Johannes 5, 1-9

Johannes 5, 1-9

Der Teich und die Hoffnung für Hoffnungslose | 18. Sonntag nach Trinitatis | 03.10.2021 | Johannes 5, 1-9 | verfasst von Berthold W. Haerter |

Liebe Gemeinde

  1. Der Teich der Hoffnungslosen

Es ist „in“, wenn man ein Stück Garten hat, sich einen Teich anzulegen, möglichst naturnah, mit Pflanzen wie See- oder Teichrosen, Lilien, Binsen usw.

Dazu eventuell noch ein paar Goldfische oder Rotfedern.

Gerade wenn man einen Zu- und Ablauf hat, dann werden Libellen und Wasserläufer nicht lange auch sich warten lassen.
Auch die Nachbarschaft wird sich auch bald an dem Quaken der Frösche, die ganz von selbst kommen, „erfreuen können“.

Aber eine Idylle ist ein Teich nicht.
Es ist ein Fressen und Gefressen werden.
Er zeigt uns eigentlich ein Stück Weltpolitik und Weltwirtschaft, wenn wir genau hinschauen.

Aber zunächst ist ein Teich etwas Schönes, selbst wenn es ein Dorf-, Mühlen- oder Feuerlöschteich ist, meist von Grün umgeben, beliebt beim Federvieh – so kenne ich es auch meiner Kindheit.

Um einen Teich, eigentlich einem Teich mit zwei Becken, geht es in der gehörten Geschichte aus der Bibel.

Die zwei Becken des Teiches sind von vier offenen Säulenhallen umgeben.
Die 5. Halle steht auf dem Wall zwischen den beiden Becken.

Ist es eine Quelle die sich von Zeit zu Zeit unregelmässig in den einen Teich ergiesst?

Die Menschen sagen, ein Engel, ein Gottesbote wühle ab und zu das Wasser auf.

Und wer als erster dann in den einen Teich eintaucht, der wird gesund.
Das Recht des Stärkeren gilt auch hier, leider, wie so oft.

Die Hallen waren wohl gebaut worden, damit die vielen Kranken, die sich um diese Teiche gesammelt hatten, nicht immer in der prallen Sonne sich aufhalten müssen.
Wie „gnädig“, doch die Gesellschaft manchmal ist, indem sie das Siechendasein mit einem Dach über dem Kopf versieht.

Es müssen Massen gewesen sein, die man da abgeschottet von den übrigen Stadtbewohnern, „ver- oder entsorgt“ hatte.

Wie hoffnungslos die Lage gewesen sein muss, wird uns deutlich gemacht, wenn da ein offensichtlich stark gehbehinderter Mensch schon 38 Jahre war, ohne jemals die Chance gehabt zu haben, rechtzeitig das heilende, bewegte Wasser erreichen zu können.

Hoffnungslos ist diese Situation.

Ja, hier leben die Hoffnungslosesten der Hoffnungslosen, wenn es eine solche Steigerung gäbe.

Wenn ich das so beschreibe, dann fange ich an darüber nachzudenken, wer in unserer Gesellschaft zu den Hoffnungslosen zählt, zu denjenigen, die man gerne von der Gesellschaft absondert.

Befinden Sie sich in Pflegeheimen?

Sind sie in Asylzentren oder Behindertenheimen?

Sind es diejenigen, deren Asylantrag oft nach Jahren abgelehnt wurde, und die nun angstvoll auf ihre Ausschaffung warten?
Sind es Sans Papier?

Sind es diejenigen, die auf der Strasse leben?

Die Medien  haben diese Woche von einem wehrlosen Obdachlosen in Zürich berichtet, der wahrscheinlich von einem Jugendlichen in der Nacht umgebracht wurde.

Wer sind bei uns diese Hoffnungslosen, die eigentlich nur noch auf ein Wunder warten können, damit Ihr Leben wieder einen Sinn bekommt?

Wer nicht dazu gehört, sind die Sterbenden, diejenigen, die erahnen oder sehen, dass Ihr Leben hier zu Ende geht.

Als Christen haben wir, trotz aller persönlicher Zweifel, eine Hoffnung, eigentlich eine gut begründet Hoffnung.

Wir glauben an die Auferstehung, an ein Sein danach bei Gott.

Und so abwegig ist das nicht, weil wir um Jesus Christus wissen.

Jesus lebte, starb und wurde auferweckt.

Menschen berichten davon, unabhängig und doch sehr ähnlich.

Durch diese Berichte von Jesus dürfen wir – trotz aller Zweifel – diese Hoffnung immer wieder in uns aufbauen, uns von dieser als Glaubende tragen lassen.

  1. Jesus

Jesus kommt zu einem Fest nach Jerusalem hinein.

Wie ein ungehorsamer Tourist, der nicht mit der Gruppe hinter dem Regenschirm der Führerin hinterher eilt, weicht er von der Touri – Route ab und landet am Teich, am Teich Bethesda.

Zu Deutsch heisst Bethesda übrigens „Haus der Gnade“.

Jesus trifft auf grosses Elend, wohl vergleichbar mit der offenen Drogenszene am Letten, wie wir es vor 30 Jahren in Zürich erlebten.

Wir fuhren damals schnellsten durch diese Menschen hindurch, verbunden mit einer gewissen Angst, dass man uns bedrohen könnte.

Wir haben diesen Veloweg in die Stadt dann gemieden.

Jesus geht mitten hinein in das Elend.
Er macht das, was das Wichtigste ist wenn einem soviel Elend begegnet.

Er hält keine Predigt, sondern er spricht jemanden an.

Er gibt dem Menschen damit Wertschätzung.
Er macht ihn zu einer Persönlichkeit.

Es ist so, als wenn sie einen Menschen, der im Bahnhofsladen jeden Tag sich seinen Alkohol holt und dann verschämt auf dem Bänkchen bei der Bushaltestelle sitzt, wenn sie diesen Menschen ansprechen bzw. zumindest grüssen.

Sie machen ihn so zu einer Persönlichkeit.

Oder Menschen handeln wie Jesus es hier  tat,  wenn sie intensiv und oft im Stillen Geflüchteten helfen, mit ihnen Deutsch 1:1 üben oder Mathe oder Computerschreiben, sich für sie einsetzen usw.

Oder wenn sie als Besuchende, in stiller Treue sich um jemanden im Seniorenheim kümmern, für jemand kochen, servieren, Überlegungen anstellen, wie man anderen helfen kann.

Was hier geschieht kommt nicht auf die Frontseite der Zürichsee Zeitung, schon gar nicht der NZZ.

So werden sie nicht bekannt, geehrt und Leute staunen nicht über sie.

Spannend ist, dass Jesus genau das macht.
Er predigt nicht auf der Bühne der Welt, treibt nicht Politik und kurbelt nicht die Wirtschaft an.

Jesus wirkt am Rande, am Einzelnen, im Kleinen.

  1. Der Kranke

Jesus stellt eine etwas naive Frage.
Eigentlich ist sie überflüssig.

„Willst du gesund werden?“

Aber er erreicht, dass der Kranke anfängt seine Geschichte zu erzählen.

Und mit der Geschichte sprudelt sein ganzer Frust mit heraus.

Der Mensch beschreibt seine aussichtslose Situation auch mit Selbstmitleid, eindrücklich, druckreif, kurz.

Vielleicht hofft er, dieser ihm Unbekannte, der zuhört, könnte ihm helfen, da er unter den Elenden scheinbar keinen helfenden Menschen findet.

  1. Das Wunder

Was nun kommt ist ein Wunder.

Jesus macht kein Hokuspokus.

Jesus handelt nachdem er erkennt: Dieser Mensch will wirklich gesund werden.

Er fühlt sich in seiner Lebenssituation nicht wohl.

Dieser Mensch will wirklich frei sein von Drogen, will sich als Asylantin wirklich in der Schweiz integrieren, will, obwohl im Seniorenheim mit vielen Gebresten, doch noch am Leben teilnehmen.

Jesus setzt mit seinen Worten, in denen Gottes Kraft steckt, diesen Menschen in Bewegung.

Er fordert ihn auf:

Steh auf, nimm deine Liege und zeige, dass Du gehen kannst!

Und nun wird es spannend.

Vertraut der Kranke?

Überwindet er sich und versucht es?

Oder sagt er: ‚Du Unbekannter, Du spinnst, ich kann nicht laufen!

Aber aus dem Hoffnungslosen wird Dank Jesu Anrede ein Hoffender.
Einer, der es versucht, mit Gottes Hilfe.

Einer, der aufbricht obwohl um ihn herum alles hoffnungslos bleibt.

  1. Das „Ich“ in der Geschichte

Und jetzt kommen wir ins Spiel.

Eine biblische Geschichte wird nie um seiner selbst erzählt.

Wir sollen uns in ihr wieder entdecken.

Haben Sie sich entdeckt?

So frage ich Sie:

Waren Sie schon einmal hoffnungslos?

Hatten Sie das Gefühl, das Ende der Fahnenstange erreicht zu haben?

‚Ich kann nicht mehr.

Ich weiss nicht mehr weiter.

Für mich gibt es keine Zukunft.’

Dieses Gefühl kann durch private, familiäre, berufliche, gesundheitliche Geschehnisse ausgelöst werden.

Das kann plötzlich geschehen, durch ein Trauma.

Das kann sich langsam anbahnen und dann auf seinem Höhepunkt bewirken, dass ich mich selbst als absolut hoffnungsloser Fall betrachte.

Was geschah dann, dass Sie den Weg wieder fanden, wieder Hoffnung entwickelten?

Wieder anfingen, den ersten Schritt in das Leben hinein zu wagen?

Selbstvertrauen gewannen, ein ersten Lächeln Ihnen wieder kam?

Waren es nicht Menschen, die Ihnen geholfen haben, wieder an sich zu glauben?

Menschen, die Sie nicht aufgaben, die Sie aufforderten:

„Nimm deine Liege und steh auf, wage den ersten Schritt.“

Die Bibel erzählt nicht, wie diese ersten Schritte des Geheilten aussahen.

Sie werden langsam, unsicher, wackelig gewesen sein.

Ob der Mensch je einen 100 m Sprint schaffen wird, dass wage ich nicht zu behaupten.

Aber in Jesus ist ihm Gott begegnet.
Er hat göttliche Kraft bekommen.
Er hat ihr vertraut und konnte wieder neu ins Leben starten.

Mancher von uns wird solche Schwester, solchen Bruder Jesu wie einen Boten Gottes im Leben erlebt haben.

Mancher von uns wird so, oft unbewusst, als Schwester bzw. Bruder Jesu zu einem Boten Gottes, der anderen die Gotteskraft vermittelt, es neu mit dem Leben zu wagen.

  1. Die Geschichte heute

Diese Geschichte vom Teich erinnert mich einerseits an Menschen in unserem Land, die sich auch um solche Teiche sammeln müssen.
Die Teiche  heissen nicht „Haus der  Gnade“, sondern zum Beispiel Asylantenheim oder Sozialwerk Pfarrer Sieber oder Blindenheim Tanne, für Menschen mit Mehrfachbehinderung oder Wohnhaus Bärenmoos usw.

Die Geschichte macht mir bewusst, dass ich nicht die Welt retten, aber für einen Menschen da sein kann.

Ich muss sie/ihn nur wahrnehmen und ansprechen.

Die Geschichte macht mir bewusst, Jesus war von Gott dazu berufen, für Menschen da zu sein.

Und Jesus hat uns berufen, als seine Schwestern und Brüder, jede und jeden, immer wieder für Menschen da zu sein, gerade wenn er oder sie keine Hoffnung hat.

Und eines macht sie mir noch deutlich, auch wenn ich manchmal hoffnungslos sein mag und frustriert meinen Teich aufsuchen möchte.

In uns ist etwas, was uns nie hoffnungslos machen kann.
Es ist unser oft unsichere, abwägende, vorsichtige, kaum selbst an ihn glaubenden Glaube.

Ein Glaube der eher fragt und anklagt, als dass er die Boten Gottes sieht, die Menschen, die mir immer wieder Mut zum Leben gemacht  haben und machen.

Das Gottvertrauen, das Jesus hier weiter gibt, lässt mich immer wieder neu Hoffnung dankend erfahren und selbst weitergeben.

AMEN

Berthold Haerter, geb. 1963, Pfarrer der Ev.-Reformierten Landeskirche Zürich seit 1993

Fünfte Predigt aus der Reihe „Von der Quelle bis zum Meer“ – Predigten zu biblischen Wassergeschichten

https://www.ref-oberrieden.ch/content/e12740/e3485/

Oberrieden

Berthold.haerter@bluewin.ch

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