Johannes 8,42-51

Johannes 8,42-51

Okuli | 03.03.24 | Joh 8,42-51 (dänische Perikopenordnung) | Eva Holmegaard Larsen |

Wir glauben nicht an ein Buch. Wir glauben nicht an einen Text. Wir glauben an Gott.

Der isländische Autor Jon Kalman Stefansson fragt in seinem Roman „Der Schmerz der Engel“[1], ob es in Meschen immer kürzer zur Hölle als zum Himmelreich ist.

Das geschieht in einer Szene, wo eine alte müde Frau mit müden, leblosen Augen in einem faltigen, eingeschrumpften Gesicht und großen groben Händen von einem Jungen betrachtet wird – und der Junge denkt: Wie hässlich ist sie doch! Aber dann schämt er sich und wundert sich darüber, warum es im Menschen immer kürzer zur Hölle ist als zum Himmel.

Und was sollen wir dazu sagen? Wir kennen das gut, andere rasch zu verurteilen. Wir kennen das wahrlich auch gut, uns schnell selbst zu verurteilen. Auch wenn wir wohl wissen, dass viel mehr in uns steckt als andere Menschen sehen können.

Warum ist es so schwer, andere Menschen so zu sehen, wie wir gerne von ihnen gesehen werden wollen? In einem Menschen steckt immer mehr als man unmittelbar sehen kann. Und wenn wir es nicht sehen können oder sehen wollen – ja, dann ist weit zum Himmelreich.

Wir sollen einander betrachten wie wir ein Kunstwerk betrachten. Wenn man vor einem Gemälde steht, ist da unser erster Eindruck – und der kann entweder sein: Nein das ist hässlich, oder: Schön, schöne Farben vielleicht. Ein langweiliges Gemälde, oder ein verwirrendes Kunstwerk.

Aber dann beginnen wir zu sehen, was dahinter liegt. Was will dieses Bild, was liegt da in ihm an Tiefe und Bedeutung, wo man etwas länger verweilen muss, um das zu sehen?

Dahinter und mehr – das ist die Aufforderung des Kunstwerkes. Deshalb sagt die Kunst oft die Wahrheit.

Aber was mit Texten? Was liegt da an Wahrheit in einem Text, wenn wir den Hintergrund sehen und etwas länger dabei verweilen? Heute haben wir einen Text gehört, wo es todgefährlich ist, ihn unausgelegt stehen zu lassen.

Und heute ist es besonders wichtig daran zu denken, dass Jesus kein einziges Wort schriftlich fixiert hat. Dafür haben aber richtig viele über ihn geschrieben.

Und hier im heutigen Text aus dem Johannesevangelium begegnen wir ihm in einer Rede an die Juden, seine Landsleute – Jesus war Jude, in Israel geboren – und er sagt etwas, was den Keim für eine Gefahr enthält. Mehr Gefahr, als ihm selbst bewusst war oder als er voraussehen konnte.

Er sagt: Ihr habt den Teufel zum Vater … Der ist ein Mörder von Anfang an … ein Vater der Lüge.

Eben diese Stelle aus der Bibel ist dazu benutzt worden, Antisemitismus zu verbreiten. In Deutschland konnte man während des Zweiten Weltkriegs auf mehreren Schildern in den Städten lesen: Kein Zugang für Juden.

Und nun sehe ich hier und lese dieselben Worte in einer Zeit, wo der Antisemitismus wieder aufgekommen ist in der ganzen Welt und wo der Konflikt zwischen Gaza und Israel heftige Gefühle aufkommen lässt.

Worte sind gefährlich. Sie sind gefährlich, wenn sie wie in Stein gemeißelt dastehen. Stein-tot. So als stammten sie nicht aus einem dahinterstehenden Leben und als entstammten sie nicht aus einem Kontext oder einer konkreten Situation.

Wenn man einen Text in der Hand hat, kann alles passieren. Manke denke an eine E-mail, im Zorn abgeschickt. Ein Text im Facebook, den man bald bereut, weil man nicht damit rechnen kann, dass der Leser mehr sieht als das, was dort steht – schwarz auf weiß.

Hat man Worte in die Welt gesetzt, ist man anderen auf Gnade und Verderb ausgeliefert. Das gilt auch für Jesus – auch er ist anderen auf Gnade und Verderb ausgeliefert. Daran ist er bekanntlich gestorben. Aber selbst am Kreuz vergab er seinen Henkern. Denn so war er. Ein Mensch, der immer hinter die Dinge blickte und mehr sah.

Er bat für die, die an diesem Tag auf dem Golgatha um ihn herumstanden. Er bat für sie alle, seine Richter und seine Henker und all die passiven Neugierigen und die, die wegsahen. Er vergab mit den Worten: Vater, vergib ihnen – denn sie wissen nicht, was sie tun.

So war er. Ein Mensch, der andere Menschen sah und annahm, die niemand anderes weder sehen noch mit ihnen zu tun haben wollte. Für ihn waren es nicht Juden oder Griechen oder Frauen oder Männer oder Sklaven oder Herren – sie waren einfach Menschen.

Menschen mit einer Geschichte, einem Schicksal, einem Unglück, einem Schmerz oder einem Lebensweg, der sowohl das Ergebnis eigener Wahl war – aber auch von Zufällen, Ereignissen und Lebensbedingungen. Er nahm sie an, er sah, tröstete, bezog sie ein – und darum haben wir Vertrauen zu Gott. Denn Jesus verwies auf einen Gott, der uns Würde verleiht und für den wir immer mehr sind, als wir zu sein scheinen.

Und nimmt man ein Zitat von diesem warmherzigen, offenherzigen und liebevollen Menschen und verwendet es dazu, Rassismus und Gewalt zu legitimieren – so ist das vielleicht genau das, was damit gemeint ist, dass man „die Lüge zum Vater hat“.

Das Johannesevangelium ist etwa 70 Jahre nach dem Tod Jesu geschrieben. Und in diesen 70 Jahren ist viel geschehen. Der aufkommende neue Glaube, der dann später Christentum genannt wurde, war anfangs nur eine kleine Gruppe Andersdenkender innerhalb des Judentums.

Aber mit der Zeit und der steigenden Anzahl von Christusgläubigen war man genötigt, genauer darauf zu achten, wie man sich von den anderen unterschied – und das führte natürlich zu einem Konflikt. Und diesem Konflikt begegnen wir im Evangelium dieses Sonntags.

Und wenn man unter Druck steht und sich bedroht fühlt, wird der Ton radikal und vereinfacht. Vielleicht hat das dazu geführt, dass dies alles zu einer fast peinlichen primitiven Diskussion darüber führte, wer den Teufel zum Vater hat.

So als ob es der Teufel – um bei der mythischen Sprache zu bleiben – jemals auf ein besonderes Volk oder eine besondere ethnische Gruppe abgesehen hätte, oder auf Geschlecht oder Sexualität. So als hätte der Teufel jemals irgendeine Vorliebe dafür gezeigt, wen er in seiner Zerstörung von Menschen, Leben und Ländern vorzieht.

Lasst uns niemals die eindringlichen und schönen, aber teils auch abstoßenden, rachsüchtigen und konfliktvollen Texte wie ein Kochrezept lesen.

In der Bibel finden sich so viele Eindrücke und Stimmungen wie im menschlichen Leben. Und man denke, wenn das, was wir einander sagen, eins zu eins verstanden würde.

Wenn wir voller Wut auf die Idee kommen zu sagen: Ich will dich nie mehr vor meinen Augen sehen. Oder wenn du dieses und das noch einmal tust, dann bringt mich das um. Oder: Ich überlebe keinen Tag mehr auf dieser Arbeit! Oder: Geh und vergrabe dich!

Wir sagen so viel Blödsinn. Das tut auch die Bibel, weil sie vom Menschenleben handelt und seinen kleinlichen wie auch großspurigen Leidenschaften. Aber wir glauben nicht an ein Buch. Wir glauben nicht an einen Text. Wir hörenauf einen Text und müssen versuchen, ihn zu verstehen mit all dem, was wir davon wissen, ein Mensch zu sein.

Wir glauben nicht an tote Worte, sondern an einen Gott, der warm in uns atmet und uns zu dem ewigen Stück Lehm macht, das geformt und ungeformt und verändert wird.

Wir sind in der Hand Gottes, und deshalb vertrocknen wir nie zu einem unförmigen Klumpen ohne Zukunft und Möglichkeiten im Leben oder im Tode.

Wir glauben, dass der lebendige Gott, der seine Menschen liebt und seine Welt erhält, seine Planeten und Sterne, hinter all den vielen Worten und Sätzen und Erzählungen verbirgt.

Und wir glauben an Jesus Christus, der für uns mit dem Einsatz seines Lebens dem Kampf mit dem Teufel aufgenommen hat – oder wie du nun das Böse nennst. Denn Jesus blickte immer hinter die Dinge, sah das Mehr, das immer da ist, das Mehr, das in uns ist, und das Mehr, das im Leben ist, und das Mehr, das wir vom Tode sagen können.

Er sah das Mehr im Sünder, das wir Mensch nennen können. Und er sah das Mehr im Tode, das wir die Ewigkeit nennen können. Und in diesem Mehr ist die Wahrheit. Und aus dieser Wahrheit kommt die Wärme. Von all diesem Mehr, das nur mit den Augen der Liebe zu sehen ist, kommt die Wärme. Amen.

Pastorin Eva Holmegaard Larsen

Nødebovej 24, Nødebo, DK-3480 Fredensborg

E-mail: ehl(at)km.dk

[1]Harmur Englanna, 2009, Deutsch München 2011

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