Johannes 19,16-30

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Johannes 19,16-30

Liebe Gemeinde!

Am liebsten würden wir ohne den Karfreitag leben. Um uns herum
ist es ja ohnehin so: Zwischen Weihnachten und Ostern scheint kein anderes
wichtiges Ereignis im Festkalender zu liegen. Dem Weihnachtsbraten folgt
der Osterspaziergang. Das Kreuz eher ein Schmuckstück, als ein Zeichen,
das auf das Leiden Jesu verweist. Und auch in der Kirche wird das Kreuz
mitunter als dunkles und Angst machendes Bild von Gott bezeichnet. Nicht
selten wird der Karfreitag in einem kühnen Sprung von Ostern überholt,
aber ganz neu ist das nicht, denn die Karfreitagsgeschichte nach Johannes
klingt ein wenig anders als die der anderen Evangelisten. Jesu letzten
Worte lauten bei ihm: „Es ist vollbracht“ und nicht „Mein
Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Nur diesem „Es
ist vollbracht“ geht das ganze Erleben und Erleiden des Karfreitags
voraus.
Wann erreicht uns dieses Geschehen und was hat das Leiden und Sterben
Jesu damit zu tun? Was hat er für uns vollbracht? Warum ist es lebenswichtig,
dem Karfreitag nachzusinnen?

Ich will mit unseren Karfreitagserfahrungen beginnen.
Karfreitag – Stunde finstersten Leidens, schlimmster menschlicher Verworfenheit,
Verzweiflung, Blut und Tränen. Wann erreicht uns dieses Datum? Erreicht
es uns mit den Bildern, die jetzt wieder täglich in unsere Häuser
kommen, die sich unseres Denkens, Fühlens, unseres Herzens bemächtigen?
Wird es Karfreitag in einem der Lager im Gazastreifen oder im Westjordanland,
wenn Menschen aufeinander losgehen, Steine werfen, schießen, sich
hasserfüllten Auges anschauen? Karfreitag des menschlichen Miteinanders
einer Nation? Karfreitag – mit jedem Toten, der am Ende auf einem staubaufgewühlten
Platz in Gaza oder Bagdad liegen bleibt?
Menschen zerrissen, die Hoffnung auf Frieden in Gerechtigkeit mit Füßen
getreten! Karfreitag – der Menschlichkeit! Karfreitag der Gerechtigkeit,
der Menschenwürde?

Und für manche in unserer Mitte sind die Karfreitagserfahrungen
ihres Lebens noch näher. Sie verkehren das Leben einer schwangeren
Frau, die vom Freund oder Mann, von Familie oder Gesellschaft alleingelassen,
weil sie alle ihr versichern, wir haben keinen Platz, wir haben kein
Geld, wir haben keine Nerven mehr, um noch ein Kind aufzuziehen, den
Weg zur Abtreibungsklinik auf sich nimmt. Belastet lebt sie fortan. Karfreitag
– in unserem Land? Karfreitag, wenn Sterbende nicht mehr in ihrer Not
begleitet, ihnen durch palliative Medizin geholfen, Hospize eingerichtet,
sondern Euthanasie – wie in den Niederlanden – angedacht wird? Karfreitag,
wenn durch ein technisches oder ein menschliches Versagen auf unsern
Straßen Menschen verletzt getötet werden, wenn sie Opfer werden.

Karfreitag – immer dann wird es Karfreitag für unser Denken und
Fühlen, unser Leben, wenn Gewalt, Sterben und Tod hervorruft. Geplante
Gewalt, gewollte Gewalt, aber auch freigesetzte Gewalt neben der Gewalt,
die Technik und Fortschritt werden lassen. Es wird immer wieder Karfreitag
– es werden immer wieder Menschen zu Opfern. Es werden immer wieder Menschen
an anderen Menschen schuldig, bewusst oder unbewusst. Und vielen Opfern
sieht man von außen nicht an, daß sie Opfer sind. Sie tragen
keine Wunden, sie sind nicht zerrissen oder verbrannt, sie sind nicht
erstickt an den Schwaden des Gases und keine Kugel hat sie ums Leben
gebracht. Sie leben weiter – vielleicht sogar heute, hier mitten unter
uns im Gottesdienst: Sie leben weiter – die Opfer in unserer Mitte -,
die mit Worten Geschlagenen, die um ihre Ehre Gebrachten, die an Menschen
Zerbrochenen, sie leben weiter – aber anders als zuvor.

Karfreitag – Tag der Opfer? Wäre das eine zeitgemäße Übersetzung?
Tag der Opfer auch ihrer eigenen Gewalt. Tag auch eines Pontius Pilatus
einen Herodes eines Kaiphas, eines Judas und Petrus. Eines Diktators
im Irak, eines hetzenden Mullahs in Palästina, der eines gewalttätigen
jüdischen Siedlers in den besetzten Gebieten. Tag auch des die Frau
und Kinder schlagenden Ehemannes. Tag also derer auch, die zwar Opfer
erzeugen, die schlagen und morden, die zugleich aber auch Opfer sind,
weil sich ihr Gesicht und Geist verdüstert haben. Sie sind nicht
mehr die Menschen, die Gott gewollt hat.

Karfreitag – Tag der Opfer. Tag der Schuldiggewordenen, der unter Schuld
Leidenden, Tag derer, um die es düster wurde, die kein Licht mehr
sehen, die in ihren Depressionen erstarren und untergehen, an deren Ohr
kein Wort mehr dringt.

Ich glaube wir alle haben eine Vorstellung von Menschen des Karfreitags,
wenn wir dem Gesagten nachsinnen. Ich habe einige Szenen, einige Ereignisse,
einige Erinnerungen genannt, und erinnere mich an einen jungen Mann,
der eine ganze Weile mit uns im Pfarrhaus lebte. Willig und freundlich,
vielleicht ein wenig unsicher, weltfremd, ein junger Künstler, der
einmal etwas anderes erleben sollte: Er hat die Kirche nach Weihnachten
aufgeräumt, hat die Stühle gestapelt, auf denen die Gemeinde
am Gründonnerstagabend in der Vierung der Kirche sich zum Abendmahlsgottesdienst
versammeln sollte, hat Gemeindebriefe verteilt. Alles ein wenig still,
zu still, aber nicht bedrohlich still. Und dann kamen die ersten Tage
im neuen Jahr, ruhige Tage, Urlaubszeiten – er bleibt bei seinen Verwandten.
Als wir wieder mit ihm rechneten, blieb er aus. Zurückgefallen in
das dunkle Loch seiner Seele, eingewiesen. Gefragt wann er das letzte
Mal gelacht habe, kann er nur noch sagen: vor 5 Jahren an jenem Tag zu
jener Stunde. Ein junger Mann, hochbegabter Künstler, einziges Kind
seiner Eltern, selbstmordgefährdet. Ein Karfreitagsleben – und all
unser Bemühen, prallt ab, nicht weil er oder sie – und es gibt so
viele dieser Menschen in unserer Mitte – bösartig wäre, sondern
weil sie wie tot sind, innerlich wie tot, keine Emotion mehr fähig.
Opfer – auch sie Opfer, Opfer vielleicht einer krankhaften Entwicklung.

Die Karfreitagserfahrung bestimmt in diesen Tagen unsere Welt, aber
auch unser ganz persönliches Leben. Das ganze Elend des Krieges
im Irak, das Sterben von Kindern, von Alten und Kranken, wir haben es
vor Augen. Unschuldige, aber wer will hier unterscheiden: Haben denn
Schuldige den Tod verdient?

Die Karfreitagserfahrung ist zugleich aber auch die Erfahrung unserer
Distanz zu Gott. Von ihm sind wir getrennt, zwischen ihm und uns liegt
ein breiter Graben.
Frühere – und manchmal noch heutige – Fromme haben versucht diesen
Graben zwischen sich und Gott zu überwinden, in dem sie hinabstiegen
von der einen Seite, hinab bis in die Talsohle, um dann auf der anderen
Seite wieder hinaufzuklimmen.
Bergwanderer kennen das. Sie wissen, wie mühsam dies ist. Natürlich
sind diese Frommen nur im übertragenen Sinne, im bildlichen Sinne,
in das Tal gestiegen, ihr Hinabsteigen konnte so aussehen, wie das des
frommen Juden, der sich sklavisch genau an die Gebote und Verbote seiner
Religion hält, um damit den Weg zum Vater zu gehen, sie konnten
so aussehen, wie die Wege des Mittelalters durch Geißelung und
Gutes Werk, durch Entsagung und Askese, durch Fasten auch als Werk missverstanden
den Trennungsgraben zu überwinden. Und dieser Weg kann so aussehen,
daß heute ein Mensch sein ganzes Leben zum Opfer bringt, zum Opfer
für eine gute Sache Tag und Nacht rastlos tätig ist, um anderen
zu dienen und sich damit den Weg zu Gott freizumachen, den Garben zu überbrücken.

Und doch – der Graben bleibt, aus dem Opfer des Lebens für die
gute Sache wird der Krampf und die Mühe , wird Enttäuschung
und nicht selten Krankheit, die dann den Opferbereiten wieder zum Opfer
werden läßt. Zum Opfer seiner selbst.

Wissen, Sie, ich will das heute einmal ganz schlicht, ganz einfach sagen:
Es gibt nur eine Brücke, es gibt nur einen Weg über diesen
Graben, es gibt nur einen Weg aus den Opferungen und dem Geopfertwerden
hinaus, und das ist der Weg, der den Namen Jesus Christus trägt.
All unserer Karfreitagserfahrung ist doch hineingebunden in seinen Karfreitag,
All unser Leiden und Verzweifeln, unser Verzagen und Klagen ist doch
hineingenommen in sein Leiden am Kreuz. All unser Opfer bringen und Opfer
sein und werden ist doch umfangen von ihm, von dem es heißt: So
ist auch Christus einmal geopfert werden, die Sünden vieler wegzunehmen,
zum zweitenmal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern
denen, die auf ihn warten zum Heil. (Hebr. 9) Das ist gemeint, wenn es
im Johannesevangelium heißt: „Es ist vollbracht“. Ja,
er hat es vollbracht, was uns Karfreitagsmenschen, uns mit unseren Gewalttaten
und Sünden wieder zum Leben bringen kann.

Christus , das Opfer, nimmt diesen Weg durch die Abgründe auf sich,
um bei uns zu sein, um uns indem er bei uns ist, zurückzubringen
zu unserem Ursprung zu unserem Vater. Durch sein freiwilliges Opfer durchbricht
er diesen entsetzlichen Teufelskreis, der der Namen Beit Jala, Ramallah
oder Bagdad trägt, er durchbricht den Teufelskreis, der Familie,
Sucht und Krankheit heißen kann. Den Teufelskreis, in den die Welt
und unser Leben gefangen sind.
Es geht uns dann wie jenem Mann, von dem die Geschichte erzählt,
daß er seinen Schatten loswerden wollte.
Eine Geschichte aus einem fernen Land erzählt: Ein Mann wollte seinen
Schatten loswerden, aber, was er auch anstellte, es gelang ihm nicht.
Er wälzte sich auf dem Boden, sprang ins Wasser, versuchte, über
den Schatten wegzuspringen. Alles vergeblich. – Ein weiser Mann, der
diese Geschichte hörte, meinte dazu: „Das wäre doch ganz
einfach gewesen, den Schatten loszuwerden!“ „Wieso einfach?“ fragten
die Umstehenden neugierig, „was hätte er denn machen sollen?“ Und
der weise Mann gab zur Antwort: „Er hätte sich nur in den
Schatten eines Baumes zu stellen brauchen.“

Ob ich es noch einmal erklären muss? Der Schatten, das ist die Schuld
des Menschen, alles was ihn von Gott und seiner Menschlichkeit trennt,
seine Karfreitagserfahrungen und seine Karfreitagsexistenz. Die Erfahrung
von opfern und geopfert werden, die Erfahrung des Abstands zu Gott. Wir
wissen, wie uns das zusetzen kann. Was sagt jener Weise? „Du brauchst
Dich nur in den Schatten des Baumes zu stellen.“

Wir brauchen uns nur in den Schatten des Baumes, des Kreuzes Jesu stellen,
dann werden wir die Schuld los. Vom Kreuz geht Trost aus. Und im Schatten
dieses Kreuzes werden wir nicht alleine stehen. Dort stoßen wir
auf die anderen Opfer und Täter. Dort stoßen wir auf die Soldaten,
die um seinen Rock würfeln, dort stoßen wir auch auf die Frauen,
den Jünger und Maria, Jesu Mutter. Wir stoßen auf die Täter
und Opfer des Unrechts im Großen und im Kleinen. Miteinander sollen
und können wir buchstabieren und sprechen und darüber dann
wieder leben lernen: Der sich für uns opferte, der befreit uns!
Er weist uns neu in unsere Welt, führt uns zueinander, sendet uns
auf Wege des Friedens und nicht des Krieges.
Und wir werden erfahren: Er schenkt uns Geduld und Zuversicht auch in
den „Nöten“, die unser Leben begleiten.
Denn es bleibt nicht beim Karfreitag. Der Gekreuzigte ist der, zu dem
sich Gott bekennt, trotz des Todes am Schandpfahl. Der Karfreitag ist
kein Trauertag, sondern ein Tag der Vergewisserung über Gottes Liebe
zu unserer leidenden Welt und seiner Barmherzigkeit mit denen, die um
ihr Leben betrogen wurden.
Wahrlich: der Karfreitag damals und seine Wirkung heute, das ist das
bei Gott selbst hinterlegte und auf unsere Namen ausgestellte Testament,
das uns Leben ohne Ende verheißt.

Amen

Landesbischof Dr. Friedrich Weber, Braunschweig
E-Mail: landesbischof@luth-braunschweig.de

 

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