Johannes 9, 35-41

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Johannes 9, 35-41

35 Es kam vor Jesus, daß sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn
fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn?
36 Er antwortete und sprach: Herr, wer ist’s? daß ich an ihn glaube.

37 Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet,
der ist’s.
38 Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
39 Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit,
die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.
40 Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn:
Sind wir denn auch blind?
41 Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde;
weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.

Im Glauben sieht man Jesus

1. Gegen Abend spielen Kinder auf einem Sportplatz Fußball. Es
ist Herbst, die Bäume und Büsche haben Herbstfarben. Es regnet,
und der Platz ist nass geworden. Die Spieler und der Fußball sind
schmutzig und grau. Die Mannschaft läuft gegen das Tor. Noch eine
Abgabe und dann ein harter Schuss. Im letzten Moment gelingt es dem
Torwart, den Ball abzuwehren. Er schießt ihn weit in das Gebüsch.

Aber wo steckt der Ball? Er ist weit in das Gebüsch geflogen.
Es ist schon dämmerig geworden, die Büsche sehen dunkel aus
und der Ball ist nass und schmutzig. Zuerst sucht der Torwart den Ball,
dann einige Spieler seiner Mannschaft und zuletzt alle gemeinsam. Man
läuft im Gebüsch hin und her, aber der Ball bleibt verschwunden.
Endlich ordnen sich die Spieler in einer Kettenlinie und gehen langsam
vor. Nach einigen Minuten ruft einer von den Spielern: „da ist
er“. Nach und nach bemerken auch die anderen den Ball. Er ist nicht
leicht zu finden, aber wenn man weiß, was man sucht und wo, findet
man ihn. So kann das Spiel fortgesetzt werden.

2. Im Leben kommen gibt es oft Situationen, in denen man nichts sehen
kann, obwohl man sich sehr anstrengt. Und plötzlich gestaltet sich
das Bild. Wenn man mit dem Auto im Dunkeln fährt, kann man nicht
immer bemerken, ob ein anderes Auto kommt oder nicht. Wenn man ein Puzzle
sammelt, ist es oft schwer zu sehen, welcher Teil des Bildes in einem
einzigen Stück steckt. Wenn das Stück an seinem richtigen
Platz ist, kann man das Bild gewöhnlich leicht erkennen. In der
Psychologie hat man Bilder erzeugt, wo gleichzeitig zwei Objekte dargestellt
sind, zum Beispiel zwei verschiedene Gesichter. Mit ein wenig Übung
kann man die beiden abwechselnd sehen.

Im Johannes-Evangelium wird über die Situation berichtet, in der
Jesus einen Blinden heilte, aber die Zuschauer stritten darüber,
was sie gesehen hatten. Einige glaubten, dass es um einen ganz gewöhnlichen
Menschen ging, andere dagegen, dass es sich um Gottes Sohn handelte.
Verschiedene Menschen haben unterschiedliche Realitäten. Einige
sahen Gott nicht, obwohl sie es versuchten. Andere sahen die Situation
ganz anders. So wie es schwierig war, den schmutzigen, grauen Ball im
dunklen Gebüsch zu sehen und einige Spieler nur die Menschen neben
sich sahen. Aber als die Augen aufgingen, fanden sie auch den Ball.
Auf die gleiche Weise konnten einige Menschen in Jesus Gott sehen.

Der Glaube verändert unseren Begriff von der Realität. Durch
den Glauben sieht man andere Dimensionen im Leben. Wenn man über
den Glauben die Anwesenheit Gottes in unserer Zeit und im unseren Leben
gesehen hat, wundert man sich, warum man es nicht schon früher
sah. Es ist leicht, im nachhinein darüber zu staunen. Aber dieses
Sehen kann man nicht selbst hervorbringen.

3. Vor einigen Jahren war in der fünften Klasse der Schule ein
Junge. Wir nennen ihn Wilhelm. Er war ein fleißiger Junge. Er
machte seine Schulaufgaben gleich als er nach Hause gekommen war, er
studierte fleißig und konnte mühelos die Fragen des Lehrers
beantworten. Er folge auch dem Schulunterricht sehr aufmerksam. Zuhause
war er auch hilfsbereit. Somit wunderte sich seine Mutter, warum Wilhelm
einmal nicht antwortete. Sie hatte ihn schon zweimal zu sich gerufen.
Aber der Junge saß nur und reagierte nicht. Die Mutter ging zu
ihm und fasste ihn an die Schultern. Hast du nicht gehört, ich
habe dich zu mir gerufen. Wilhelm war überrascht: nein, ich habe
nichts gehört. Die Mutter ließ es dabei, aber sie begann
den Jungen zu beobachten. Wenn man mit ihm diskutierte, schien alles
in Ordnung zu sein. Aber wenn er weiter weg war, antwortete er nicht
mehr. Endlich entdeckte die Mutter: Wilhelm war schwerhörig geworden.
Er hörte nicht, aber er hatte gelernt, an den Lippen abzulesen.
Er hatte niemandem etwas gesagt, er wollte nur ein gewöhnlicher
Junge sein und so sich benehmen.

Es ist leicht zu verstehen, dass er dabei keine Fortschritte machen
konnte. Die Geschichte hat aber ein glückliches Ende. Die Mutter
brachte sein Kind zum Arzt, und der Arzt stellte fest, dass Wilhelm
eine Komplikation nach einer Erkältung hatte. Und als die medizinische
Pflege anfing, bekam er sein Gehör zurück. Aber einige Zeit
hatte Wilhelm als Hörender gegolten, obwohl er nichts hörte.

4. Dieses trifft auch für den Glauben zu. Wilhelm versuchte vorzuspielen,
dass er hört, obwohl er nicht hören konnte. Es ist auch möglich
den Gläubigen vorzuspielen, obwohl man nicht glaubt. Aber auf Dauer
gelingt das nicht. Es gelang dem Wilhelm nicht, und es gelingt auch
nicht dem Nichtgläubigen. Man kann nicht durch Anstrengung Glauben
erreichen, so wie der Taube nicht hören kann. Er mag sich anstrengen
so viel er will, er hört trotzdem nicht.

Im Johannes-Evangelium fragte Jesus denjenigen, der sein Sehvermögen
wiedererhalten hatte: Glaubst du an den Menschensohn?

Der Geheilte wusste, dass er geheilt war, aber er wusste nicht, wer
ihn geheilt hatte. Deswegen antwortete er mit einer Gegenfrage: Herr,
wer ist’s? dass ich an ihn glaube. Darauf antwortete Jesus: Du hast
ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s. Dieses war die entscheidende
Hilfe. Sofort sagte der, dem geholfen wurde: Herr, ich glaube, und betete
ihn an.

Der Glauben entsteht durch die Begegnung mit Jesus. Diese Begegnung
kann im Beten sein, sie kann durch Heilung entstehen, sie kann durch
Bibellesen, durch das geschriebene Wort geschehen. Diese Begegnung kann
auf verschiedene Weisen erfolgen – und dadurch entsteht der Glaube.
Der Glaube ist ein Geschenk Gottes. Wenn man dieses Geschenk erhalten
hat, braucht man nicht versuchen, ein Gläubiger zu sein, man braucht
nicht die Taten Gottes im tagtäglichen Leben zu suchen. So wie
der Ball lange Zeit versteckt blieb und man hat ihn gefunden, und ließ
ihn nicht mehr verloren gehen – auf die gleiche Weise hilft der Glaube,
die Realität anders zu sehen.

5. Der Vater ist vier Wochen auf einer Geschäftsreise. Heute kommt
er zurück, sagte die Mutter ihrem fünfjährigen Sohn.
Sie machen gemeinsam sauber. Der Tisch wird gedeckt, die feinen Kaffeetassen
werden auf den Tisch gestellt und ein großer Sahnekuchen wartet
im Kühlschrank. Dann ziehen sie sich an, und gehen auf den Bahnhof.
Der Inter-City -Zug wird gleich ankommen. Es ist spannend. Hat sich
der Vater nun einen Bart wachsen lassen? Er hat den Rasierapparat im
Badezimmer vergessen, hat die Mutter dem Jungen erzählt. Hat der
Vater Mitbringsel? Es sind viele Leute auf dem Bahnhof, wird der Vater
uns finden, erkenne ich ihn wieder?

Es gibt viele Leute auf dem Bahnhof, denn es die Zeit des Feierabends.
Viele eilige Erwachsene kommen und gehen. Jetzt sollte der Zug des Vaters
kommen, auf dem Bahnsteig fünf. Der Zug hält an, die Türe
gehen auf, die ersten steigen aus und beeilen sich. Aber wo ist der
Vater? Viele mit und ohne Bart steigen aus, aber keiner sieht bekannt
aus. Erkenne ich ihn wieder? Die Leute gehen und kommen und wir warten
und warten. Ich halte mich an der Hand der Mutter fest. Jetzt sieht
die Mutter mich nach und zeigt auf das Ende des Zuges. Dort sind viele
Leute. Aber der letzte, der kommt, scheint dem Jungen bekannt zu sein.
Die Brille und das Lächeln, ja das ist mein Vater. Und jetzt laufen
sie …

6. Beim Warten wird einem kleinen Jungen die Zeit lang. Aber wenn der
Vater kommt, kennt man ihn wieder, obwohl viel Zeit vergangen ist. Das
Wiedererkennen braucht seine Zeit, aber allmächlich erkennt man
die bekannte Gestalt. Wen man kennengelernt hat, erkennt man wieder.

Die Text des Evangeliums berichtet das gleiche über Jesus. Wenn
man gelernt hat, Gottes Werk im Leben zu sehen, ist das Leben nicht
mehr wie früher. In der Mitte von allem Schmutzigem und Grauem
sieht man, dass Gott anwesend ist, dass er betreut und begleitet.

Wenn man zuweilen das Gefühl hat, dass Jesus nicht in der Nähe
ist, kann man sich auf seine Ankunft auf die gleiche Weise vorbereiten
wie der fünfjährige Junge sich auf die Ankunft seines Vaters
vorbereitet hat: Er deckte den Tisch. Wir können die Bibel nehmen
und lesen. Wenn man Jesus nicht sieht, ist es gut zu fragen: Herr wer
ist’s? dass ich an ihn glaube. Und wenn Jesus nahekommt, kann man das
tun, was der Mann im Evangelium getan hat: er betete ihn an. Danach
ist das Leben nicht mehr so wie früher. Man hat Jesus nahe kommen
können. Man braucht nicht mehr zu suchen, man braucht nicht mehr
vorzuspielen, man braucht nicht mehr auf ihn warten. Man sieht ihn!

Prof. Dr. Esko Ryökäs
Universität zu Joensuu
Esko.Ryokas@joensuu.fi

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