtbringt.

Und alle diese Erfahrungen verbinden sich so, dass ich den einzig wahren Gott, erkenne und den, den Gott gesandt hast, Jesus Christus. Dass ich Dinge zu begreifen anfange und sogar Worte finde, um darüber mit anderen zu sprechen, ist dabei nicht einmal das Wichtigste. Wo die Bibel von «erkennen» redet, geht es um mehr als das gedankliche Erfassen. «Erkennen» bedeutet Nähe, Intimität, eine tiefe Vertrautheit, eine liebevolle Verbindung.

Diese Verbindung ist da, dafür dankt Jesus seinem Vater. Er verlässt sich darauf, dass diejenigen, die er um sich geschart hat, eingetreten und jetzt daheim sind im hellen Raum der Schönheit, des Lichtglanzes, der Herrlichkeit Gottes – so wie er selbst. Jesus vertraut auch darauf, dass nichts und niemand diese Verbindung wird lösen können, auch nicht das, was ja sogleich folgen wird, wenn alles wieder in Bewegung kommt, und er seinen Weg bis zum Kreuz gehen wird.

Von ihnen, die um ihn sind, sagt Jesus im Gebet: Du hast sie mir aus der Welt gegeben. Sie waren dein, und mir hast du sie gegeben. Wir hören es und gehören dazu, was immer auch geschieht.

Pfr. Dr. Benedict Schubert, geb. 1957, reformierter Pfarrer an der Peterskirche in Basel nach mehreren Jahren im Dienst der evangelisch-reformierten Kirche in Angola und bei mission 21 – evangelisches missionswerk basel, sowie Lehrauftrag im Fach aussereuropäisches Christentum an der Universität Basel; mit seiner Frau zusammen leitet er das «Theologische Alumneum», ein Wohnheim für Studierende aller Fakultäten, sie sind beide seit ihrer Gründung Mitglieder der Communität Don Camillo.

Basel


Benedict Schubert

benedict.schubert@erk-bs.ch


[1] Siehe auch Ps 90, 5f; 103, 15f.

[2] Siehe die 2. Strophe des Lieds von Arno Pötzsch (Es ist ein Wort ergangen – RG 259/ EG 590): «Das Wort hat Gott gesprochen/ hinein in diese Zeit./ Es ist hereingebrochen/ im Wort die Ewigkeit.»

[3] Die Kommentare sind sich nicht einig, ob das Wasser sich tatsächlich auf die Taufe bezieht, oder ob das Wasser Bild sei für den Geist («…durch das Wasser das der Geist ist»). Es ist also möglich, dass ich hier etwas in den Text hineinlese; ich meine aber, gute Gründe dafür zu haben.

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