Johannes 6,37-40

Johannes 6,37-40

Nicht verloren noch vergessen | Ewigkeits-/Totensonntag | 20.11.2022 | Joh 6,37-40 | Udo Schmitt |

Wieder ist er da – der letzte Sonntag des Kirchenjahres. Ein Tag der nach vorne und nach hinten schaut. Wir blicken voraus auf die Ewigkeit, die uns verheißen ist, so wie wir es in der Schriftlesung (Off 21) gehört haben. Denn dieser Sonntag ist der Ewigkeitssonntag. Und wir blicken zurück – auf die Verluste, die wir erlitten haben, die Menschen die uns verlassen haben, denn dieser Sonntag ist zugleich der Totensonntag.

Der Tod ist in unser Leben getreten und hat fortgerissen die, die wir lieben, Alte und Junge, auch aus dieser Gemeinde, auch in diesem Jahr. Der Tod ist in unser Leben getreten und wir müssen damit leben. In einem Gedicht von Mascha Kaléko heißt es:

            „Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

            Allein im Nebel tast‘ ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

            Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“

            (Mascha Kaléko, Memento, https://www.maschakaleko.com/memento, am 14.10.2022)

Für einige hier ist es erst ein paar Wochen her, und der Verlust schmerzt sie noch sehr. Weihnachten steht vor der Tür, das erste Mal – nun ohne ihn, nun ohne sie, Weihnachten steht vor der Tür, und ich weiß nicht, wie ich das nur überstehen soll.

Für andere hier ist es schon länger her, ein Jahr vielleicht schon oder mehr. Doch an Tagen wie diesen ist sie wieder nah die Trauer und die Erinnerung an die gemeinsame Zeit und das verlorene Glück. Und die Erinnerung schmerzt. Es ist wieder wie am ersten Tag, an Tagen wie diesen.

Manch einer fühlt sich dann so seltsam herausgefallen aus der Zeit, die Welt dreht sich weiter, doch ich selbst komm nicht hinterher, so schnell ist mein Herz nicht, ich bin noch nicht so weit, noch nicht fertig – mit dem Nachdenken, dem Nachgehen und Nachfühlen. Wieder und wieder hol ich sie hervor aus der Erinnerung, die kostbaren Stunden, wieder und wieder will ich sie auskosten, die Minuten des Glücks.

Die Welt dreht sich weiter und ist schon drüber weg. „Kopf hoch!“, sagen die einen und klopfen mir auf die Schulter. „Du musst mal was Neues erleben! Mal raus aus der Trauerecke!“, mahnen die anderen und meinen es nur gut. Sie sind schon drüber weg. Sie gehen einfach weiter und drüber weg. Sie wollen sich nicht aufhalten lassen von trüben Gedanken wollen sich nicht lang beschäftigen mit Tod und Trauer, – bald ist Weihnachten. Alles bereitet sich vor, stimmt sich ein auf das Fest, die ersten Fenster und Vorgärten sind schon mit Lichterketten geschmückt, die Leute wollen feiern, wer will da ein Trauerkloß und Spielverderber sein?

Nur ich, ich bin so seltsam herausgefallen aus der Zeit, bleibe zurück und hänge noch nach der alten Zeit, damals, da waren wir noch zu zweit. Nun bin ich allein und frage mich, was bleibt. Im ersten Jahr, da spürt man den Verlust noch deutlich, spürt die Leere auf dem ganzen Körper lasten, die gemeinsame Wohnung, das gemeinsame Haus ist voll von dieser Leere und man merkt es jeden einzelnen Tag wie die Stille schreit.

Dann kommt der Tag, an dem man mit Erschrecken feststellt, dass man zum ersten Mal nicht daran gedacht hat. Und man schämt sich fast dabei. Jetzt habe ich einen ganzen Tag gelebt, ganz ohne ihn und ganz ohne sie. Ich fühle mich fast ein bisschen schuldig dabei und frage mich, was bleibt.

Und hatten nicht auch die Freunde gesagt, sie wollten immer gedenken und stets in Erinnerung behalten? „Du bist von uns gegangen, aber in unseren Herzen lebst du ewig weiter“, so hatten sie geschrieben und so hatten sie es am Grab geschworen. Doch das ist lange her. Man sagt es halt so, „in unseren Herzen lebst du ewig weiter“ und „wir werden dich nie vergessen“. Man sagt es, um sich selbst zu trösten und zu beruhigen. Man tut ein bisschen so, als wäre die Geschichte noch nicht zu Ende, und behauptet etwas, das man doch nicht halten kann.

Einen Hauch von Ewigkeit. Doch die Toten sind wirklich tot, eine Weile noch, ja, sind sie in unseren Herzen und Erinnerungen. Aber was ist schon ewig? Und wer wird der Toten noch gedenken, wenn wir nicht mehr sind? – in hundert Jahren oder so. Und was ist mit den Toten, derer nicht mehr gedacht wird? – weil keiner mehr lebt, der sie noch gekannt hat. Sind diese Toten dann wirklich, wirklich tot? Nein, der Tod ist auch jetzt schon Wirklichkeit, mitten unter uns. Er setzt eine Grenze, die absolut ist, und dieser Wahrheit können wir nicht entgehen. „Der Tod ist eine Mauer, die bis zu den Sternen reicht“, hat Theresa von Lisieux einmal gesagt. Diese Mauer ist so hoch, dass wir nicht darüber schauen können. Und selbst wenn wir mit unserm Versprechen und Nicht-Vergessen-Wollen Türme bauen könnten, Türme des Gedenkens und Erinnerns, so hoch, dass sie bis zum Himmel reichten, diese Mauer wäre immer noch zu hoch und wir könnten nicht einfach so darüber hinweggehen. Wer verspricht, dass er nicht vergessen will, bei dem kann es sein, dass er einfach nur nicht wahrhaben will, dass hier eine Grenze ist, über die er nicht einfach so hinwegkann.

Nun steh ich hier und frage mich erneut: Was bleibt? Und die Antwort ist: nichts. Nichts auf dieser Welt hat Bestand. Und nichts von dieser Welt wird bestehen bleiben. Und doch. Und doch ist da Hoffnung. Es gibt einen, der nicht von dieser Welt ist. Der Mensch geworden ist, uns zuliebe. Das ist es, was Weihnachten wirklich bedeutet: Wir sind nicht allein. Er ist zu uns gekommen. Und er ist zu uns gekommen, um uns dies zu sagen: „Alle Geschöpfe, die Gott mir geschenkt hat, kommen zu mir, die ganze Welt! Und wer zu mir kommt, wird behütet sein – nicht verstoßen in die Finsternis. Bedenkt! Ich bin vom Himmel gekommen, nicht um meinen eigenen Willen, sondern um den Willen des Vaters zu tun, der mich gesandt hat – seinen Willen, der von mir verlangt: „Verliere nichts Sohn, von allem, was ich dir gab, sondern bewahre es gut. Wecke die Menschen auf, die in deiner Hut sind, am Jüngsten Tag!“ Dies ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat: Jeder, der auf den Sohn schaut, ihm vertraut und an ihn glaubt, wird in Ewigkeit leben unter den Himmeln und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag.“ (Joh 6,37-40 – Übersetzung Walter Jens).

Das ist unsere Hoffnung in einer alten Welt: Einmal kommt der Tag, da Gott alles neu machen wird, und es wir ein Ende haben mit allem, auch das, woran wir jetzt noch leiden, auch das was uns jetzt noch traurig macht, quält und gefangen hält.  Im letzten Buch der Bibel hören wir, wie sein wird, wenn dieser Tag kommt: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein“ (Off 21,4).

Das ist es worauf wir Christen hoffen, danach sehnen wir uns und auf diesen Tag hin leben wir. Wir setzen unsere Hoffnung nicht darauf, selbst zu erinnern, hoffen nicht darauf, dass unser Versprechen hält, sondern darauf, dass Gott seine Verheißung erfüllt. Wir setzen unsere Hoffnung auf seine Ewigkeit. Auch wenn wir vergessen, Gott vergisst nicht, keinen einzigen von uns, und wir alle, Lebende und Tote, sind in seinem Gedenken geborgen. Er hat unsere Namen aufgeschrieben, jeden einzelnen hat er eingetragen in das Buch des Lebens. Wir sind vorgemerkt für den Jüngsten Tag.

Die Tränen, die wir geweint haben, sind nicht umsonst gewesen, nicht vergebens geflossen. Gott hat sie gesehen, und er wird sie abwischen, jede einzelne von ihnen. Und so wie jetzt noch der Tod mitten unter uns ist, so wird Gott mitten unter uns sein. Er wird bei uns wohnen, und wir werden bei ihm wohnen, und wir dürfen für immer bleiben. Dies Verheißung gilt allen, Lebenden und Toten. Sie sind nicht verloren noch vergessen.

Wir werden sie doch wiedersehen, die uns vorausgegangen sind. Und wir werden Gemeinschaft miteinander haben. Es ist nicht einfach eine Verlängerung dessen, was war, es ist eine ganz neue Gemeinschaft, die nicht mehr bedroht ist von Krankheit und Kriegen, Leiden und Schmerzen, von Tränen und Abschied.

Denn nicht der Tod hat das letzte Wort sondern Gott. Und in Jesus Christus hat er es der Welt ein für alle Mal gesagt: Die Mauer, die bis zu den Sternen reicht hat ein Loch, und in der Bresche steht der Auferstandene. An ihm vorbei – oder besser gesagt – durch ihn hindurch führt der Weg zum Leben, der Weg zu der neuen Gemeinschaft, die wir haben werden. Und etwas von dieser Gemeinschaft können wir deshalb schon jetzt spüren, wenn wir miteinander sein Abendmahl feiern.


Liedvorschläge:

            EG 488 „Bleib bei mir Herr“

            EG 529 „Ich bin ein Gast auf Erden“

  1. E 8 „Es kommt die Zeit, in der Träume sich erfüllen“

            HuE 427 „Wie sollen wir es fassen“ (M: EG 361 „Befiehl du deine Wege“)


Udo Schmitt, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, von 2005-2017 am Niederrhein, seit 2017 im Bergischen Land.

Dorfstr. 19 – 42489 Wülfrath (Düssel)

udo.schmitt@ekir.de

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