Johannes 6,37-40

Johannes 6,37-40

Keiner geht verloren Ewigkeits-/Totensonntag | 20.11.2022 | Joh 6, 37 – 40 | Ulrich Pohl |

Niemand geht verloren. Keiner. Mose nicht, von dem wir eben in der biblischen Lesung gehört haben, Gott selbst habe ihn begraben. Die Jünger nicht, zu denen Jesus die Worte in unserem Predigtabschnitt spricht: „Ich verliere keinen von denen, die mir mein Vater anvertraut hat.“ Und Jesus selbst nicht, der am Kreuz gestorben ist, aber dann auferstanden ist und wiedergekommen, um sich den Jüngern zu zeigen.  

Niemand geht verloren.

Keiner.

Auch wir nicht, die wir uns sorgen: Was kommt nach dem Tod? Was geschieht mit uns, wenn dieses Leben an sein Ende kommt? Was ist ein Mensch dann noch? Woraus besteht er? Was ist das Verbindende zwischen dem, der er hier war und dem, der er dort sein wird? Gibt es überhaupt ein Leben nach diesem Leben?

Wir wissen es nicht. Kein Wissenschaftler konnte es bisher erforschen, kein Reisender ist von dort zurückgekehrt. Und kein noch so großer Denker hat enträtseln können, wie es dort zugeht. Wir wissen nur, wir gehen darauf zu. Das, was kommt, ist dem menschlichen Wissen entzogen. Viele klammern es aus, sich damit überhaupt zu beschäftigen. Man muss sich eben abfinden, man kann nichts machen. Nicht zu viel darüber nachdenken. Man lebt hier, das „Dort“ ist weit weg.

Aber dann kommt es uns mit einem Mal nah. Aus unserer Mitte stirbt ein Mensch. Ein Mensch, mit dem unser Leben verbunden war, so eng verbunden, dass es schmerzt; er ist nicht mehr da! Wir möchten ihn festhalten, möchten, er soll weiter da sein, soll weiter um uns sein. Das, was war, soll nicht alles gewesen sein. Der Kontakt soll nicht verloren gehen. Wir dachten immer, wir stehen mit beiden Beinen im Leben, in diesem Leben. Nun beginnen wir, Zwiegespräche zu führen, in Gedanken oder laut. Bist du da? Hörst du mich? Du fehlst mir! Ich vermisse dich. Ich vermisse deine Nähe. Ich brauche deinen Rat. Ich höre deine Stimme. Ich fühle dich um mich. Ich weiß, du kannst nicht bleiben. Aber bitte: bleib!

 In diesen Augenblicken fühlen wir, da ist etwas. Da ist etwas, das können wir nicht sehen. Das können wir nicht anfassen, aber es ist da. Es ist die Welt, die „unsichtbar sich um uns breitet“, so haben wir es eben gesungen (EG 652, 6). Gedichtet sind diese Zeilen von einem Mann, der mitten aus dem Leben gerissen wurde. Der von allen getrennt ist, die ihm etwas bedeuten. Der die Nähe seiner Lieben sucht und sie herbeisehnt. Und der seiner Sehnsucht Worte gibt. „Die Welt, die unsichtbar sich um uns breitet …“,  wenn wir besonders verletzlich sind, besonders empfindsam, spüren auch wir sie, diese Welt. Sie ist da. Wir sind von ihr umgeben. Wir sind Teil von ihr und sie ist ein Teil von uns.

 Eine Zeit lang bleibt dieses Gefühl bei uns. Dann verflüchtigt es sich wieder. Wir merken es daran, die Pausen werden länger, die Pausen zwischen den Zwiegesprächen mit denen, die wir vermissen. Immer mehr andere Stimmen drängen sich dazwischen, und sie werden lauter. Ein Mensch ist nicht mehr da, wir haben an ihm gehangen, wir haben ihn geliebt, er war ein Teil von uns, ja. Aber nun ist er auf einem anderen Weg, und wir sind auch auf einem anderen Weg, und wir können einander nicht dauerhaft begleiten. Das Leben greift nach uns, dieses, das diesseitige Leben. Schon müssen wir wieder Entscheidungen treffen, obwohl uns das meiste völlig belanglos erscheint.

 Aber anderen ist es eben wichtig, wir können uns dem nicht verschließen. Das Leben greift nach uns, und wir lassen uns darauf ein, nicken anfangs nur stumm, wenn man uns fragt, sagen dann Ja, sagen Ja mit zunehmend festerer Stimme. Und irgendwann sagen wir auch wieder nein, ziehen Grenzen, lehnen ab oder nehmen an. Es muss ja irgendwie weitergehen. Äußerlich sind wir wieder „dabei“, und doch fühlt sich vieles noch fremd an, wie eine neue Sprache, die man mühsam buchstabiert. Mühsam, aber es hilft nichts. Zeit verstreicht, Tränen trocknen, Wunden heilen. Wir finden  zurück ins Leben.

 Und die, von denen wir haben Abschied nehmen müssen?Wollten wir sie nicht für immer im Herzen behalten? Wollten wir nicht jeden Tag, jede Minute weiter mit ihnen teilen? Jede Stunde auf ihr Bild schauen und alle Arbeit ruhen lassen? Wollten wir sie nicht festhalten, damit sie weiter ein Bestandteil unseres Alltags bleiben? Damit sie weiter vorkommen und da sind, in dieser Welt, der Welt, in der man das, was da ist, sehen und anfassen kann?

 Denn was geschieht mit ihnen, wenn sie sich in unseren Gedanken verflüchtigen? Wenn sie weniger werden in unserem Gedenken? Hören die Verstorbenen nicht auf, da zu sein, wenn nicht wenigstens wir versuchen, sie festzuhalten? Wenn wir uns an ihr Gesicht nicht mehr richtig erinnern? Wenn wir Foto anschauen müssen, um zu sehen, so war er? Wenn die Fotos irgendwann in Alben sortiert werden, und die Alben nur noch selten aufgeschlagen? Wenn die Bilddateien nicht mehr zu öffnen sind, weil es längst ein anderes Format gibt? Wohin gehen die, die gegangen sind, wenn wir sie in unserem Gedächtnis langsam verlieren? Gehen sie verloren, vollends verloren? Und wohin gehen wir, wenn es so weit ist?

 „Ich werde nichts verlieren von dem, was mir mein Vater anvertraut hat. Vielmehr will ich es auferwecken am jüngsten Tage.“

 Von der Welt auf der anderen Seite wissen wir nichts. Und dürfen doch etwas wissen. Weil wir dem vertrauen, der das gesagt hat. „Ich werde nichts verlieren von dem, was mir mein Vater anvertraut hat.“

 Niemand geht verloren. Keiner. Mose nicht. Die Jünger nicht, die diese Worte Jesu später weit in alle Welt hinausgetragen haben. Und Jesus selbst, auf den sich unser Glaube gründet, auch nicht. Er ist gestorben. Er ist auferstanden und zu den Jüngern gekommen. Er kommt auch noch heute und spricht zu uns. Niemand geht verloren.

 So gesehen ist es nicht wirklich entscheidend, dass wir es sind, die die Verstorbenen in Gedenken festhalten und im Leben halten. Wir dürfen das tun, und wir tun es um unserer selbst willen. Aber um unserer lieben Verstorbenen willen müssen wir es nicht. Wir dürfen sie loslassen, denn es ist ein anderer da, der sie hält. Ihm geht keiner und er gibt keinen verloren.

 Es ist wohl auch nicht entscheidend,  dass wir die Menschen, die sich auf den letzten Weg machen, möglichst lange hier festhalten. Um jedes Leben kämpfen, mitunter tun wir auch dies um unserer selbst willen. Aber wir sollen das mit Maß tun. Wir sollen das Leben nicht absolut setzen. Wenn der Weg eines Menschen am Ende unumkehrbar ist, sollen wir ihn loslassen und wir sollen ihn liebevoll begleiten. Leben retten und erhalten um jeden Preis, das passt nicht zu dem, was wir glauben. Dieses Leben ist – eben dieses Leben. Es gibt noch ein anderes. Es ist das Leben, von dem Jesus spricht. Die, die ihm anvertraut sind, wird er nicht verlieren. Am Ende der Tage wird er sie auferwecken zu einem neuen Leben, einem Leben, das ewig ist.

 Wird er das wirklich tun?

Und hören wir seine Stimme, wenn er am jüngsten Tag die Toten aus den Gräbern ruft?  Wenn wir sie hören, gilt der Ruf wirklich auch allen von uns? Oder nur den Gläubigen? Nur denen, die sich zu Lebzeiten auf die Seite Gottes gestellt haben. Die ihm gefolgt sind, die vorbehaltlos geglaubt haben, was er geboten hat?

 Jesus spricht vom Vertrauen und vom Anvertrauen. So wie der Vater ihm alles anvertraut, so können wir die Menschen, um die wir uns sorgen, dem Vater anvertrauen, die, die leben, und die, die schon gegangen sind. Wir beten für sie, wir sollen vor Gott an sie denken und wir legen sie in seine Hände: Himmlischer Vater, segne, die leben. Schütze, die im Krieg sind. Schenk Frieden denen, die in Aufruhr leben. Tröste, die trauern. Stille den Schmerz derer, die leiden. Vergib uns, die wir Schuld auf uns laden. Nimm die Hand derer, die die letzte Reise antreten. Behüte, die gingen und bewahre sie bei dir. Mach heil, was unter unseren Händen bricht. Bring zurück, was verloren ging. Schenk uns, dass wir uns wiedersehen in deinem himmlischen Reich.

Wenn wir so beten, kann Gott nicht nein sagen. Jesus selbst sagt es: „Mein Vater wird niemanden hinausstoßen.“

Niemand geht verloren. Keiner. Wir nicht. Die vor uns waren nicht. Die nach uns kommen nicht. Wir werden einander wiedersehen. Und alles wird sich finden.

 Amen.

de_DEDeutsch