Johannes 8, 3-11

Johannes 8, 3-11

Joh. 8, 3-11
Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau zu ihm,
beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen
zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen
worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen.
Was sagst du? Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen
könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger
auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich
auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe
den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb
auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach
dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der
Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte
sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand,
Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und
sündige hinfort nicht mehr.
Lieder: 455 – 432 – 430 – 235 – 461 (Gottesdienst mit Abendmahl)

Liebe Gemeinde,
es gibt unauslöschliche Szenen in der Kultur des Abendlandes …
nicht wegzudenken aus der geistigen Welt unserer Gesellschaft – als
Urbilder verschiedener Lebensaspekte stehen sie vor uns …

… das trojanische Pferd … als Sinnbild für List
… die Kreise des Archimedes … als Zeichen der Wissenschaft
… Sisyphus und Prometheus … Vergeblichkeit und Forscherdrang
… Kain und Abel … Bruderschaft und Brudermord
… auch David und Goliath … Überlegenheit des Unterlegenen …

… und das Abendmahl Christi mit seinen Jüngern: Gemeinschaft
in Geist und Herz

Die beschuldigte, vor Steinigung gerettete Frau aus dem Johannes-Evangelium
steht nicht in der ersten Reihe, die eigenartige Kraft ihrer Geschichte
erschließt sich nicht so unmittelbar, wie die Mühe des Sisyphus
oder die Kraft Davids, und doch ist diese Frau nicht wegzudenken aus
unserer Kultur, ein Text, der aus dem Kanon des Neuen Testaments eigentlich
schon ausgeschieden war, der sich spät noch hineingedrängt
hat, vielleicht gegen den Widerstand derer, die die umwerfende, umstürzende
Kraft dieser Episode spürten, aber das wissen wir nicht.

Was geschieht? Die Ordnung eines Sozialwesens wird empfindlich gestört,
eine todgeweihte Frau kommt mit dem Leben davon, trotz ihrer Verstöße
gegen die Gebote ihrer Gesellschaft vor 2000 Jahren … sie kommt mit
dem Leben davon … für diesmal. Wie es mit ihr weiter geht, erfahren
wir nicht, sie bleibt unbenannte Randfigur, in den Evangelien, in der
Geschichte der Christenheit, aber als Randfigur bezeichnet sie eine
Grenze, die durch diese Geschichte nicht mehr Grenze bleibt, sondern
in die Mitte rückt:

Liebe Gemeinde, diese Geschichte hat geholfen, die Welt zu verändern,
der Rand der Randfiguren rückt in die Mitte, weil sich alle als
Randfiguren erkennen müssen. „Wer unter euch ohne Sünde
ist …“ Jeder stört auf die eine oder andere Weise die Ordnung,
vielleicht nicht durch Ehebruch, aber durch Habgier und Ehrgeiz, überhaupt
nicht durch einzelne, zu identifizierende Taten, für moralische
Beckmesser ist kein Platz, sondern einfach durch unabsehbare Folgen
seines Handelns … das Gutgemeinte verkehrt sich in sein Gegenteil,
keiner kann mehr sicher sein, dass er im Zentrum der Gesellschaft steht.

In anderen Geschichten Jesu vom Himmelreich könnte man den Rand
noch am Rand suchen, an den Hecken und Zäunen etwa, da könnte
man sich den Bedürftigen und Hilflosen barmherzig zuwenden. In
dieser Geschichte aber rückt der Rand in die Mitte. Die Randposition
wird radikalisiert. Alle stehen am Rand, alle gefährden das Zusammenleben,
einfach durch ihre Existenz: „Wer unter euch ohne Sünde ist
…“

In alten, in traditionellen Gesellschaften damals wie heute gibt es
klare Antworten auf die Frage nach „gut“ und „böse“,
da gefährdet Ehebruch das soziale Gefüge, wie Diebstahl und
Totschlag oder üble Nachrede oder Gotteslästerung. Da stand
und steht am Rand, wer gegen die Gebote verstieß, und der Verstoß
ließ sich klar feststellen. Alte Gesellschaften sind durch Recht
geordnet und werden durch das Gewaltmonopol berechenbar verwaltet, berechenbar,
solange das Gewaltmonopol ein Monopol bleibt. Wird die Ordnung alter
Gesellschaften brüchig, wodurch auch immer, durch Globalisierung,
durch Begegnung mit ganz anderem, durch neue Erfindungen, … dann greifen
die Mechanismen der Selbstverteidigung des Gemeinwesens:

Sichtbare Sühne, durch spitze Steine, scharfe Schwerter, giftige
Spritzen oder elektrische Stühle – das sind zeitlose Forderungen
einer herausgeforderten Gesellschaft, Stabilisierung der Ordnung durch
markige Gesten und durch Opfer, immer wieder durch Opfer, wer die Gesellschaft
zu sprengen droht, muss geopfert werden … wenn sich Schuld personalisieren
lässt, kann die Gesellschaft wieder in Ordnung kommen, die Ordnung
fordert Opfer, entlastende Einzelne, denen man mit gutem Recht, nach
menschlichem Ermessen und menschlicher Ordnung Schuld zusprechen kann,
Todesstrafe und Todesopfer … dann sind alle anderen für diesen
Moment entschuldet, entschuldigt … wie viele Hinrichtungen hat diese
Welt schon gesehen, um die Ordnung zu retten, damit nicht das ganze
Volk verderbe … In revolutionären Zeiten, wenn die Ordnungen
besonders brüchig geworden sind, wechseln solche Schuldzuschreibungen
von Tag zu Tag, dann sind selbst die Zentralfiguren mit einem Mal an
den Rand gedrängt, da wird der König enthauptet und Robespierre
auf die Guillotine gezerrt. Selbst Revolutionen folgen noch dem Muster
alter Gesellschaften; zwar wechselt das Gewaltmonopol täglich und
damit auch die Entscheidung über das Entscheidende, über Gut
und Böse. Dass aber jeder sich gegen die Ordnung vergeht, das Bewusstsein,
dass niemand ohne Sünde ist … das bedeutet einen strukturellen
Wandel der Gesellschaft. Nicht dass der Richter plötzlich gehenkt
würde, die Steinewerferin selbst in den Mittelpunkt der Anklage
geriete, nein: Alle sind angeklagt, alle verletzen die soziale Ordnung.

Zwei Aspekte hat dieser Wandel, einer ist uns ganz selbstverständlich
geworden: Wenn alle schuldig sind – wer unter euch ohne Sünde ist!
– dann sind auch alle mit verantwortlich; daran zweifelt heute keiner,
das gilt als große Errungenschaft, die Rechte der einzelnen sind
gesteigert … Darin – und nur darin – ist unsere Gesellschaft richtig
modern, dass alle als mit verantwortlich gesehen werden. Aber der negative
Horizont, alle sind schuldig, wird übersehen.

Aber ein anderer Aspekt gehört unverzichtbar dazu, damit die
erste Behauptung von der allgemeinen Verantwortung überhaupt Sinn
macht: Die neue Ordnung ist Gottes Ordnung … und Gottes soziale Ordnung
ist ein Idealbild des Gemeinwesens, in dem alle, wirklich alle, gemeinsam
gut leben können. Gegen diese Ordnung verstoßen alle immer
wieder, einfach durch unvermeidliche Selbstbezogenheit.

Alle sind verantwortlich für die gute Ordnung Gottes, und alle
scheitern an diesem Anspruch. Man hat fast den Eindruck, als ob Jesus
vor der letzten Konsequenz seiner Gedanken selbst zurückweicht:
„Sündige hinfort nicht mehr.“ Da wir gegen Gottes gute
Ordnung alle sündigen, kann Jesus mit diesem Nachsatz nur die alte
Ordnung meinen: Achte die Ordnung, die ihr Menschen euch gebt, auch
wenn ich Dich, Frau, jetzt unter Berufung auf eine bessere, höhere
Ordnung befreit habe, eine Ordnung, die nicht durch Opfer stabilisiert
werden muß, eine Ordnung, die sich auf Vertrauen gründet.

Ist der Gedanke von einer Ordnung, an der alle schuldig werden, nicht
unsinnig? Kann man die Unterschiede in der Verlässlichkeit und
Vertrauenswürdigkeit, in Engagement und Verantwortlichkeit derartig
einebnen?

Die Szene mit der Frau ist eine Schlüsselszene der Menschheit
… den Ordnungen durch Macht, durch Sanktionen und Opfer wird eine
Ordnung entgegengesetzt, die sich auf Vertrauen gründet. Die Achtung
von Recht und Ordnung gründet nun auf Einsicht, nicht mehr auf
Zwang: „Sündige hinfort nicht mehr, achte die alten Ordnungen,
Ihr braucht sie doch.“

Liebe Gemeinde, wie soll eine Gesellschaft funktionieren, wenn alle
mitverantwortlich sind, wenn Einsicht und Vertrauen dominieren? Sind
die demokratischen Gesellschaften der Gegenwart nicht gerade Beispiele
dafür, dass das gar nicht funktionieren kann, dass durch die Beteiligung
der vielen gerade neue, unkontrollierte Herrschaftsverhälttnisse
entstehen?

Es ist ein wesentliches Kennzeichen der Ordnung nach Gottes Willen,
der Ordnung des Zusammenlebens durch Einsicht und Vertrauen, dass man
sie nicht prinzipiell absichern kann: Man kann nur persönlich für
sie eintreten und damit die Hoffnung auf ein solches freies Zusammenleben
nähren.

Und es gibt immer wieder solche persönlichen Zeugnisse:

Eine Frau, die die Zwillingsversuche in Auschwitz überlebt hat,
berichtet dieser Tage in Berlin von ihrem Schicksal und endet nicht
mit Rachegedanken, sondern mit dem Aufruf zur Vergebung: Die Schuld
kann nicht gesühnt werden, Täter und Opfer werden nur zur
Ruhe kommen, wenn die Schuld vergeben wird, wenn die Täter sich
nicht lebenslänglich in der Stille schämen müssen und
die Opfer nicht unaufhörlich in ihren Wunden wühlen müssen.

Noch entschiedener kann man Person und Werk kaum trennen, das grässliche
Verbrechen ist das eine, und die Person das andere … mit menschlicher
Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit als Rache benutzt, wird alles nur schlimmer,
wird nicht das Verbrechen nicht aus der Welt geschafft. Linderung des
Leids ist nur Möglichkeit durch Vergebung.

Eine hochriskante Gestaltung des Lebens, Schuld und Verantwortung
festzustellen, aber die Schuldigen die Rache nicht spüren zu lassen,
Strafe und Sühne zu ersetzen durch Vergebung. Ich bin mir nicht
sicher, ob dieses Prinzip die Welt am Leben erhielte. Aber es entspricht
vielfältiger Erfahrung, dass Vertrauensvorschuß und Vergebung
das Leben lebenswerter machen, mehr Kreativität, mehr persönliche
Freiheit und Phantasie zulassen.

Man täusche sich nicht über das Risiko, Jesus handelt wirklich
gefährlich; er tritt auf die Abbruchkante der Gesellschaft – es
ist ja nicht so, als ob mit Jesu Eintreten für den Zöllner
Zachäus oder für die Frau mit den Lebensabschnittspartnerschaften
die gesellschaftlichen Probleme der Ausbeutung oder der Promiskuität
einfach vom Tisch seien.

Eine moralisierende Kritik an sexuellen Praktiken ist durchweg nutzlos
und schädlich, damit ist im Laufe der Kirchengeschichte viel zu
oft Qual und Verfolgung über Frauen gebracht worden, und sie ändert
eben gerade nichts an der aktuellenProblematik der Aids-Epidemie, die
sich in Afrika und in den GUS-Staaten wie ein Buschbrand verbreitet
und wohl kaum durch Bluttransfusionen, sondern durch sexuelle Aktivitäten
weiter angefacht wird, die moralisierende Kritik aber hilft nicht, sondern
schüchtert ein, und hindert so verantwortliches Handeln.

Jedoch: Der Glaube lebt eben nicht von Sicherheiten, sondern von der
Hoffnung auf ein anderes, auf ein freieres und weiteres Leben, das ansatzweise
immer wieder in unsere Erfahrung eindringt, – schon wenn ich jeden Morgen
wieder aufstehen darf, ohne mich von der Verantwortung niederdrücken
zu lassen, die ich gestern auf mich geladen habe (All morgen ist ganz
frisch und neu …!), – auch wenn mir Freunde freundlich entgegenkommen,
die ich lange links liegen gelassen habe … oder wenn mir leichtfertig
schnell gesprochene Worte von einem Betroffenen verziehen werden und
wenn ich im Abendmahl erlebe, wie ich durch den Glauben, nicht durch
das Leben fremden Menschen auf einmal tief verbunden bin.

Amen.

Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost, Bonn
Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger

an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
E-Mail: r.schmidt-rost@uni-bonn.de

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