Johannes 20,1.11-18

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Johannes 20,1.11-18

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Ostersonntag,
15. April 2001

Predigt
über Johannes 20,1.11-18, verfaßt von Rolf Wischnath


Biblischer Text:
Am ersten Tag
der Woche kommt Maria aus Magdala frühmorgens, während es noch dunkel
ist, zum Grab und sieht, dass der Stein vom Grab weggenommen ist. ……..
Maria aber stand draussen am Grab und weinte. Während sie nun weinte,
beugte sie sich vor in das Grab. Und sie sieht zwei Engel in weissen
Gewändern dort sitzen, wo der Leib Jesu gelegen hatte, den einen beim
Haupt, den anderen bei den Füssen. Und die sagen zu ihr: Frau, was weinst
du? Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herren weggenommen, und ich weiss
nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Das sagte sie und wandte sich nach hinten,
und sie sieht Jesus dastehen, sie wusste aber nicht, dass es Jesus war. Jesus
spricht zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Weil sie meint, es sei der
Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wo
du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen. Jesus spricht zu ihr: Maria! Da
wendet sie sich um und sagt auf hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heisst
Meister. Jesus spricht zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn noch bin ich
nicht hinaufgegangen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen:
Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem
Gott. Maria aus Magdala geht und berichtet den Jüngern: Ich habe den Herrn
gesehen, und dass er dies zu ihr gesagt habe.

(Übersetzung: Zürcher Bibel – Fassung
1996)

Liebe Gemeinde!

I

Auch diese Ostererzählung beginnt mit einem
Friedhofsbesuch. Auch Maria aus Magdala geht zum Grab, in das man den
gekreuzigten Jesus gelegt hatte. Ich vermute, sie tut etwas Naheliegendes: Sie
will allein sein mit ihrer Trauer um einen Menschen, der ihr alles bedeutete
und dessen Tod sie nicht annehmen kann. Jesus hatte aus ihr einen neuen
Menschen gemacht. Er hatte ihr, so berichtet der Evangelist Lukas, sieben
böse Geister ausgetrieben. Das heißt: Jesus hatte sie von einer
schweren seelischen Krankheit geheilt. Und sie war dann bei ihm geblieben, war
ihm nachgefolgt. Durch ihn hatte sie neuen Lebensmut gewonnen und in ihm ein
neues, das wahre Lebensziel gefunden.

Nun jedoch war alles vorbei. Maria Magdalena hatte
es selbst gesehen: Sie gehört zu den wenigen Augenzeugen des Kreuzestodes
Jesu. Und nun geht sie zum Grab, wie wir zum Grab eines Menschen gehen, dessen
Tod wir begleiten mussten und dessen Sarg wir in die Erde gesenkt haben. Wer
einmal jemanden hergeben musste, mit dem er das Leben geteilt hat, kann Maria
Magdalena nachfühlen, was sie empfindet. Leer steht sie am Grab:
„Maria stand draussen am Grab und weinte“, heißt es. Die
Erinnerung an Jesus hilft ihr nichts, so wie Erinnerungen nie wirklich helfen.
Wir versprechen den Toten zwar, dass wir sie nicht vergessen wollen. Manche
behaupten gar, die Toten lebten in der Erinnerung weiter. Aber das stimmt
nicht. Erinnerungen sind vor allem schmerzhaft. Sie holen Menschen ins
Gedächtnis zurück, aber eben nur ins Gedächtnis; und das weckt
den Schmerz darüber, dass der Tote nicht mehr bei mir ist: ich nicht bei
ihm und er nicht mehr bei mir, nie mehr.

„Während sie nun weinte, beugte sie sich
vor in das Grab.“ Sie „beugte sich“: ins leere Felsengrab und
schaut mit ihren verweinten Augen dorthin, wo der tote Jesus hingelegt worden
war. Merkwürdig: Dass das Grab leer ist, ändert nichts an ihrer
leeren Verfassung. Viele meinen, das leere Grab sei doch gerade der schlagende
Beweis dafür, dass Jesus auferstanden sei. Maria sieht das nicht so. Ihre
Tränen werden vom leeren Grab nicht gestillt. Ihre Seele beginnt nicht
aufzuleben.

Also mit der Anerkenntnis einer Tatsache kommt es
noch keineswegs zum Durchbruch oder auch nur zum Anfang des Glaubens. Das sehen
wir am leeren Blick der Maria Magdalena in die Tat-Sache: ins leere Grab.
Tat-Sachen erleichtern das Glauben nicht, nehmen es uns nicht ab. Bestenfalls
können sie – wie die Tatsache des leeren Grabes – helfen, nicht am
Nebensächlichen zu hängen. Aber im Entscheidenden helfen sie nicht.
Und hier heißt es sogar, Maria habe im Grab „zwei Engel in weissen
Gewändern sitzen“ gesehen: „dort, wo der Leib Jesu gelegen
hatte, den einen beim Haupt, den anderen bei den Füssen“. Hier haben
wir eine Unterstreichung, dass das Grab wirklich leer war. Eine
Engelerscheinung unterstreicht und beglaubigt die „Tatsache“. Aber
selbst wenn Engel Tatsachen beglaubigen, hilft es im Entscheidenden nicht.
Maria bleibt so leer und traurig wie zuvor. Sie weint weiter. Und eher aus
Verzweiflung wendet sie sich um, wendet sie sich ab vom leeren Grab – und
von den Engeln.

II

Aber da sieht sie plötzlich „Jesus
dastehen“ -, „sie wusste aber nicht, dass es Jesus war“. Der
Auferstandene steht vor ihr in seiner von Gott ganz und gar erneuerten
leiblichen Gestalt, und Maria in ihrem Schmerz erkennt ihn nicht. Sie kann ihn
aber auch nicht erkennen, weil er sich ihr nicht zu erkennen gibt. „Jesus
spricht zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Weil sie meint, es sei der
Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wo
du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen“.

So ist es, wenn wir auf uns selbst gestellt sind und bei uns
selber bleiben, in unseren Gedanken, in unserer Trauer, im Schmerz, den wir uns
nicht selten selber zufügen, mit dem Blick aufs Tatsächliche und ins
Leere. Das ist unser Problem, das Lebensproblem, dass wir alles nur von uns
erwarten, nur in den Grenzen unserer Tatsachen, unserer Vorstellungen und
Leistungsmöglichkeiten Änderungen glauben erfahren zu können.
Wir wollen diejenigen sein, die mit ihren Entwürfen und
Perspektiven recht behalten wollen, die den richtigen Weg finden und die vor
allem Herren und Frauen ihrer Vorstellungen und ihrer Entscheidungen bleiben.
So bleiben wir immer nur bei uns selbst.

Lasst uns nun nicht zu schnell sagen, dass das bei
Christen anders ist. Es ist vielmehr nur bezeichnend, dass bei vielen Christen
– gerade bei denen, die sich selbst nicht selten „entschiedene
Christen“ nennen – zwei Worte hoch im Kurs stehen: die Worte
„Entscheidung“ und „annehmen“. Subjekt dieser
Worte ist immer der mehr oder weniger fromme Einzelne: Er muss sich
„entscheiden“ – für Jesus; er muss „es“
„annehmen“: das Heil, die Seligkeit. „Entscheide dich für
Jesus!“ wird in Evangelisationen oft gerufen. „Nimm an, was Jesus dir
anbietet!“ In einem evangelischen Gemeindehaus im Siegerland, wo ich mal
Vikar war, hing ein Wandspruch, der dort mit seinen schwarzen Lettern den
Versammlungsraum bestimmte: „Die Entscheidung muss bei dir fallen:
Entscheidung für Jesus. Sonst gehst du verloren.“

Wo so gerufen und gepredigt wird, gefordert und
gedroht wird, da kommt in aller Regel eine problematische Vorstellungsweise zur
Geltung:

Unter der Hand wird in diesem Denken das, was
Jesus Christus am Kreuz und in der Auferstehung für uns Menschen getan
hat, zu einer Ware, zu einer „Heilsware“ Sie wurde damals und dort
„produziert“ auf dem Hügel Golgatha und im Grab des Joseph von
Arimathia. Sie wurde und wird daraufhin durch die Jahrhunderte hindurch von der
Kirche „angeboten“, so wie ja auch diese Predigt als eine
Angebots-Predigt verstanden werden könnte. Ob der geneigte Hörer sie
sich aneignet und mir bis zum Ende zuhört, bleibt seine Sache. Und
schließlich soll und muss ja auch das Heil vom Einzelnen in freier
Entscheidung angenommen, „konsumiert“ werden. Es ist wie auf dem
Markt: Entscheidend ist der Moment, wo die Ware aus der Hand des
Verkäufers in die Hand des Käufers kommt. Auch wenn Kreuz und
Auferstehung in einer solchen Angebots- und Entscheidungsverkündigung
groß gemacht werden, auch wenn das Heil Jesu Christi „ganz
umsonst“ angeboten wird, so liegt doch der entscheidende Akt auf dem Tun
des Menschen, auf dem Akt seines „Entscheidens“, seines
„Annehmens“ und „Konsumierens“, – und alles bleibt
zweifelhaft:

Denn habe ich mich auch genug entschieden –
für Jesus? Habe ich es wirklich angenommen, was er mir anbietet? Habe ich
ausreichend davon bekommen? Und was ist, wenn meine Entscheidungskraft
nachlässt, ich meiner einmal getroffenen Entscheidung nicht mehr so gewiss
bin wie einst? Ist dann das Heil noch bei mir oder habe ich es nicht
längst wieder verloren?

So aber bleiben wir letztlich bei uns selbst. So
irren wir umher –, es gibt ja auch ein überfrommes Umherirren. Und
dann kommt es laufend zu Verwechselungen: etwa zu der, dass wir den
Auferstandenen mit dem Gärtner verwechseln, also mit dem, der die
Gräber pflegt und sie für das Auge schön macht. Der
tränenverhangene Blick, der Blick ins Leere und auf mich selber vermag das
Wunder und die Wahrheit nicht zu sehen. Er verwechselt es mit dem Banalen.
Luther hat den so bei sich selbst bleibenden Menschen den in sich selbst
verkrümmten Menschen genannt [den „homo incurvatus in se
ipsum“].

Dieser in sich selbst verkrümmte Mensch kann
von sich aus nicht gerade stehen. Er kann sich aus seinen Verbiegungen nicht
selber befreien, so wie ein Toter sich nicht selber erwecken kann.

III

Aber wie kann es dann geschehen? In der
Ostererzählung geschieht es für Maria Magdalena so:
„Jesus spricht zu ihr: Maria! Da wendet sie sich um……“ (V. 16).
Das ist das Entscheidende! Das ist die Wendung: Ein Wort – sein
Wort wendet die Situation, sein Wort wendet die Weinende um. Zweimal
wird in dieser Ostergeschichte gesagt, dass Maria sich umwendet: Zuerst wendet
sie sich tränenden Blickes von sich aus um „und sie sieht Jesus
dastehen, sie wusste aber nicht, dass es Jesus war.“ Und dann das zweite
Mal: „Jesus spricht zu ihr: Maria! Da wendet sie sich um …..“.

Wieso wendet sie sich noch einmal um, wo sie doch
schon äußerlich zu ihm hingewendet war? Wendet sie sich nun wieder
ab von ihm? Nein, das erste Umwenden ist ihre eigene Tat. In dieser Tat bleibt
sie noch bei sich selbst. Sie kann auch gar nicht anders, als in dieser
Umwendung bei sich selbst zu bleiben. Denn erst die Umwendung, die Jesus durch
das Aussprechen des Namens verursacht, bringt sie zur Erkenntnis, zum Glauben
an ihn als den Auferstandenen.

Denn kein Geringerer als er selber, der vom Tod
erstandene, der lebendige Jesus muss das entscheidende Wort aussprechen: den
Namen
, unseren Namen. Und das ist die Osterbotschaft: er spricht ihn aus!
„Und da spricht Jesus zu ihr: Maria!“

„Maria“ – das ist ein Name, der
zunächst für diese weinende Frau steht, für Maria aus Magdala;
dann und daraufhin aber, so glaube ich, steht ihr Name für einen jeden
weinenden Menschen. „Maria“ – das ist in dieser Ostergeschichte
der Name einer jeden und eines jeden von uns, der Name jedes in sich selbst
verkrümmten Menschen: auch dein Name, auch meiner. Ausgesprochen von dem,
der den Tod hinter sich gelassen hat, der lebt und der hinfort nicht stirbt.
Hier geschieht, was der Prophet Jesaja als Gottes Wort an Israel bezeugt:
„Fürchte dich nicht. Ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei
deinem Namen gerufen. Du bist mein!“(1)

Vielleicht ist das für uns das Schwerste: zu
begreifen, dass wir von uns aus nichts dazutun, wenn Jesus unseren Namen nennt.
Hier leisten wir gar nichts. Hier entscheiden wir nichts. Hier nehmen wir auch
nichts an. Wie schwer fällt uns das. Wie schwer fällt es uns schon im
täglichen Leben, uns etwas umsonst, wirklich gratis zukommen zu
lassen. Und sei es nur ein Wort. Wie schnell verschließen wir uns, wenn
jemand etwas Gutes mit uns will und keine weitere Absicht damit verbindet. Wie
verlegen kann ich reagieren, wenn mich einer bewusst mit meinem Namen anspricht
und mir sagt: „Ich kann dich leiden, ich ertrage dich, ich mag dich, so
wie du bist; gar: ich liebe dich!“. Sich ja nichts schenken lassen. Das
gilt als Lebensweisheit. Was einem geschenkt wird, kann nichts taugen.
„Was nix kost‘, is‘ nix“, sagt der Volksmund.

Und diese altkluge Weisheit haben wir
verinnerlicht auch im Blick auf den Glauben. Selbst wenn es heißt: „
….. umsonst! Du bekommst es geschenkt!“, folgt die Einschränkung.
„Ja, du bekommst es geschenkt“, heißt es dann:
„aber“ – und wie immer in solchen Sätzen trägt
das „Aber“ den ganzen Ton – „aber du musst es
richtig annehmen; aber es muss ausgepackt werden. Wenn du es nicht
annimmst und auspackst, dann ist alles vergeblich.“ Wieder ist aus dem
Heil eine Ware und aus dem Gläubigen der „religiöse
Konsument“ geworden. In der Ostergeschichte ist es anders – wirklich
anders:

„Jesus spricht zu ihr: Maria! Da wendet sie
sich um ….“. Und in dieser Umwendung kommt Maria zum Glauben: als sie
das hört –, einfach so kommt es bei ihr zum Glauben. Zum Glauben
kommt es, wenn ich das höre, einfach so: indem ich das, was ich gar
nicht verhindern kann, an mir geschehen lasse. Der Glaube ist das
Selbstverständliche:

Da ruft einer meinen Namen und ich wende mich ihm
zu. Wieso ist das selbstverständlich? Haben Sie das schon einmal probiert:
Da ruft einer meinen Namen, auf einem Spaziergang zum Beispiel – in einem Park
oder auf einer Landstraße –, und ich wende mich ihm nicht zu,
ich drehe den Kopf nicht nach dem, der mich ruft? Haben Sie schon einmal
probiert, ob das geht? Das geht gar nicht! Wenn mich einer überraschend
bei meinem Namen ruft, dann wende ich mich um -, selbstverständlich wende
ich mich um. Ich kann doch gar nicht anders. So einfach und so
selbstverständlich ist das:

Er ruft, der auferstandene Jesus Christus
ruft, und ich wende mich um. Und diese Wendung ist der Glaube. Denn in ihr
nehme ich das Ereignis des Heils wahr, indem ich ihn wahrnehme –
den Auferstandenen. Und das ist das Entscheidende: Er ist auferstanden, bevor
ich mich zum ihm hinwende. Nicht meine Umwendung ist Ostern, sondern Ostern
ruft meine Umwendung hervor: Der Namensruf des zuvor auferstandenen Jesus hat
bei Maria Magdalena solche Wahrnehmung hervorgerufen. So schafft der
Auferstandene selbst unseren Glauben an ihn – an ihn höchst
selbst
. Und nun verändert sein Ruf meine Wahrnehmung. Das
heißt: wer von Jesus, dem Auferstandenen, angerufen wird, wird von einem
in sich selbst verkrümmten zu einem aufrechten, auf den Auferstandenen
ausgerichteten Menschen; und das heißt allemal: aus einem trauernden wird
ein fröhlicher Mensch. „Maria!“ – ihr Name, ein einziges
Wort, das sie im Tiefsten anrührt und trifft, verbindet sie neu mit dem
Verlorenen. Und sie erkennt ihn als den Auferstandenen. So entsteht der Glaube.
So ist das mit dem Osterglauben. So werde ich meines Heils gewiss. Es ist keine
Ware, für die ich mich entscheiden und die ich annehmen könnte: Es
ist der Auferstandene selber. Er höchst selbst. Und der Glaube ist
die Beziehung zu ihm, die ermöglicht und eröffnet wird durch seine
Beziehung zu mir. Und so wie es sich schon unsere menschlichen Beziehungen
verbitten, versachlicht, verdinglicht, mit einer Ware verwechselt zu werden, so
auch und erst recht diese Beziehung. Sie lebt, weil der Auferstandene lebt.

IV

Und er hat nicht aufgehört zu rufen. In der
nächsten Geschichte, die Johannes von Ostern erzählt, begegnet der
lebendige Jesus seinen verängstigten Jüngern. Sie werden von ihm
beauftragt: „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch“. Und
„Wer euch hört, der hört mich“, heißt es aus seinem
Mund(2). Und so sind es nach seinem ausdrücklichen Willen Menschen, die
uns seinen Ruf hören lassen. Es sind Menschen, die bezogen auf das
Auferstehungszeugnis der Apostel die Osterbotschaft ausrichten. Da ist die
höchste Ehre der Osterverkündigung der Kirche: dass sie
gewürdigt ist, in ihrem Wort das Wort des Auferstandenen selber zu Wort zu
bringen. Er, der Auferstandene, ist in diesem Wort; er kann rufen und sich
finden lassen im Wort des Freundes, des Fremden, des Nahen, des Fernen:
irgendeines Gliedes in der großen Familie der Gerufenen: Jesus selbst.

Wo er ruft, uns anredet, da merken wir: Mit uns
passiert etwas, die „Wendung“ – es ist die Kraft der
Auferstehung an uns selber, wir entdecken uns als selber Auferstandene –
ungekrümmt, gerade, mit neuen Vorstellungen, aufrecht gehend, mit neuem
Lebensmut, mit neuer Hoffnung. Wir merken, dass uns die Augen geöffnet
sind für die neue Welt, die mit der Auferweckung des Gekreuzigten
angebrochen ist: „das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu
geworden!“ (2. Kor. 5, 17). „Da wendet sie sich um …..“ So
kommt es zu Wende – eine andere „Wende“ – eine sehr andere
„Wende“ als die, die uns ansonsten zu blenden versucht. Ihr zu
folgen, hieße „Realismus“, ein anderer Realismus als der, der
uns ansonsten mit seinen angeblichen Sachzwängen in den Fängen des
Todes zu halten versucht.

Machen wir die alten Fehler nur nicht von neuem:
es nicht wahr sein zu lassen und uns so zurückzuwenden. Machen wir aber
auch nicht den anderen Fehler, der womöglich näher liegt: die neue
Wirklichkeit des Auferstandenen in unsere Verfügung bringen zu wollen,
seiner habhaft werden, ihn dingfest machen, indem wir uns seiner
bemächtigen. Seine Gegenwart ist ein Geschenk. Die Kirche hat es nicht in
ihrer selbstherrlichen Verfügung. Und der Glaube an ihn ist auch Geschenk.
Als äußeres Zeichen mag das leere Grab genügen. Aber dieses
Zeichen macht uns den Auferstandenen nicht zum verfügbaren Besitz. Maria
wollte den Auferstandenen berühren, sich seiner vergewissern, ihn
festhalten. „Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an!“. Anders
als in der Wendung des Glaubens haben wir ihn nicht: „Selig sind, die
nicht sehen und doch glauben“, heißt es bald darauf gegenüber
Thomas, dem ungläubigen. Im Glauben allerdings, der weiß, dass er
sich allein der Gegenwart und dem Namensruf des Auferstandenen verdankt und von
dieser Gegenwart lebt, dürfen wir uns daran freuen: Er selbst, der
Lebendige, zieht sein Geschenk nicht zurück, er erneuert es vielmehr immer
wieder. Und in dieser Erneuerung können wir leben: aufgerichtet und
zuversichtlich – fröhlich und einander zugewandt.

V

Liebe Gemeinde, die Wahrheit des Ostermorgens,
Gottes Wirklichkeit und Sieg über den Tod, die sich in der Auferweckung
des Gekreuzigten durchgesetzt haben, sind in unserer Welt des Todes immer noch
eine geheimnisvolle Wirklichkeit und ein angefochtener Sieg. Und auch das Wort
der Kirche, die Osterbotschaft, erklingt oft matt und angefochten. Aber einmal
wird sich dieser Sieg als die wahre, alles bestimmende Wirklichkeit ganz und
gar durchsetzen – in der Auferweckung aller Toten, in der Räumung
aller Gräber, in der Befreiung aller vom Tod Bezwungenen. Dann wenn der
Auferstandene selbst wiederkommt und sein letztes Wort spricht.

Bis dahin aber lasst uns dem vertrauen und
glauben, der uns dieses Geheimnis erschließt und uns teilhaben lässt
schon jetzt am Trost und an der Wahrheit seiner Auferstehung:

Hörst Du es? Jetzt in dieser
Ostererzählung, die für dich erzählt und verkündigt wird?
Hörst Du es? Er ruft den Namen. „Maria!“ Der auferstandene Herr
ruft ihren Namen – und darin auch deinen Namen. Er ruft und verspricht:
„Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird
leben. Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nie mehr sterben“.

„Da wendet sich Maria um und sagt auf
hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heisst Meister“ – mein Meister!“

Amen.

Nachwort:

Aus zeitlichen Gründen
thematisiere ich in dieser Predigt nicht „das leere Grab“. So kann
möglicherweise der Eindruck entstehen, ich stimmte den Theologen zu, die
„das leere Grab“ im Blick auf den Osterglauben für irrelevant
erklären – etwa dem Betheler Neutestamentler Andreas Lindemann, der
im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (13. 12.
1999) „die Überlieferung vom leeren Grab und seinem Auffinden durch
Frauen und Jünger“ wie selbstverständlich als
„Legende“ kennzeichnet und auf die Frage „War das Grab
denn leer?“
antwortet: „Das weiß ich nicht. Aber selbst
wenn das Grab und Reste des Leichnams Jesu gefunden würden, würde
dies meinen Glauben an die Auferweckung Jesu durch Gott nicht
berühren.“

Ich sehe das dezidiert anders und würde, wenn
die zeitliche Möglichkeit besteht, in der hier vorgelegten Predigt nach
dem Abschnitt I den folgenden zusätzlichen Abschnitt predigen:

Ia

Aus diesem Befund ziehen manche den Schluss, dann sei es ja egal,
ob das Ostergrab leer oder voll gewesen sei. Was mit dem Leichnam Jesu
geschehen sei, sei völlig unerheblich im Blick auf den Osterglauben. Das
sagen derzeit nicht wenige Theologen. Ich möchte dem nachdrücklich
widersprechen:

Man muss im Blick auf das leere Grab einen
besonderen Zusammenhang verstehen, wenn wir das neutestamentliche Osterzeugnis
ernst nehmen wollen: Alle Osterzeugen bezeugen mehr oder weniger stark, dass
das Felsengrab, in das man Jesus gelegt hatte, am Ostermorgen leer war. Auch
der skeptische Historiker kommt bei objektiver Betrachtung der alten Texte und
Überlieferungen zu dem Schluss: Mit größter Wahrscheinlichkeit
war das Grab leer. Aber diese historische Vermutung – Historiker
können angesichts eines so großen zeitlichen Abstandes im Blick auf
die Quellen – immer nur Vermutungen aufstellen – beweist nicht die
Auferstehung Jesu. Denn sie sagt ja nichts aus über den Grund des
leergeräumten Grabes. Und – wie Johannes sagt – hat schon Maria
Magdalena das nüchtern gesehen: ihr Schmerz ist durch das leere Grab nicht
gewendet worden. Für sie war das kein Signal für die Erkenntnis:
„Dann muss er ja auferstanden sein“. Vielmehr vermutet sie, was auch
ein Historiker vermuten muss: Der Leichnam Jesu ist aus dem Grab fortgebracht
worden. Und wie Maria zu den Engeln im Grab muss der Historiker zu uns sagen:
„Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“

Aber warum ist es dann für den Osterglauben
nicht egal, ob das Grab damals voll oder leer gewesen ist. Warum ist es
schlechterdings notwendig und wichtig, dass das Grab leer war, auch wenn dies
noch nichts beweist?

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich eine
Überzeugung vor Augen führen, die damals für Menschen, die an
den Gott Israels glaubten, geradezu selbstverständlich war:

Die Zuversicht auf die Auferweckung der Toten
durch den ewigen Gott am Ende der Zeit gehörte zur Zeit Jesu zum
Grundbestand des jüdischen Glaubens. Dabei ging es immer darum, dass der
Gott Israels sich einmal als der Sieger über den Tod erweise und seine
Gerechtigkeit und Kraft am Ende sich auch sichtbar und hörbar, greifbar
und leiblich durchsetze. „Auferstehung der Toten“ – das ist –
durchaus im politischen Sinne – der im Namen und der Kraft Gottes erfolgende
Aufstand der Getöteten gegen die Sieger der Geschichte, die über
Leichen gegangen sind. Die damalige Auferstehungshoffnung bestritt, dass den
Mördern und Gewalttätern die Zukunft gehört; es ging darum, dass
vielmehr Gott der Schöpfer zum Recht kommt und sich vor aller Augen
durchsetzt. Die Gläubigen von damals hätten sich nie damit
abgefunden, wenn einer zu Tode gemartert und zerschlagen, geschändet und
verblutet ins Grab gelegt worden wäre und man nur von einem seelischen
Weiterleben, einer geistigen Fortexistenz dieses Menschen jenseits aller
Leiblichkeit und jenseits dieser schrecklichen Grabes- und Todeswirklichkeit
gesprochen hätte, wie das etwa in der griechischen Philosophie gang und
gäbe war. Nein, die glühende Hoffnung auf eine Erneuerung der
Leiblichkeit und das Vertrauen in den Gott, der den Menschen mit Leib und Seele
geschaffen hatte und mit Leib und Seele in einer völlig erneuerten
Leiblichkeit retten und auferwecken würde – das machte den
Auferstehungsglauben aus, der in Israel, im Volk Jesu geläufig war –
damals, als er wie ein Verbrecher verurteilt und ans Kreuz geschlagen wurde.

Auf dem Hintergrund dieses Auferstehungsglaubens
wäre es drei Tage nach der Kreuzigung und in den Wochen danach in
Jerusalem unmöglich gewesen, die Behauptung aufzustellen: „Der
gekreuzigte Jesus ist auferstanden!“, wenn nicht zugleich auch das Grab
des Gekreuzigten leer gewesen wäre. Die Behauptung einer Auferstehung von
den Toten im Angesicht eines „vollen Grabes“ wäre für jeden
aus dem Volk Israel der reine Unsinn, ja eine Tollheit gewesen. Das ist
jenseits aller historischen Wahrscheinlichkeit der stärksten Grund
für die Annahme und die Beglaubigung des neutestamentlichen
Osterzeugnisses, das eben notwendig einschließt als Voraussetzung seines
Verstehens und seiner Gültigkeit, dass das Grab des Gekreuzigten leer war.

Aber mit dieser Anerkenntnis haben wir noch keineswegs den
Durchbruch zum Glauben an den Auferstandenen. Die Tatsachen, die wir mit
unseren Augen sehen und mit unserem Verstand wahrnehmen können, helfen
nicht. Das sehen wir am leeren Blick der Maria Magdalena in die Tat-Sache: ins
leere Grab. Tat-Sachen erleichtern das Glauben nicht, nehmen es uns nicht ab.
Bestenfalls können sie helfen, nicht am Nebensächlichen zu
hängen. Aber im Entscheidenden helfen sie nicht: Maria bleibt so leer und
traurig wie zuvor. Sie weint. (Fortsetzung: Abschnitt II)

(1) Jesaja 43, 1

(2) Lukas 10, 16

Autor:
Generalsuperintendent Dr. Rolf Wischnath

Seminarstraße 38
03044 Cottbus
generalsuperintendent.cottbus@t-online.de


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