Johannes 20,19.20.24-29

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Johannes 20,19.20.24-29

Gesundes Selbstmisstrauen | Quasimodogeniti | 07.04.2024 | Joh 20,19.20.24-29 | Johannes Modeß |

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt

Vor einigen Jahren berichtete die Satire-Zeitschrift Postillon von einer spannenden selbst ausgedachten Studie. Diese habe einen Satz auf die Probe gestellt, der allabendlich bei Sportveranstaltungen durch die Wohnzimmer der Nation hallt:

„Mann! Den hätte ja sogar meine Oma ganz locker reingemacht!“ – zu dieser gewagten Behauptung lassen sich leidenschaftliche Fans vor dem TV-Bildschirm immer wieder hinreißen, wenn ein Spieler das Tor verfehlt. Nun zeigten Wissenschaftler der Sporthochschule in Köln in einer Studie, dass die allermeisten Großmütter zu derartigen fußballerischen Leistungen überhaupt nicht in der Lage sind.

„Offenbar werden Großmütter hinsichtlich ihrer motorischen Fähigkeiten meist von ihren Enkeln überschätzt“, so Sportwissenschaftler Heiko Kemmerich. „In der Regel sind sie nicht in der Lage, internationale Top-Torwarte auszutricksen.“

Eine Enttäuschung dürfte diese fiktive Studie für viele sein. Auch für Thomas, den Protagonisten unseres heutigen Predigttextes. Ich nehme nämlich an, dass Thomas heute diesen Satz genüsslich sagen würde, wenn die Stürmerin am Fernsehbildschirm das leere Tor verfehlt: Den hätte ja sogar meine Oma ganz locker reingemacht.

Und den Tag vor dem Fernsehabend, den würde er wahrscheinlich so verbringen:

Frühstück mit Zeitung. Ein Bericht über das Artensterben in den Anden, von der Lateinamerika-Korrespondentin sauber recherchiert. Ob das wirklich so stimmt? denkt sich Thomas. Ein letzter Schluck vom Espresso, dann ab in die Arbeit. 

Aber soll er überhaupt gehen? Seine Mutter, die er vor drei Tagen besucht hat, hat Corona. Naja, denkt Thomas, ich weiß schon selber, wenn ich krank bin.

Team-Meeting. Wer macht die Präsentation bis Donnerstag? Thomas meldet sich schnell. Er hat Angst, dass der Kollege die wichtige Präsentation versemmelt und den Kunden damit verprellt. Seiner Frau wird er am frühen Abend, noch vor dem Fußballspiel im Fernsehen, klagen: Ich muss mich da jetzt noch mal dransetzen – wenn man nicht alles selber macht…

Doch davor noch Mittagspause im Stammlokal. Die Kellner kennen ihn schon. Er ist der, der immer nachfragt: Das Risotto ist eh auch mit Weißwein gekocht, so wie er es immer macht und wie es gehört? Wurden auch die guten Chilis für das Chili con carne verwendet, die er auch immer nimmt?

Ach, Thomas…

II

Ach Thomas, das dachte sich auch Jesus, der Auferstandene. Einige nachösterliche Strapazen hatte er da schon hinter sich. Zuerst musste er noch Maria Magdalena beweisen, dass er nicht der Gärtner ist, sondern Jesus. Dann gesellt er sich zu den Jüngern mit einem herzlichen Friede sei mit dir, aber Thomas ist nicht da. Hören wir, wie es weitergeht – der Predigttext steht bei Johannes im 20. Kapitel:

19Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! 20Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben. 26Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! 27Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!

III

Ach Thomas…! Dieses Ach hat man über die Jahrhunderte ganz unterschiedlich gefüllt. Gerade für eine lutherische Theologie ist dieser Thomas eine Reizfigur. Aber so mancher Vorwurf, so manches Ach, Thomas ist auch nicht ganz fair.

Welchen Vorwurf an Thomas wir für berechtigt halten und welchen nicht, das zeigen wir schon dadurch an, wie wir den vorletzten Satz Jesu lesen. Man könnte ihn so lesen: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du?

Dann würde man anhand der Reizfigur Thomas die menschlichen Sinne gegeneinander ausspielen und hat das auch getan. Man kann sich daran stören, dass diesem Thomas das Hören nicht reicht, sondern er unbedingt sehen und fühlen will. 

Unweigerlich muss ich bei dieser Thomas-Kritik an meine Mitreisenden von vor ein paar Jahren denken: Mitten in Südafrika. Unsere Tour ist bald zu Ende. Unsere Tour, das heißt: Drei Tage zu Fuß durch den Busch. Hluhluwe Imfolozi National Park. Ein bewaffneter Tourguide namens Rick vor uns und eine Bewaffnete hinter uns, zum Schutz vor Löwen, Elefanten und Hyänen. In unseren Köpfen eine innere Liste mit Tieren, die wir unbedingt sehen wollen: Eine Liste zum Abhaken. Ganz oben stehen die sogenannten Big Five: Löwen, Nashörner, Elefanten, Leoparden und Büffel. Elefanten und Nashörner fehlen noch am Abend vor unserer Abreise. Wir liegen im Zelt und spüren ein leichtes Beben im Boden. Wir hören, wie der Tourguide sein Zelt verlässt und uns aufgeregt beruhigt. Wir schauen aus dem Zelt und sehen: einen Elefanten. Direkt vor uns, vielleicht zehn Meter entfernt. Die Angst kommt erst, nachdem wir auf unserer inneren Liste „Elefant“ abgehakt haben. Und dann bringt Rick auch schon alles unter Kontrolle und der Elefant zieht seines Weges.

Am nächsten Tag fehlt nur noch das Nashorn. Hoffentlich haben wir am Rückweg zu unseren Autos noch die Chance, eines zu sehen. Nach etwa einer Stunde gehen wir neben Sträuchern entlang, die höher sind als unsere Köpfe. Auf einmal hören wir die Geräusche von schnell laufenden Tieren. Rick steckt seinen Kopf ins Gebüsch. „Das waren Nashörner“ sagt er. Er hat nur noch ihre Rückseite sehen können und wir nicht mal das. Dabei bleibt es. Nashörner haben wir also nicht gesehen. Nur gehört. Aber das reicht wohl nicht, um sie auf unserer inneren Liste abzuhaken. 

Damals habe ich mich zum ersten Mal so richtig geärgert über unsere visuelle Kultur. Gerade wir Lutheraner sollten doch darauf pochen: Der Glaube kommt aus dem Hören. Warum ist dann in der touristischen Logik ein gehörtes Tier völlig uninteressant gegenüber einem gesehenen? Dagegen müssen wir doch opponieren…

Und dann müssten wir doch unser Ach, Thomas auch so füllen: Ach Thomas, warum vertraust du nicht dem, was du von deinen Freunden hörst? Warum traust du deinem Seh-und Fühl-Sinn mehr als deinem Hör-Sinn? Warum glaubst du nur, wenn du siehst?

Diesen Vorwurf aber, den will ich Thomas nicht machen. Denn einerseits wissen wir ja mittlerweile, dass es einfach verschiedene Arten gibt, sich die Welt anzueignen. Es gibt visuelle, auditive, haptische, kommunikative Typen. Jeder lernt anders und so glaubt auch jede anders. Wenn es darum geht, dann müssen wir uns eher an die eigene lutherische Nase fassen, warum wir unser Programm so eindeutig an auditive Typen richten und warum es bei uns so wenig zu sehen, riechen, fühlen gibt…

Und diesen Vorwurf können wir Thomas auch deshalb nicht machen, weil er bei genauer Lektüre keinen Anhalt am Text hat. Denn gesehen haben ja die anderen Jünger auch. Jesus hat ihnen die Wunden unaufgefordert gezeigt. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.

Das Sehen an sich eignet sich also kaum, um unser Ach, Thomas inhaltlich zu füllen.

IV

Daher halte ich einen anderen Vorwurf an Thomas für deutlich angemessener. Ich glaube, Jesus hat den Satz so gesagt: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du?

Warum, fragt Jesus, warum traust du deinem Blick, deiner Haut, warum traust du dir mehr über den Weg als dem Zeugnis deiner Freunde? 

Der Thomas aus unserem Text, der ist so ein Thomas, wie ich ihn anfangs beschrieben habe. Er kann den anderen Jüngern nicht trauen, weil er seinen eigenen Sinnen mehr traut als ihnen. Und der wäre heute einer, der Sätze sagt wie Wenn man nicht alles selber machtDen hätte ja sogar meine Oma reingemacht; Ob das wirklich so schlimm ist mit dem Artensterben, will ich mir erstmal selbst anschauen. Ich weiß schon selber, ob ich krank bin…

V

Was Thomas fehlt, ist eine Eigenschaft, die Vertrauen erst möglich macht. Was Thomas fehlt, ist gesundes Selbstmisstrauen

Gesundes Selbstmisstrauen – das klingt erstmal gar nicht freudig-nachösterlich. Und doch bin ich überzeugt, dass die Werbung für ein gesundes Selbstmisstrauen einerseits etwas sehr Lutherisches ist und andererseits etwas, das wir als Gesellschaft dringend brauchen.

Was Thomas nämlich vorzuwerfen ist, ist, dass er durch seinen Wunsch den Charakter des Glaubens ändert. Im Falle des Glaubens gilt nämlich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist schlechter, Vertrauen ist am besten. Ein lutherisches Verständnis von Glauben aber macht den Aspekt des Vertrauens ganz stark. Und zum Vertrauen gehört ein gesundes Selbstmisstrauen dazu. Weil das Vertrauen auf Gott bedeutet, dass mir biblische Texte etwas mitgeben an Trost und Ansporn, das ich mir selbst nie sagen könnte. Und dass mich ein Anderer rettet, retten muss, weil ich mich nicht an den eigenen Haaren aus dem Dreck ziehen kann. In diesem Sinne gehört ein gesundes Selbstmisstrauen zur DNA des Glaubens.

Und wenn wir Glauben so verstehen, dann haben wir etwas zu sagen. Wir haben etwas zu sagen in Zeiten der multiplen Vertrauenskrisen. In Österreich vertrauen etwa nur noch 41% der 16-26jährigen dem Parlament. Seriöse Journalist*innen werden zusehends verfolgt oder gar nicht mehr ernst genommen. 38 % der Menschen in Österreich vertrauen eher dem Hausverstand als wissenschaftlichen Studien. Daran sehen wir, dass ein gesundes Selbstmisstrauen auch gesellschaftspolitisch dringend notwendig ist.

Wir müssen Jesu Frage an Thomas hineinschleudern in die Kontexte, in denen Vertrauen schwindet. Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? 

Weil du auch ein Kind hast, glaubst du, du weißt es besser als Pädagog*innen? Weil deine Oma mit dir verwandt ist, glaubst du, sie ist besser als professionelle Fußballerinnen? Weil du deinen Körper zu kennen glaubst, hältst du dein Gefühl für überlegen gegenüber medizinisch erforschten Corona-Tests?

Jesus übt mit seiner Frage an Thomas mit ihm und uns ein gesundes Selbstmisstrauen ein. Nicht, um ihn zu ärgern, sondern weil unsere Welt ohne Vertrauen zugrunde geht. Und weil das Vertrauen auf andere und auf Gott dort entsteht, wo wir unsere eigenen Grenzen kennen.

Gehen wir also in diese Woche und üben mit Thomas ein fröhlich-nachösterliches gesundes Selbstmisstrauen ein. Ich weiß auch schon, wie! Ich werde aus der Umkleidekabine im Bekleidungsgeschäft ein Bild an meine Frau schicken, bevor ich wieder einen Pullover kaufe, der mir gar nicht passt. Ich werde jemand anderen bitten, die teuren Porzellanteller zum Tisch zu bringen und sie nicht wieder fallenlassen. Ich werde den Schlüssel des gemeinsamen Ferienhauses nicht in meiner Tasche deponieren, weil ich ihn dann im entscheidenden Moment wieder nicht finde. So befreiend kann gesundes Selbstmisstrauen sein, das von der Gewissheit getragen ist: Andere können manches einfach besser. Und was machst du, um dein Selbstmisstrauen zu stärken? 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Johannes Modeß

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