Johannes 8, 3-11

Johannes 8, 3-11

Umgekehrt | Johannes 8, 3-11 | 10.07.2022 | 4. So. n. Trinitatis | Eberhard Busch |

Liebe Gemeinde,

„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“  Dieser Spruch, den Jesus in der eben verlesenen Geschichte sagt, erinnert an einen ähnliches Wort, das vor über 50 Jahren die Runde machte. Da schimpften Hoch und Niedrig, Politiker und das gemeine Volk der Wähler und natürlich die Medien über ein Häuflein von jugendlichen Demonstranten wegen ihres Lärms gegen den Krieg in Vietnam. Heute würden gegen dergleichen wohl kaum viel mehr Protestler marschieren. Damals hatte der einstige Justiz-Minister Gustav Heinemann den Mut, öffentlich zu erklären: „Wer mit dem Zeigefinger Vorwürfe auf den oder die vermeinlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich andere Finger auf ihn selbst zurückweisen“. Dieser Hinweis ist gewiss eine Zumutung, aber eine heilsame Zumutung. Er fordert dazu auf, seine bisherige, heiß vertretene Überzeugung zu überdenken und in sich zu gehen, um einmal seine eigene vermeintlich weiße Weste zu untersuchen. Reden wir davon näher anhand unseres Predigttextes!

Jesus redet hier nämlich von Ähnlichem. Hier ist auch eine Menge Menschen beisammen, Hoch und Niedrig, durchaus nicht alle derselben Meinung. Doch in einem sind sie sich einig: dieser bestimmte Mensch muss beseitigt werden. Regen wir uns nicht zu unbedacht über diese Leute auf! Wer von uns kennt nicht auch Personen, die er gern weggeschafft sehen wollte. Davon verspricht man sich reine Vorteile: Dann geht es euch gut. Dann ist unsre Welt wieder in Ordnung. Die Frau, von der derart die Rede ist, passt ja nicht in unser Leben. Was sie tut, gehört gewiss nicht ins Buch der guten Sitten. Dass aber bei dem, was sie gemacht hat, auch einige Männer mit im Spiel waren – vielleicht sogar einige von denen, die sie jetzt verurteilen -, das erwähnt man lieber nicht. Nein, schuldig ist hier nur eine. Richter in dieser Angelegenheit sind wir. Die Zeigefinger von uns allen richten sich auf sie. Sie ist die Sünderin. Gut, wenn sie verschwindet. Dann ist die leidige Geschichte vergessen und abgetan.

Und ist es nicht auch so? Angeklagt ist hier nicht nur diese Frau. Jene unheimliche Mannschaft äußert einen heimtückischen Verdacht, der den Betreffenden an ein Kreuz führen kann. Und solche Vermutungen lassen sich nun einmal nicht mehr leicht aus der Welt schaffen, wenn sie einmal in den Raum gestellt worden sind. Sie sind wie eine Schlange, die im Finstern schleicht. Es geht gegen Jesus. Es ist die Unterstellung, dass Jesus einen lebensgefährlichen Irrtum begeht, wenn er nicht auch jene Frau verurteilt, so wie die Schar jener andren Männer es ihm vormacht. Hat nicht sogar der Gottesmann Mose geurteilt, dass eine solche Frau beseitigt werden muss? Das stehe doch genau so schwarz auf weiß in der Heiligen Schrift. So wird gemunkelt. Was sollen wir zu dieser Verdächtigung sagen? Ach, nichts gegen die Bibel! Aber man kann mit einzelnen Bibelworten Unfug anrichten und Menschen Schaden tun. Man kann Gutes zum Bösen missbrauchen. Und das geschieht hier.

Achten wir jetzt auch darauf: Der Finger der Anklage richtet sich bei den Leuten immer wieder gegen Andere, so oder so. Sünder sind hier immer nur Andere, und wir sprechen uns selbst dabei offen oder heimlich frei. Unser Finger, der auf Andere zeigt und sich über sie beschwert oder über sie lustig macht, der dreht sich immer wieder nicht um, um auf sich selbst zu zeigen. Und je mehr man Andere beschuldigt, desto mehr wird man blind für eigene Fehler. Das ist wohl auch im Stillen die Absicht bei groben Vorwürfen gegen unsere Mitmenschen: man lenkt dabei ab von dem, was gegen einen selbst zu bemerken ist. Ihr habt zwar alle – und jeder in seiner Weise – allemal Grund, mit dem Finger der Beschwerde zuerst auf euch selbst zu zeigen. Aber genau das habt ihr unterlassen, bevor Jesus in eure Mitte trat.

Braucht es nicht die Begegnung mit dem, der die Sünde vergibt? – nicht bloß anklagt; es geht um die Begegnung, mit dem, der sich für uns verausgabt hat, damit wir den Mut bekommen, an die eigene Brust zu schlagen. Und o Wunder, auf einmal sind da Menschen, die verstanden haben, was Jesus sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Tatsächlich, da sind Menschen, die nicht mehr herfallen über ihre Nächsten mit Worten und mit Taten, mit Steinen und schlimmeren Waffen. Da sind Menschen, die nicht sagen wie die Narren: die und die gewissen Leute, die Fremden, oder die Juden haben Jesus ermordet, oder die Römer, oder, wie man heute zur vorschnellen Entlastung aller sagt, ein Missverständnis oder ein herber Schicksalsschlag hat ihn ums Leben gebracht.

Wahrhaftig, sie drücken sich nicht mehr darum herum, so zu singen, wie es uns der Liederdichter Paul Gerhardt gelehrt hat: Im Blick auf die Leiden des Gekreuzigten: „Was ist doch wohl die Ursach’ deiner Plagen? Ach, meineSünden haben dich geschlagen. – Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden / des Sandes an dem Meer, / die haben dir erreget / das Elend, das dich schläget / und deiner schweren Marter Heer.“ Und in einem weiteren Lied: „Nun, was du Herr erduldet, ist alles meine Last. / Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. / Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat, gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.“

Sehen wir genau hin: Jetzt hat sich der Zeigefinger um 180 Grad gedreht und zeigt auf die eigene Brust. Jetzt weiß man auf einmal wie jene Leute in unserer Geschichte: Wir sind nicht ohne Sünden und haben darum kein Recht, um uns zu schlagen. Wer ist ein Sünder? In der Antwort darauf fängt man am gesündesten allemal bei sich selber an. Und da weiß man: Wir sind nicht die Richter, weder über unsere Mitmenschen, noch auch über uns selbst, aber wir haben einen Richter, den, zu dem wir beten: „Mit deinem Urteil, o allmächtiger Gott, stehen und fallen wir.“ (Johannes Calvin) Als Richter gebärden wir uns als Gebieter über Leben und Tod. Sind wir nicht Richter, sondern haben wir einen Richter, so haben wir einen Gebieter über Leben und Tod, der über uns befindet und entscheidet, über uns gewiss nicht weniger als über die Anderen.

Wie kommt es genau dazu? Dazu, dass ich das begreife. Dazu, dass ich eingestehe: während mein einer Finger auf Andere weist, zeigen drei Finger auf meine eigene Brust? Wie kommt es dazu, dass ich meine Schuld erkenne, so wie die Männer in unserer Geschichte? Es liegt an dem Einen, der uns gesagt hat: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Solche Kehrtwende liegt an dem, der unsere Marschrichtung um 180 Grad ändern will und kann und muss. Das liegt an dem, den man vorhin noch beargwöhnt hat, dem man das Wort abschneiden wollte. Solche Umkehrung liegt hier doch offenbar daran, dass dieser Eine in ihrer Mitte steht, der sich dazu hergegeben hat bis zum letzten, um für sie einzutreten. Gott sei Dank ist der da, der sie und auch uns nicht losgelassen hat und nicht fallen lässt, uns, die sich auch nicht „ohne Sünde“ sind!

Er, also nicht irgendein Grobian, kein Dreinschläger, vielmehr gerade er, der selbst Bedrohte, er ist eine Schutzmacht der besonderen Art. Er schützt jene Männer, dass sie keinen verhängnisvollen Fehler machen, einen Missgriff, der nicht mehr wieder gut zu machen wäre. Er schützt sie vor sich selbst. Er schützt sie so, dass still eins ums andere sich davon macht. Er öffnet ihnen nämlich die Augen, dass sie in Wahrheit mit den von ihnen Angeklagten unter einerDecke stecken. Indem er auf dem Platz ist, anerkennen sie seinen Einspruch gegen ihr Tun  und zwar widerspruchlos. Und so wächst in ihnen die Einsicht, dass sie gerade nicht so handeln müssen, wie sie handeln zu müssen meinten. Und so wird aus der Konfrontation eine Konföderation, aus dem Gegensatz ein Miteinander.

Das kommt auch jener Frau zugute, ihr, die sie in den Abgrund der Vergessenheit schicken wollten. Sie bekommt vielmehr eine Zukunft, in der sie neu aufleben darf. „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr“, sagt Jesus zu ihr. Er ist auch eine Schutzmacht für sie. Er schützt sie davor, dass sie nicht in ihre altes, verqueres Leben zurückfällt. Er heißt nicht gut, was sie getan hat, aber er steht trotzdem zu ihr und steht an ihrer Seite. So wird durch ihn aus der Niedergedrückten eine Aufrechte. Er sagt ihr: Nein, ich nagele dich nicht auf deine Herkunft fest, auf deine Vergangenheit, auf deine Fehler, auf deine Verkehrtheit. Tu du das bitte auch nicht. Du musst nicht verkehrt handeln. Du kannst Gutes tun. Du kannst etwas Rechtes mit dir anfangen. Du darfst dich als brauchbarer Mensch erweisen. Du darfst dich als ein hilfreicher Mitmensch hervortun, als ein Bruder, als eine Schwester der Bedrohten. Tu das! Amen.

Eberhard Busch

ebusch@gwdg.de

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