Johannes 8,21-29

Johannes 8,21-29

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Reminiscere,
11. März 2001

Predigt über über Johannes 8,21-29, verfaßt
von Richard Engelhardt


Anmerkung

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte vom brennenden Dornbusch (2. Mose
3) – viele werden sie kennen – erzählt davon, dass Mose auf die
wundersame Erscheinung hin, dass der Busch nicht verbrennt, herantritt und von
Gott angesprochen wird. Der Gott, der Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und
Jakobs, gibt ihm den Auftrag, sein Volk aus Ägypten herauszuführen,
aus der Not der Unterdrückung. Mose fragt nach dem Namen Gottes, um sich
vor seinem Volk ausweisen zu können, um seine Vollmacht nachweisen zu
können. „Gott sprach zu Mose: ICH BIN, DER ICH BIN.“

Die Juden, mit denen Jesus das Gespräch
führt, das Johannes in unserem Abschnitt aus dem Evangelium berichtet,
kannten die Geschichte vom brennenden Dornbusch und dem Wort Gottes: ICH BIN;
der ich bin. Jedes Jahr hatten sie es einmal im Sabbatgottesdienst gehört.
Untrennbar war für sie mit diesem Wort der Name Gottes verbunden. Ihre
Frage an Jesus: „Kann ich Ihren Ausweis sehen?“ Bei ihnen schwingt in
dieser Frage auch Erschrecken und Entsetzen mit. Hat doch dieser Jesus von
Nazareth ihnen gegenüber gerade etwas gewagt, was nach all ihrem Wissen,
ihrem Glauben, ihren Ordnungen nur Gott zusteht.

„Wenn ihr nicht glaubt, dass ICH BIN, werdet
ihr sterben in euren Sünden“. Ein Mensch, dieser Jesus von Nazareth,
maßt sich an, was ausschließlich Gottes ist. Er sagt: ICH BIN.

Wenn Jesus sagt: „Ich bin das Licht der
Welt“, kann man mit ihm darüber streiten oder diskutieren. Wenn er
sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“, dann kann man
nachfragen, wie man das verstehen soll. Aber zu sagen: ICH BIN und wenn Ihr das
nicht glaubt, dann werdet Ihr sterben, das geht für jeden frommen Juden
entschieden zu weit, viel zu weit, nämlich in die Nähe Gottes.
Dorthin darf kein Mensch. In Gottes Nähe sind die Cherubinen, die
himmlischen Heerscharen. Der Platz des Menschen ist auf dieser Erde. Hier hat
er sich um die Ordnungen Gottes, des Herrn, zu mühen, IHN zu loben, und
die Wohltaten aus SEINER Hand dankbar anzunehmen.

Und nun kommt da einer und sagt, das ist zwar
alles richtig, aber vor allem ist Gott der Vater. Von Gott als seinem Vater,
dessen Willen er kennt, spricht dieser Jesus. Er redet von einem Gott, der
offenbar ganz nahe ist, der die Überwindung des ewigen Todes und die
Befreiung von Schuld verheißt, der ein Gott der Liebe ist. Gott, der
Vater, läßt die Sünde nicht mehr zu, diese Trennung zwischen
ihm und seinen Kindern. Und dieser Jesus sagt sogar: „Ich und der Vater
sind eins.“ Das übersteigt das Fassungsvermögen der frommen
Juden, die gekommen sind, mit Jesus ein religiöses Gespräch über
Gott und die Welt zu führen.

Auf ihr Unverständnis, ja sogar ihr
Entsetzen, reagiert Jesus scheinbar unangemessen hart: „Was rede ich
überhaupt noch mit euch!“ Ihr seid doch gefangen in euren Dogmen, in
euren Vorurteilen. Ihr werdet ja doch tun, was ihr euch schon vorgenommen habt.
Ihr werdet mich hinrichten, „erhöhen“ ans Kreuz. Ich kann nicht
mehr mit euch reden, denn ihr hört nicht zu, ihr wollt auch gar nicht
zuhören. Ihr habt Angst, dass euch das Zuhören selbst in Frage
stellt, dass ihr plötzlich etwas sehen könnt, was euch bisher
verborgen war. Nein, mit euch zu reden, hat keinen Sinn mehr. Aber: „Ich
habe viel über euch zu reden.“

Und das, liebe Gemeinde, was Jesus über die
Menschen sagt, die da mit ihm in diesem merkwürdigen Gespräch sind.
Wenn wir darauf genauer hören, werden wir mit einem Mal merken, dass Jesus
nicht nur über die Menschen damals redet, sondern auch über uns. Und
wenn wir uns auf diese Sätze Jesus einlassen, dann werden wir – Gott
gebe es – merken, dass Jesus nicht nur über, sondern auch mit uns
redet.

Natürlich können wir uns nicht mit den
Menschen vergleichen, die bei diesem Gespräch dabei waren. Wir können
dies vor allem deswegen nicht, weil wir die „Erhöhung“ des Jesus
von Nazareth kennen, seinen Tod am Kreuz, und ihn als unseren Heiland glauben,
den Gott in der Auferstehung erhöht und ihm den Namen gegeben hat, der
über allen Namen ist. Erlösung ist für uns nicht mehr ein
ausschließlich zukünftiges Ereignis, zu dem Jesus sagt: „Denn
werdet ihr erkennen, dass ICH BIN“. Wir leben danach und bekennen, dass
Jesus Christus wahrhaftiger Gott und auch wahrhaftiger Mensch ist.

Aber da beginnen schon unsere Probleme. Glauben
wir das wirklich? Anders gefragt: Hat das Bekenntnis zu Jesus dem Christus als
wahrem Gott und wahrem Menschen im alltäglichen Leben eine Bedeutung? Wenn
jemand sagt, Jesus sei ein bedeutender Lehrer gewesen, stimmen wir
natürlich zu. Dass Jesus ein edler Mensch war, der für seine
Überzeugung schließlich gestorben ist, glauben sicher viele von uns.
Auch als Vorbild, dem wir folgen können, akzeptieren wir ihn. Und vielen,
die keine Christen sind, können wir diese Bilder Jesu vermitteln. Aber das
Entscheidende fehlt: unser Glauben: Jesus der Christus. Jesus, der von sich
sagt: ICH BIN. Der damit sagt: „Der mich gesandt hat, ist mit mir. Der
Vater läßt mich nicht allein.“

Wo wir dieses Bekenntnis nicht mehr wagen, dass
wir nicht nur an Gott, sondern an Gott den Vater unseres Herrn Jesus Christus
glauben; wo wir es nicht mehr wagen, von Gott als dem Vater und dem Sohn zu
sprechen, da sind wir dann in der Lage derer, die nichts verstehen, die nichts
verstehen können, weil sie im eigentlichen Sinn gottlos sind, nur von
dieser Welt sind.

Dreimal überliefert Johannes den Ausspruch
Jesus: „Ihr werdet in euren Sünden sterben“. Viele verstehen das
als Drohung. Einer der ganz großen Theologen des vergangenen
Jahrhunderts, Rudolf Bultmann, meint, Jesus würde damit sagen wollen: Es
gibt eine Zeit, in der es zu spät ist. Erkennt jetzt, dass ich der Sohn
Gottes bin, bevor es zu spät ist, sonst werdet ihr in euren Sünden
sterben.

Ich denke mir, Jesus droht hier nicht. Er redet
von Gott und Gottes Willen und vom Menschen und seiner Gefangenheit in sich
selbst. Mit Jesus, dem Sohn Gottes, kommt Gott den Menschen nahe. Die Gottferne
ist vorbei. Der Gott, der den Menschen durch Gebote und Ordnungen zu einem
einigermaßen erträglichen Leben verhalf, den Menschen dabei aber
immer in Ferne zu ihm, beließ, und genau das heißt Sünde.
Dieser ferne Gott kommt durch seinen Sohn ganz nahe. Jetzt ist da einer, der
Gottes Willen tut, der Gottes Wort redet, der Gottes Weg geht, der mit Gott
eins ist. Diesem Jesus als Sohn Gottes, als Christus zu vertrauen – und
heißt, an ihn zu glauben – hebt die Gottesferne, die Sünde auf.

In unserem ganz normalen Alltag können wir
uns in diesem Glauben an den durch Jesus Christus nahen Gott geborgen
fühlen. Nicht mehr ein drohender und strafender Gott steht weit über
uns, sondern der nahe Gott hilft uns auch da auf, wo wir straucheln und unsere
Wege gehen. Der Apostel Paulus sagt es so:

„Wer will verdammen? Christus ist hier, der
gestorben ist, ja viel mehr, der auch auferweckt ist. Er ist zur Rechten Gottes
und vertritt uns.

Ich bin gewiß, dass weder Tod noch Leben,
weder Engel noch menschliche Gewalt, weder Gegenwart noch Zukunft, weder Hohes
noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe
Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herren.“

Von Martin Luther wird erzählt, er habe
gesagt: „pecca fortiter!“ Auf deutsch heißt das: Sündige
tapfer! Natürlich fordert Martin Luther damit nicht auf, ein
sündhaftes Leben fern von Gott zu führen. Aber er weiß, dass
wir Menschen uns der liebenden Gegenwart Gottes nicht immer bewußt sind
und immer wieder in der Versuchung stehen, uns auf unser eigenes Können,
auf uns selbst mit unserer Leistungsfähigkeit, Gesundheit oder
Schönheit zu verlassen, unser eigenes Glück in uns selbst zu finden.
In einer seiner überlieferten Tischreden sagt Luther es so: „ Der
Geist ist wohl willig, aber wir sind ein glimmender Docht, haben nur die
Anfänge des Geistes. Unser Herr Gott muss Geduld mit uns haben.“
Tapfer zu sündigen, heißt dann, zur eigenen Sünde, zur
Gottesferne, sich zu bekennen und mutig in Gottes Hände zu geben, was
unsere nicht tragen können.

Nicht, dass wir Zweifel haben, dass wir uns
gottverlassen fühlen, dass wir immer wieder eigene Wege gehen, –
nicht dies alles trennt uns von Gott und seiner Liebe. All diese Trennungen
aufzuheben, hat Gott seinen eigenen Sohn Jesus Christus auf diese Welt gegeben
und hat ihn den Namen gegeben, der über alle Namen ist. Alle Welt kann
bekennen, dass Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters und
– wie wir hinzusetzen können – zu unserem Heil.

Amen.

Anmerkung: In der Textabgrenzung folgt
Verf. der sehr gründlichen Exegese von Christoph Hinz/Merseburg in GPM
1966/67 (21. Jahrg.) S. 120 ff: „Vers 30ff hinzuzunehmen, bedeutet ein
neues Predigtthema“. Zum „ego eimi“ (ich bin) waren hilfreich
der Spezialartikel von E. Stauffer im ThWB 11, S. 350 ff und Wolfgang Staemmler
im GPM 1956/57 S. 86 ff.

Pastor i.R. Richard Engelhardt
19055 Schwerin
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Tel.: 0385-5815432
Fax: 0385-5815431


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