Johannes 3,1-9

Johannes 3,1-9

Semestereröffnungsgottesdienst | Predigt im Evensong | 22.02.2023 | Joh 3,1-9 | Simon Peng-Keller |

Für einen Semestereröffungsgottesdienst scheint es keinen ungeeigneteren Text zu geben als jenes Evangelium, das wir soeben gehört haben. Wir stehen am Beginn einer Periode intensiven Lehren und Lernens, des klaren Reflektierens und schlüssigen Argumentierens. Doch dazu bietet uns dieser Text wenig Ermutigung: ganz im Gegenteil.

Der Weg, den es beschreibt, ist nicht jener vom Nichtwissen zum Wissen, sondern gerade umgekehrt: Nikodemus wird als Wissender eingeführt. Doch gerät er im Laufe des Gesprächs immer mehr in die Position des Fragenden und des Nichtwissens.

Natürlich ist Wissenserwerb auch in der Theologie immer dialektisch: Bei jedem Wissenszuwachs realisieren wir, was wir alles noch nicht wissen; alles was geklärt ist, macht auch all jenes klar, was noch fraglich und unbestimmt ist.

Doch geht es in dieser Erzählung offenkundig gerade nicht um die Maulwurfarbeit akademischen Nachdenkens und Forschens. Worum geht es dann?

Um diese Erzählung nachvollziehen zu können, müssen wir uns selbst aus der Position der Wissenden in die Nacht des Nichtwissens begeben, in der dieses Gespräch stattfindet. Und gleichzeitig müssen wir die Sonderstellung beachten, die Nikodemus im JohEv geniesst.

Er gehört zusammen mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen und dem Blindgeborenen zu den dynamischen Identifikationsfiguren, die nicht dem engeren Jünger:innenkreis zuzurechnen sind, denen Johannes dennoch viel Raum gibt.

Unter diesen Gestalten hat Nikodemus insofern eine Sonderstellung, als er zum einen nicht nur einmal, sondern gleich dreimal auftaucht: am Anfang, in der Mitte und am Ende des Evangeliums. Johannes beschreibt damit einen Entwicklungsbogen, den wir berücksichtigen müssen, wenn wir dieses Evangelium verstehen wollen. Zum anderen steht Nikodemus am Ende nicht nur auf der Schwelle zum engeren Kreis der Jesusanhänger, sondern handelt sogar stellvertretend für die abwesenden Jünger und Angehörigen.

Wir hören von einer Begegnung, die in der Dunkelheit stattfindet. Die Gesichter derer, die da miteinander sprechen, sind verschattet, sie sind nur ansatzweise erkennbar. Das hat, wie alles in diesem Evangelium, mehrere Bedeutungsschichten. Es scheint sich um ein Gespräch unter vier Augen zu handeln, um eine intime Angelegenheit also. Das fokussiert die Aufmerksamkeit, gibt den Worten einen grösseren Resonanzraum. Was das Evangelium hier beschreibt, ist, so meine ich, eine Gebetssituation.

Welches Anliegen führt Nikodemus in diese Situation hinein? Der Text verrät uns nichts über seine Motive. Dennoch lässt uns das Johannesevangelium nicht ganz im Dunkeln. Liest man es vor dem Hintergrund der anderen Evangelien, so erinnert Nikodemus an den reichen Jüngling, der mit der Frage nach dem Reich Gottes zu Jesus kommt.

Jesus antwortet Nikodemus so, als hätte er ihm dieselbe Frage gestellt. Wie finde ich in die Nähe Gottes, in Gottes Gegenwart? Eine aktuelle Frage.

Wenn man in dieser Begegnung eine paradigmatische Gebetssituation sieht, so könnte man sagen, Jesus leitet ihn dazu an, das diskursive Nachdenken zu überstiegen, um ganz Auge und Ohr sein zu können, um in eine ungeteilte und unverstellte Wahrnehmung zu finden.

Wie wir gesehen haben, kommt Nikodemus als Wissender zu Jesus. «Wir wissen…» sind seine ersten Worte. Es ist ein kollektives Wissen, das er zur Sprache bringt. Also genau das, worin wir uns im Gemeinschaftsunternehmen Theologie bemühen. Alles, was Nikodemus über Jesus sagt, trifft zu. Jesus korrigiert nicht sein Wissen, sondern wechselt die Ebene.

Das Wissen, das sich Nikodemus erworben hat, bildet den Ausgangspunkt, nicht mehr, doch auch nicht weniger. Jesus weist über diesen Anfang hinaus. Er führt dazu den Gedankengang von Nikodemus nicht weiter, sondern unterbricht ihn. Er nimmt ihn bei der Hand und führt in die Dunkelheit des Nichtwissens, aus der das Wort neu geboren wird.

Denn darum geht es ja, um Neugeburt. In der johanneischen Erzählung von Nikodemus klingt nicht nur die Geschichte des reichen Jünglings an, sondern eine noch prominentere Stelle des Lukasevangeliums: die Begegnung Marias mit dem Engel Gabriel.

Hier wie dort geht es um Geburtsvorbereitung, um die Ankündigung einer wundersamen Geburt. Und wie Maria fragt Nikodemus: «Wie soll das geschehen?»

Maria findet schliesslich in ein Ja zu dem, was ihr verheissen wird. Wie steht es aber um Nikodemus? Lässt er sich auf den Geburtsprozess ein?

Auch hier lässt der Evangelist uns im Dunkel, mutet uns ein unbequemes Nichtwissen zu. Wir wissen nicht, wie die Geschichte endet, obwohl dies für ihr Verständnis entscheidend. Es macht einen Unterschied, ob Nikodemus verwirrt in die Dunkelheit der Nacht hinaus geht oder ob das Gespräch sich in die Länge zieht und erst dann endet, wenn es draussen und drinnen dämmert und schliesslich die Sonne des neuen Morgens aufgeht.

Mit den Mitteln des Erzählers führt uns der Evangelist vom Wissen zum Nichtwissen. Er führt zu einer Christuserkenntnis, die das Moment einer via negativa umfasst, eine Läuterung all unserer Gewissheiten durch ihren Entzug. Dadurch führt er uns der bei aller Weite engen Welt unseres diskursiven Wissens in eine Begegnungssituation, in der wir nichts mehr fassen und erfassen können, in eine Leere, die uns für die Fülle öffnet.

Wenn wir bereit sind, diesen Weg zu gehen und dieses Nichtwissen auszuhalten, werden wir am Ende des Evangeliums belohnt. Die Nikodemus-Geschichte endet nicht in der Nacht, nicht in der Verdunkelung, sondern in einem Akt starker Solidarität und in der Vorahnung des anbrechenden Lichtes.

Sie endet am Anfang einer neuen Geburt: mit der Unmenge an kostbarem Öl, die Nikodemus herbeischleppt und mit der er den Leichnam Jesu umhüllt – 100 Pfund Myrre und Aloe, das sind etwa 40kg – stellen wir uns das einmal vor, er hat wohl den ganzen Basar in Jerusalem leergekauft!

Nikodemus findet aus dem Nichtwissen in eine starke, wenn auch unfassbare Präsenz. Seine Geschichte endet nicht mit Leichengeruch, sondern mit einer Duftexplosion, in der sich der Ostermorgen ankündigt.


Prof. Dr. Simon Peng-KellerUniversität ZürichProfessur für Spiritual CareKirchgasse 9 8001 ZürichTel. ++41 44 634 54 00

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