Johannes 8, 2-11

Johannes 8, 2-11

Ansichten einer Ehebrecherin | 4. So. n. Trinitatis | 10.07.2022 | Joh 8, 2-11 | Dörte Gebhard |

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde

Hört aus dem 8. Kapitel im Johannesevangelium von Jesus und der Ehebrecherin:

2 Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte

4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.

10 Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Sie haben mich erwischt. Ich bin selbst schuld. Ich weiss ganz genau, was man darf und was nicht. Ihr könnt Euch Euer entrüstetes „Wie kann man nur?“ total verkneifen. Ihr werdet gleich hören, warum.

Es war so oft gutgegangen. Niemand hatte etwas gemerkt. Ich war nur ein einziges Mal zu lange bei ihm geblieben. Eben bis zum frühen Morgen. Wie dumm das war, war mir – hinterher – sofort klar.

Sonst bin ich immer mitten in der Nacht gegangen. Immer. Diesmal nicht. Diesmal wurde es schon hell. Da sahen sie mich. Warum trieben sie sich auch gerade bei uns herum? Ob ihnen doch jemand etwas gesteckt hat?

Aber Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen, wer es denn gewesen sein könnte von diesen neugierigen Nachbarinnen, hatte ich nicht. Jetzt war es auch egal.

Denn sie hatten mich in diesem Moment schon gepackt und zerrten mich mit. Ich kannte die Strafen so ungefähr. Irgendwo in den alten Schriften soll es genau geschrieben stehen. Ich war innerlich dabei, mir selbst irgendwie Mut einzureden, da hatten sie mich längst hinauf zum Tempel geschleift. Schon von weitem war zu sehen: Es gab ein Riesenauflauf von Leuten da oben. In dieser frühen Morgenstunde, die für mich eben zu spät gewesen war. Was konnte da um diese Zeit los sein?

Hatte ich was verpasst? Ganz offensichtlich! Sonst war um diese Zeit im Tempel noch kein Mensch ausser ein paar verschlafenen Priestern, die die Tore öffneten. Genau an jenem Tag war es schon voll bis in die hinterste Ecke. Aber erstaunlich ruhig. Ein Mann in seinen besten Jahren sass in der Mitte, predigte und lehrte. Er sah nicht aus wie einer vom Tempelpersonal. Ärmlich gekleidet war er. Ungewohnt freundlich sprach er, aber sehr bestimmt. Sein Tonfall wird mir immer im Ohr bleiben, der ist unvergesslich. Worum es gerade ging, habe ich aber nicht mitbekommen.

Das war nicht möglich, denn er schwieg, sobald sie mich in die Mitte der Massen bugsiert hatten. Ich hörte, wie sie ihn ganz ehrfürchtig mit „Meister“ anredeten.

Meister? Meister?! Meister! Da kam es mir wieder in den Sinn! Das musste dieser Jesus sein, von dem sie alle erzählt hatten. Ich hatte es nur so am Rande mitbekommen. Musste der sein, von dem sie sich die kuriosesten Geschichten berichteten. Wasser soll er angeblich an einer Hochzeit in Wein verwandelt haben. Wozu sollte das gut gewesen sein? Bald darauf soll er eine Riesenmenge von Menschen mit Brot und Fisch versorgt haben. Keiner wusste zu sagen, woher diese Mengen gekommen sein sollten. Jünger habe er um sich gesammelt, die plötzlich ihre Arbeit aufgegeben hatten und nun mit ihm herumzogen, obdachlos lebten wie er. Wunder habe er getan, einen Menschen geheilt von seiner Lähmung, am Teich Bethesda, beim Schaftor und einen, der schon im Sterben lag. Mit Frauen soll er sich auch abgegeben haben. Ich fand das alles viel zu unglaublich. Also, wenn nur die Hälfte wahr gewesen wäre von allem, was die Leute so erzählten, dann wäre es viel!

Aber ich hatte auch andere Sorgen. Ich hatte jedenfalls keine Zeit, einem neuen Wanderprediger an den Lippen zu hängen. Aber da wurde ich mitten aus meinen Gedanken gerissen. Ich traute meinen Ohren kaum:

Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?

Da blieb mir der Verstand stehen. Sie schlugen ihm ernsthaft vor, mich zu steinigen! Keine Stockhiebe, keine 39 Peitschenhiebe, sondern die Todesstrafe wollten sie verhängen. Das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Nicht, solange ich mich erinnern konnte.

Ich wurde gar nichts gefragt. Nicht einmal meinen Namen wollten sie wissen. Für sie war alles klar: Ich war eine Ehebrecherin. Weiter nichts.

Sie hielten sich auch sonst nicht mit Details auf, z.B. mit der Tatsache, dass zu einem Ehebruch eigentlich immer zwei gehören … Sie wollten kurzen Prozess machen. Jedenfalls hatten sie nicht einmal zwei angebliche Zeugen bezahlt, damit die gegen mich aussagten.

Sagt mal, gibt es bei Euch immer noch Korruption? Oder hatte das Schmieren und Bestechen irgendwann ein Ende?

Sie fragten ihn direkt. Was sagst du?

Und dieser „Meister“? Er schwieg erst lange. Er sagte nichts, bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.

Wie ein Kind, das gerade kein Stöckchen gefunden hat.

Was er da geschrieben hat? Das möchtet Ihr gerne wissen? Das kann ich mir vorstellen. Ich will Euch was sagen: In jenem Moment hätte ich das auch sehr gerne gewusst, aber Lesen und Schreiben hatte ich nicht gelernt. Wie auch? Ich bin ja nur eine Frau. Wer hätte es mir auch beibringen sollen? Meine Eltern jedenfalls nicht. Sie konnten es selbst nicht.

Sagt mal, können denn bei Euch alle lesen und schreiben? Und sogar verstehen, was geschrieben steht?

Aber die Männer, die mich festhielten, gaben natürlich keine Ruhe und fragten beharrlich weiter. Ich war so etwas wie ihre «fette Beute» an jenem Morgen. Vielleicht konnten sie auch nicht richtig lesen, was er da schrieb, wer weiss. Oder sie nur taten so und wussten es ganz genau, wollten es aber nicht so deutlich erkennen. Sie hatten Jesus eine Falle gestellt, jetzt wollten sie ihn auch hineinlaufen sehen. Er konnte es nur falsch machen: Entweder würde er das römische oder das jüdische Recht nicht ernstnehmen. Beides wäre ein Verbrechen gewesen. Dazwischen gab es nichts Drittes.

Da richtete er sich plötzlich kerzengrade auf und sagte einen Satz, den niemand erwartet hatte. Wer das hinterher behauptete, war ein Lügner.

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 

Kennt Ihr solche Worte? Die man nur ein einziges Mal hört und die einem für immer bleiben? Die man bis ans Ende seiner Tage weiss, auch wenn man sie sich eben, wie gesagt, nicht mal aufschreiben kann?

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 

Und er bückte sich wieder, aber nicht um einen Stein aufzuheben und schrieb auf die Erde. Wie ein Kind, das immer noch kein Stöckchen gefunden hat. Er schaute niemanden an. Er war wieder völlig beschäftigt, als ob nichts gewesen wäre. Als ob er gar nichts gesagt hätte. Als ob er nicht von dieser Welt wäre.

Ich hielt die Luft an und starrte zu Boden. Ich wagte nicht, den Kopf zu heben. Was jetzt geschehen würde, konnte ich mir leider vorstellen. Ich konnte nicht hinsehen. Wie solche Männer gucken, die solche Steine sammeln, nicht zu grosse und nicht zu kleine, nicht zu schwere und nicht zu harmlose, das könnt ihr euch selbst ausmalen.

Ich sagte nichts, ich fragte nichts, ich bettelte nicht um Gnade. Wäre ohnehin zwecklos gewesen. Dieser Meister schwieg nun auch und schrieb weiter in den Sand vor meinen Füssen, wo er vorher aufgehört hatte. Fragt jetzt nicht schon wieder, was er da schrieb …

Es war kein Laut zu hören.

Es war totenstill.

Wer unter euch ohne Sünde ist … Natürlich gab und gibt es keinen Menschen, der noch nie gesündigt hat. Das hat niemand bezweifelt. Aber ob es jemand auch im entscheidenden Moment zugeben kann?

Seine eigenen Fehler kennen, ist das eine, aber sie auch vor anderen zugeben können, das ist noch etwas ganz anderes.

Im Verdrängen waren alle gut.

Fehler bei anderen sind immer viel besser zu sehen als bei sich selbst. Bei mir selbst hatte ich auch tausend Begründungen und Ausflüchte und Ausreden. Die erspare ich Euch!

Hatte dieser Jesus eigentlich noch nie etwas von diesen religiösen Fanatikern gehört, die glaubten, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben? Die zwar Fragen stellten, aber gar keine Fragen hatten, sondern bloss fragten, um andere reinzulegen? Die auf alles eine Antwort hatten und sich für gottgleich hielten, nur weil sie die alten Schriften lesen und sie dann ihrem Sinne auslegen konnten? Die ihr eigenes, moralisches Urteil für das einzig Wahre hielten? Menschen, die sich selbst für unfehlbar hielten? Die alles andere rundheraus als Irrlehre bezeichneten? Diese Rechthaber und Besserwisser von Beruf? Die auf andere herabschauten, die keine so einfachen Antworten parat hatten? Auf solche, die zwischen Schwarz und Weiss noch viele bunte Farben sahen? Die die Nasen rümpften über jene, die mehr bedachten als nur schlicht ‘entweder-oder’? Über die, die ein Ohr für Zwischentöne hatten?

Sagt mal, gibt es sie bei Euch noch oder sind sie ausgestorben?

Offenbar hatte Jesus von diesen mehr als Überzeugten, von diesen Übereifrigen gehört. Aber er wusste noch besser, was einen ersten Stein von allen anderen unterscheidet.

Beim ersten Stein schaut noch jeder, wer ihn wirft. Alle gucken, alle glotzen, alle tuscheln, wer es war.

Nachher, wenn es viele sind, wird es egal. Da kann dann jeder behaupten, dass er nur mitgemacht hat, dass er nur dabei war, weil alle anderen auch geworfen haben, weil ihm einer einen Stein in die Hand gedrückt hat …

Im Nachmachen, im Nachlaufen sind seit Adam und Eva alle ziemlich grossartig.

Da kann man doch nicht mehr schuld sein, wenn man nur tat, was alle machten. Dann findet man bestimmt einen, auf den man es schieben kann. Nur der erste muss beginnen.

Aber wer hat angefangen?

Sagt mal, ist das bei Euch immer noch die entscheidende Frage? Müsst Ihr immer noch, bei jedem Krieg, bei jedem Konflikt, bei jedem Streit im Kinderzimmer herausfinden, wer angefangen hat? Weil nur so zu lernen wäre, wie Frieden, wie Vergebung beginnt?

Ich habe nicht gesehen und nicht gehört, wer es war, der sich zuerst nicht nach einem Stein gebückt hatte, der zuerst nichts gemacht hat, sondern still und leise weggegangen war. Einer nach dem anderen ist weggeschlichen. Die Ältesten seien zuerst aufgebrochen, hat man mir später gesagt. Sie mussten wohl am wenigsten nachdenken. Zum Glück sind die anderen im Nachmachen, im Nachlaufen ziemlich gut gewesen.

Es ging gefühlt unendlich lange, bis alle gegangen waren. Ich spürte, wie sich nach und nach der ganze Platz leerte. Als ich endlich glaubte, allein zu sein und noch lange nicht glauben konnte, dass ich das überlebt hatte, sprach mich Jesus an:

Wo sind sie, Frau?

Dieser Schreck, als er mich aus dem Nichts heraus ansprach! Ich hatte die Augen fest geschlossen.

Der Mann stellte Fragen! Wo sie hingegangen sind? Das konnte ich nicht sagen. Es war keiner mehr da, den man hätte fragen können.

Hat dich niemand verdammt?

Jetzt war er wohl auch noch stolz auf sich, weil er es genau so hatte kommen sehen. Ich hatte es gar nicht kommen sehen.

Keiner hatte angefangen. Keiner hatte den ersten Stein aufgehoben, keiner wollte der erste gewesen sein. War es zuletzt Jesus selbst, der nicht angefangen hatte? Er hatte die Steinigung nicht verboten, aber auch keinen Stein und keinen Stock angerührt, sondern weiter mit dem Finger in den Sand geschrieben.

Einer hatte angefangen, nicht zu töten.

Alle anderen hatten das nur nachgemacht.

Jesus spricht zum Schluss: So verdamme ich dich auch nicht …

Sagt mal, wie haben sich die Strafen entwickelt? Gibt es noch solche Verdammungsurteile? Gibt es die Todesstrafe noch? Oder hat mal einer angefangen, sie abzuschaffen und alle, alle haben es nachgemacht? Weil doch die meisten Menschen im Nachmachen ziemlich gut sind?!

Das letzte Wort Jesu zu mir war: Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Das hätte er wirklich nicht mehr sagen müssen, so weit war ich unterdessen auch schon. Das wäre nicht mehr nötig gewesen. Aber er sagte es mir, wie eine sehr gute Seelsorgerin, unter vier Augen. Mit dieser Ermahnung hatte er gewartet, bis alle anderen weg waren.

Sagt mal, macht Ihr das auch so? Alles, was es Gutes zu sagen und zu loben gibt, laut vor allen Leuten ausbreiten? Die Sünden und die Fehler dagegen aber nur unter vier Ohren besprechen?

Sie hatten also wirklich Recht gehabt, als sie erzählten, dass sich dieser Jesus sogar mit Frauen abgibt. Sogar mit so einer wie mir. Dass dieser Jesus Sünden vergibt, sogar so einer wie mir. Ich habe mich dann so sehr geschämt, fast hätte ich mich selbst verdammt.

Aber dann kam mir wieder in den Sinn, dass Jesus zu mir gesagt hatte: So verdamme ich dich auch nicht.

Verdammt auch Ihr niemanden, weder andere noch euch selbst.

Fangt damit gar nicht erst an.

Bückt euch nicht nach dem ersten Stein.

Oder lasst euren zweiten Stein gleich wieder fallen.

Nehmt jemandem neben Euch den dritten Stein weg, wenn ihr könnt …

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Dörte Gebhard, Pfarrerin

Mail: doerte.gebhard@web.de

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