Johannes 8, 3-11

Johannes 8, 3-11

Gebrauchsanweisung für schräge Gerechtigkeit | 10.7. 2022| 4. So.n. Trinitatis | Joh 8,3-11| Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den Sonntag Jubilate steht Joh 8,3-11:

„Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu [Jesus]: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist eine schräge Geschichte, ein Gegenbild zur geglätteten, bereinigten Normalität. Sie gestattet nicht den unmittelbaren Sprung in die Gegenwart und die Sorgen, die im Moment so viele bewegen, wegen der Bombardierung von Odessa oder Slowjansk, wegen des Omikron Subtyps BA.5 und wegen der LNG Terminals für flüssiges Erdgas.

Die Geschichte gibt sich vollständig unmodern. Ehrlicherweise sei gleich am Anfang vermerkt, daß sie in den ältesten Handschriften des Neuen Testaments gar nicht enthalten ist. Mit großer Sicherheit ist sie erst später in das Johannesevangelium eingefügt worden. Aber das ist kein Grund, die Geschichte von der Ehebrecherin nicht ernst zu nehmen und zwischen Brüchen und Abgründen nach Partikeln evangelischen Glaubens zu suchen und sich von ihnen trösten zu lassen.

Denn in diesen zehn Zeilen verbergen sich Abgründe und Fallstricke, die den roten Faden mehrfach abreißen. Am Anfang stehen männliche Richter, empörte Schriftgelehrte und fordernde Pharisäer. Am Ende steht eine Sünderin, die nicht verurteilt wurde. Am Anfang stehen eine Anklage und die Forderung nach Vollstreckung einer grausamen Todesstrafe. Am Ende ergibt sich ein verblüffender Freispruch trotz klarer Schuld und Verurteilung. Am Anfang steht so etwas wie eine Gerichtsverhandlung, am Ende steht ein Lob der Gleichberechtigung und der menschlichen Größe. Am Anfang stehen Prinzipientreue und Gesetzesgehorsam, am Ende stehen Menschlichkeit und Liebe. In dieser Geschichte verändert sich alles: Nichts bleibt, wie es am Anfang war. Der rote Faden wird mehrfach abgeschnitten, dann neu gewebt und zusammen geknotet.

Pharisäer und Schriftgelehrte haben eine junge Frau beim Ehebruch ertappt und stellen sie vor Gericht. Die Thora, das Gesetz des Mose ist in diesen Fragen eindeutig: Wenn eine Frau die Ehe bricht, soll sie gesteinigt werden. Wir empfinden das heute als eine grausam archaische Strafe, zumal diese nur für Frauen galt, während die Männer in der Regel mit dem Leben davon kamen. Die Schriftgelehrten brachten den Fall vor, um Jesus in Versuchung zu führen. Wenn er Verurteilung und Vollstreckung zustimmt, dann ist er kein besonderer Prophet; er bleibt innerhalb der bestehenden Gesetze. Wenn er beides ablehnt, dann lehnt er sich gegen das geltende Gesetz auf. Die Frage der Schriftgelehrten zwingt den Lehrer aus Nazareth zu einer Antwort. Aber Jesus verweigert sich dieser Antwort. Da bricht der rote Faden das erste Mal ab.

Jesus schweigt.

Stille kehrt ein.

Die Schriftgelehrten werden ungeduldig. Und Jesus fängt an, mit dem Finger auf dem Boden zu malen. Er schreibt Buchstaben in den Sand. Die Ungeduld der Umstehenden wird immer größer. Bis heute besitzen wir keine schriftlichen Aufzeichnungen von Jesus. Ein einziges Mal, in dieser Geschichte, ist davon die Rede, daß er schreibt. Aber was er da aufgeschrieben hat, hat längst der Wind verwischt, die Buchstaben im Sand haben sich aufgelöst. Deswegen haben sich viele Ausleger gefragt, was er da geschrieben haben könnte. Und ihnen fiel eine Stelle aus dem Propheten Jeremia ein: „Denn du, Herr, bist die Hoffnung Israels. Alle, die dich verlassen, müssen zuschanden werden, und die Abtrünnigen müssen auf die Erde geschrieben werden; denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers.“ (Jer 17,13) Danach hätte Jesus den Namen der beschuldigten Frau auf den Boden geschrieben, vielleicht noch andere Namen, die ihm in den Sinn kamen, vielleicht sogar die Namen der Umstehenden, denn diese, so wird sich gleich im Fortgang zeigen, waren ja auch nicht ganz unschuldig.

Die Schriftgelehrten ertragen diese Spannung nicht. Sie wiederholen immer ungeduldiger ihre einzige Frage, offensichtlich weil sie spüren, daß sie den Mann aus Nazareth in eine unangenehme Ecke gedrängt haben, aus der er nicht entkommen kann.

Schreiben und Schweigen dauern an und ziehen sich in die Länge. Die Frage der Schriftgelehrten sollte ein Gespräch in Gang setzen. Wer anfängt zu schreiben, wenn ihm eine Frage gestellt wurde, der reagiert paradox – auf der unerwarteten Sandebene, gebückt und am Boden. Ich stelle mir vor, wie das Schweigen Jesu die Umstehenden immer nervöser gemacht hat. Schreiben und Schweigen werden unerträglich. Was macht er da? Wieso redet er nicht mit uns? Die anklagenden Schriftgelehrten werden nervös, bleiben aber siegesgewiß. Die angeklagte Frau scheint verängstigt. Die Jünger sind erstaunt. Je länger die Pause dauert, desto mehr steigt die Erwartung an die Antwort. Jetzt aber muß mehr kommen als Verurteilung oder Freispruch: eine Antwort auf die gestellte Frage und zugleich die Auflösung der entstandenen Spannung. Wie geht das aus?

Nun kippt die Geschichte ein zweites Mal. Jesus hört auf zu schreiben. Offensichtlich hat er genügend Namen gesammelt. Oder ihm ist nun die treffende und schlagende Antwort eingefallen. Aber zu aller Überraschung läßt er sich nicht dazu hinreißen, die Frage der Schriftgelehrten zu beantworten. Der Erzählfaden bricht erneut ab. Die Antwort Jesu geht gar nicht auf die Anklage ein, sondern macht die Haltung der Kläger zum Thema. „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“

Jesus reißt vieles wieder auseinander, was vorher ineinander verschachtelt war. Denn die Schriftgelehrten waren ja gleichzeitig Ankläger der ehebrechenden Frau und Vollstrecker des Urteils, was heute völlig unmöglich wäre. Durch die Antwort Jesu werden die Ankläger nun zu Angeklagten. Die Verhältnisse werden vom Kopf auf die Füße gestellt. Und im übrigen – der nächste Bruch: Mehr als diesen einen Satz läßt sich der Prediger aus Nazareth nicht entlocken. Er fängt wieder an, Buchstaben in den Sand zu kritzeln.

Ich könnte mir nun vorstellen, daß unter den schriftgelehrten Männern sehr aufgeregte Diskussionen ausbrachen über diese unverschämte Behauptung. Ich könnte mir vorstellen, daß sie die Köpfe zusammensteckten, um eine angemessene, protestierende Replik zu formulieren. Aber das geschieht nicht. Die Erzählung sagt: Es herrschte Stille. Jesus schrieb in den Sand. Und die Schriftgelehrten gingen einer nach dem anderen aus dem Raum heraus. Offensichtlich fühlten sie sich ertappt. Offensichtlich erinnerten sich alle ohne Ausnahme an irgendeinen Verstoß gegen die Gesetze des Mose, angefangen von den zehn Geboten bis hin zu den Ritual- und Speisevorschriften. Aber wenn alle Sünder sind, was ist dann die Funktion des Rechts? Soll gar nichts mehr bestraft werden?

Der, der in die Rolle des Richters gedrängt wurde, wird mit einem, seinem Satz zum Rechtsphilosophen. Die Ankläger fühlen sich plötzlich wie ertappte Angeklagte und schleichen davon. Jesus schreibt weiter auf dem Boden. Nur die als Ehebrecherin angeklagte Frau steht noch vor ihm. Offensichtlich weiß sie nicht, was sie tun soll.

Nun bricht der rote Faden ein drittes Mal ab, denn an dieser Frau, obwohl sie keineswegs unschuldig ist, wird keineswegs ein Urteil vollstreckt, schon gar nicht eine grausame Steinigung. Der nazarenische Rechtsphilosoph, der alle als schuldig entlarvt hat, beläßt es vielmehr bei einer Art mündlichen Verwarnung: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Das klingt so wie die Ermahnung des Schutzpolizisten: Das nächste Mal warten Sie bitte an der roten Ampel.

Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Und die Frau verläßt wie ihre Ankläger den Raum. Irgendwann muß Jesus dann ja mit dem Schreiben in den Sand aufgehört haben. Wenn ich ehrlich bin, ich hätte mir noch eine Erläuterung gewünscht, vielleicht gegenüber den Jüngern, die nicht erwähnt werden, aber vermutlich die ganze Szene beobachtet haben.

Das Gesetz der Thora bleibt umstritten. Die Schriftgelehrten fordern die Anwendung der bestehenden Regeln: Wo wir würden wir sonst hinkommen? Die nur ermahnte Frau dürfte erleichtert gewesen sein. Und Jesus, der im Johannesevangelium so häufig längere Reden von religionsphilosophischer Tiefe hält, ist in dieser Geschichte auffällig schweigsam. Stattdessen verlegt er sich auf das Schreiben. Alles zusammengenommen, bleiben mehr offene Fragen als Lösungen. Der rote Faden bricht mehrfach ab. Die Geschichte wirkt um so rätselhafter, je genauer Betrachter, Leser und Hörer ihren Blick darauf richten.

Liebe Schwestern und Brüder, es hat seine Tücken, stets nur oberflächlich auf der Einhaltung von Regeln zu bestehen. Man gerät in die Gefahr eines gewissen sturen Formalismus, der die besonderen Bedingungen einer Situation nicht berücksichtigt. Deswegen gilt bis heute, daß in schwierigen Fällen ein Gremium aus Richtern und Schöffen, eine Gruppe von Geschworenen entscheidet. Sie treffen die letzte Abwägung, ob ein Angeklagter schuldig ist oder nicht. Und wer abwägt, der kann Details bewerten, der kann im Zweifelsfall auch freisprechen, wozu in vielen Rechtssystemen als Lösung bei unklarer Beweislage ausdrücklich aufgefordert wird. In einfachen Fällen braucht es solch eine Abwägung nicht. Wenn die Radfahrerin bei Rot eine Ampel überquert und dabei fotografiert wird, braucht es keine Gerichtsverhandlung zur Abwägung der Indizien.

Wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, dann können Richter entscheiden, ob sie die Gesetze stur und gnadenlos oder human und rücksichtsvoll anwenden. Und hier scheint die theologische Pointe dieser Geschichte von der Ehebrecherin auf. Gesetze reichen nicht aus, um fromm und nach Gottes Willen zu leben. Es braucht darüber hinaus die Überzeugung, daß Gott, der hier als letzter Richter über das Leben von Menschen vorgestellt wird, nicht nur einfach die Regeln anwendet, sondern im entscheidenden Moment auch innehält, pausiert – oder gar schweigt.

Jesus schweigt, weil er auf der einen Seite sicher ist, daß Ehebruch zu verurteilen ist, das hat er an mehreren anderen Stellen gesagt. Auf der anderen Seite sieht er Not und Umstände der Angeklagten. In solchen schwierigen Situationen sind keine eindeutigen Lösungen vorgegeben, sondern sie brauchen Abwägungen, Kompromisse und Phantasie für originelle Lösungen.

Menschen brauchen Regeln, Orientierungen und Gesetze – das ist richtig. Aber sie geraten auch in Situationen, in der die eine oder die andere Entscheidung gleichermaßen falsch ist. Die antike Dramentheorie hat das Tragik genannt. Jesus läßt sich in diesem Fall nicht zum ausführenden Organ abstrakter, menschenfremder Gesetze machen. Er findet einen kreativen Ausweg: Geh und sündige hinfort nicht mehr.

Und Jesu Schweigen, Schreiben und Reden gewinnt genau darin eine besondere theologische Dimension. Denn der Jesus des Johannesevangeliums läßt sich nicht von Gott, dem Vater trennen. Dieser Jesus sagt an mehreren Stellen: „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30 passim, vgl. auch Joh 8,16) Auch Gott wird nicht einfach von den Menschen die sture Befolgung von Gesetzen einfordern. Die Pointe besteht darin, daß das göttliche Gericht auch von der Menschlichkeit Jesu bestimmt ist. Ein Leben geht nicht darin auf, daß es an der Einhaltung aller Vorschriften gemessen wird.

Liebe Gemeinde, der evangelische Kern dieser Geschichte ist schwer zu finden. Man muß erst große Mengen an Ablagerungen von moralischem Überlegenheitsgefühl, Besserwisserei und klerikaler Verharmlosung abtragen. So freigelegt, wird diese Geschichte um so wertvoller. Amen.

PD Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Privatdozent für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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