Johannes 20,19-20.24-29

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Johannes 20,19-20.24-29

Quasimodogeniti | 07.04.2024 | Joh 20,19-20.24-29 | Hansjörg Biener |

„Ich kann nur glauben, was ich sehe.“

„Ich kann nur glauben, was ich sehe.“ Wenn ich diesen Satz höre, denke ich sofort an: Photoshop, Action-Filme, Youtube-Videos und Fake News. Schon Kinder und Jugendliche können am Smartphone Fotos digital nachbearbeiten. Wir Älteren kennen unmögliche Stunts aus Actionfilmen; und das Internet ist sowieso voll von Kunststückchen, die niemand nachmachen kann. Am Ende weiß aber jeder, dass er nicht vorschnell glauben kann, was er sieht. Schlimmer für unsere Gesellschaft sind gefälschte Nachrichtenvideos. Sie zerstören das Vertrauen in Nachrichten. Jedes Video könnte ein sogenanntes Deep Fake sein. Am Ende glaubt jeder nur den Quellen, denen er glauben will. Ergebnis: Die Gesellschaft fällt in viele Parallelwelten auseinander, die sich nicht auf eine gemeinsame Welt einigen können. Glauben, was man sieht: Das kann also auch gefährlich sein.

„Ich kann nur glauben, was ich sehe.“ Wenn ich diesen Satz höre, denke ich sofort an Photoshop, Action-Filme, Youtube-Videos, Fake News usw. Aber als Pfarrer sollte ich nicht überhören, dass hier jemand von „Glauben“ spricht. Wir alle sind so geprägt, dass wir persönlich überzeugt werden wollen. Zum Beispiel, dass das mit dem Glauben an Jesus schon seine Richtigkeit hat. Das fordern zum Beispiel Schüler und Schülerinnen, Präparanden, Präparandinnen, Konfirmanden, Konfirmandinnen. Sie entwachsen in diesen Jahren der Kindheit und nehmen „Gott und die Welt“ eben nicht mehr einfach hin. Sie meinen zudem: Die Naturwissenschaften erklären so viel so viel besser.

Predigttext

Schon der ersten Christenheit waren Zweifel an der Auferstehung Jesu nicht fremd. Hören wir dazu den heutigen Predigttext. Er ist aus dem Johannesevangelium und unter dem Namen „Der ungläubige Thomas“ bekannt geworden.

19 Es war Abend geworden an diesem ersten Wochentag nach dem Sabbat. Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen. […] Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

20 Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Die Jünger freuten sich sehr, als sie den Herrn sahen.

[…]

24 Thomas, der auch Didymus genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf. Er war nicht bei ihnen gewesen, als Jesus gekommen war.

25 Die anderen Jünger berichteten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!« Er entgegnete ihnen: »Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst kann ich das nicht glauben!«

26 Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander. Diesmal war Thomas bei ihnen. Wieder waren die Türen verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

27 Dann sagte er zu Thomas: »Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an. Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!«

28 Thomas antwortete: »Mein Herr und mein Gott!«

29 Da sagte Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!«

(Joh. 20,19-20.24-29 BasisBibel)

Eine der Erscheinungsgeschichten: Jesu Jünger sind versammelt in der Erinnerung. Die Türen sind verschlossen, aus Furcht vor möglicher Nachstellung. Dann aber ändert eine Erscheinung Jesu alles. Stillstand weicht der Bewegung: Die Herzen werden geöffnet. Freude, neuer Lebensmut und neues Gottvertrauen ziehen ein. Die Jünger wurden wieder froh. Außer einem. Thomas kann diese Freude nicht teilen. Er war bei der Ostererfahrung der anderen Jünger nicht dabei.

Nah dran und doch nicht mittendrin

Thomas war, wie man heute sagt, ein Zeitzeuge. Er gehörte zu den Jüngern Jesu, aber ein entscheidendes Ereignis hat er verpasst. Den Herrn haben sie gesehen, er nicht. Und was mag das wohl für ein Sehen gewesen sein: eine gemeinsame Halluzination? Thomas kann seinen Glauben nicht so einfach auf das Auferstehungszeugnis der anderen bauen. So kommt es zu der berühmten Aussage, die Thomas zum Schutzpatron aller Zweifler macht:

»Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst kann ich das nicht glauben!« (Joh. 20,25)

Nicht allein „sehen“, es könnte ja eine Masseneinbildung gewesen sein. Thomas will „mit seinem Finger fühlen“ und tasten, um sich persönlich zu überzeugen. Er will nicht schlechter dastehen als die anderen. Er will nicht übernehmen, sondern seine eigene Erfahrung mit Jesus machen.

Das Johannesevangelium erzählt, wie Jesus nach acht Tagen wieder erscheint. Von den acht Tagen dazwischen erzählt es nichts. Ich frage mich: Was werden das für acht Tage gewesen sein? Für Thomas und für die anderen Jünger. »Warum glaubt er uns denn nicht?«, so werden die Jünger gefragt haben, und so fragt auch mancher, der heute anderen Menschen sein Zeugnis vom Glauben gibt. Und auf der anderen Seite muss auch Thomas einiges aushalten: Die anscheinende Gewissheit der anderen Jünger und die eigene Ungewissheit. Und da ist nicht nur eigener Zweifel, den man mit übersteigerten Ansprüchen erklären könnte. Wir sollten die andere Frage niemals überhören. Wenn man in so einer Thomas-Situation ist, muss man sich doch fragen: »Hat Jesus mich übersehen?« – Es ist schon ein Wunder eigener Art, dass beide Seiten beieinanderbleiben. Die gläubige Jüngerschaft sondert den ungläubigen Thomas nicht aus, und der zweifelnde Thomas trennt sich auch nicht von selbst von den anderen.

Das ist vorbildhaft für die Gemeinde, die nie nur aus der Gemeinde der entschieden Überzeugten bestehen wird. Darum ist es gut, wenn wir in der Volkskirche verschiedene Grade von Überzeugtsein stehen lassen. Und es ist gut, wenn Menschen in der Kirche bleiben, die manches am Glauben nicht so entschieden teilen können wie andere.

Eine nachgeholte Auferstehungserfahrung

Das Johannes-Evangelium erzählt, dass auch Thomas seine Auferstehungserfahrung machen darf. Noch einmal wiederholen sich die Ereignisse.

»Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander. Diesmal war Thomas bei ihnen. Wieder waren die Türen verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: ‚Friede sei mit euch!’« (Joh. 20,26)

So weit also wie gehabt und dann doch nicht ganz. So kann man auch für heute sagen: Glaubenserfahrungen mit Jesus sind miteinander verwandt, und doch macht sie jeder Christ, jede Christin auf eigene Weise.

»Dann sagte er zu Thomas: ‚Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an. Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!’« (Joh. 20,27)

So bekommt Thomas sein persönliches Auferstehungszeugnis. So wie er es sich gewünscht hat. Es wird nicht erzählt, dass Thomas seine Finger in die Wunden legt. Wichtiger ist die Bereitschaft, sich auch überzeugen zu lassen:

»Thomas antwortete: ‚Mein Herr und mein Gott!‘« (Joh. 20,28)

»Sich überzeugen lassen«, das ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Es ist auch eine Unterwerfung. Es ist ein Glaube, der sich ganz auf den Auferstandenen einlässt.

Die Thomas-Geschichte erzählt davon, dass es acht Tage dauerte, bis Thomas den Schritt von seinem Zweifel zu seinem Glauben gemacht hat. Das mag uns nachsichtiger mit Zweifelzeiten bei uns und anderen machen. Acht Zweifeltage, oder acht Zweifelmonate oder -jahre, es ist wichtig, dass jeder seinen eigenen Glauben an Jesus finden kann. Die Auferstehungsgeschichte endet mit einem leisen Rüffel für Thomas und einer Seligpreisung für uns.

»Da sagte Jesus zu ihm: ‚Du glaubst, weil du mich gesehen hast.

Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!‘« (Joh. 20,29)

Das ist ein großes Wort für alle, die ihre Ostererfahrung nicht mit acht Tagen Verspätung machen würden wie Thomas seinerzeit. Uns trennen Jahrhunderte von den damaligen Ereignissen. Darum muss an dieser Stelle endgültig von uns und für uns gesprochen werden.

Vom Sehen, Wissen und Glauben

Gewiss werden Sie sich schon über die Grafiken und Texte auf dem heutigen Abkündzettel gewundert haben. Nun soll die Auflösung kommen. Vor einigen Wochen habe ich gesehen, dass der Wikipedia-Artikel über Optische Täuschung (https://de.wikipedia.org/wiki/Optische_T%C3%A4uschung) überarbeitet worden ist. Er ist jedenfalls viel besser als in meiner Erinnerung. Hier kann man einiges sehen und über die Art unseres Sehvorgangs lernen. Mich selber interessiert jetzt aber mehr das Ineinander von Sehen und Wissen. Wir brauchen nur die Seite mit den Aufgaben. Die Lösungen auf der Rückseite sollen Ihnen als Erinnerungen dienen, wenn Sie die Gedanken von heute für sich und andere noch einmal nachvollziehen wollen.

Betrachten wir die erste Grafik [https://de.wikipedia.org/wiki/Kaninchen-Ente-Illusion] und ihre Aufgabe. Was sehen Sie? Freundlicherweise ist das gleich dazugeschrieben. Nie jedoch kann man beides gleichzeitig sehen. Wir sehen dasselbe Bild und sehen doch nur das, worauf man sich jeweils konzentriert. Eine Studie belegt, dass für das „Erleben des Kippbildwechsels“ Vorwissen nötig ist. Weniger als jeder zehnte Erwachsene erlebte den Umsprung nicht. Anders bei Vier/Fünfjährigen: Hier bemerkten mehr als neun von zehn den Umsprung nicht. Erst nach entsprechenden Hinweisen gelang es einigen Kindern, die Doppeldeutigkeit der Kippfiguren zu entdecken, und selbst dazu benötigten sie viel Zeit. (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Kaninchen-Ente-Illusion) Dass man ins Sehen etwas hineinwissen muss, bevor man die Erfahrung machen kann. Diese wissenschaftliche Erkenntnis fand ich spannend. Offensichtlich ist es ja beim Glauben auch so: Erst muss man etwas „wissen“, bevor man etwas anwenden und „erfahren“ kann.

Kommen wir zur zweiten Grafik und ihrer Aufgabe. Sie sehen 3×3 Punkte, die sich zu einem Quadrat zusammenfügen. »Verbinden Sie die Punkte mit vier Strichen!« Auch hier funktioniert die Sache nicht auf Anhieb, sondern nur mit Geduld und Geistesanstrengung. Versuchspersonen brauchen oft sehr lange, bis sie zu einer Lösung des Problems gelangen. So versuchen sie oft, beim Zeichnen der Striche nicht das Quadrat zu verlassen. Erst wenn diese Einschränkung aufgegeben wird, ist eine Lösung des Problems möglich.

Wenn man aber über den Horizont hinausgeht, dann geht es auch mit vier Strichen. Das Neun-Punkte-Problem ist ein gutes Beispiel für das Über-den-Tellerrand-schauen, das beim Problemlösen eine wichtige Rolle spielt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Neun-Punkte-Problem) Sagt die Wikipedia für das Rätsel. Sage ich jetzt auch für den Glauben. Manchmal muss man über das hinausgehen, was man bisher denken konnte. Ähnlich geht auch der Glaube über unseren Alltagshorizont hinaus. In ihm ist ja von einem Auferstandenen die Rede, und Auferstehung ist nun gewiss kein Ereignis, dass an jeder Straßenecke vorkommt.

Die letzte Aufgabe: »Zeichnen Sie ein Quadrat mit drei Strichen!« Das ist eine Aufgabe, die mir vor Jahrzehnten Präparanden vorgelegt haben. Und natürlich freuten sie sich, als ich scheiterte. Die Auflösung ist ebenso simpel wie ärgerlich. Solange man auf das Quadrat konzentriert ist, funktioniert die Sache nicht. Ein Quadrat hat nun einmal vier Seiten, und vier Seiten bedeuten: vier Striche.

Wenn man den Auftrag allerdings wörtlich ausführt, funktioniert’s. Dann zeichnet man ein Quadrat und macht ins Quadrat drei Striche. Manchmal ist es auch mit dem Glauben so. Es ist dann wichtig, sich von bisherigen Ideen zu lösen und ganz schlicht an Gott persönlich zu wenden. „Wenn es etwas mit dem Glauben auf sich hat, dann hilf mir, das zu erleben.“

Amen.

Dr. Hansjörg Biener (*1961) ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und als Religionslehrer an der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg tätig. Außerdem ist er außerplanmäßiger Professor für Religionspädagogik und Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. (Hansjoerg.Biener (at) fau.de)

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