Judas

Predigt von Johannes 13,21-30 | verfasst von Eberhard Busch |

Wir begehen heute den ersten Sonntag in der Passionszeit. Nach alter kirchlicher Sitte trägt der Tag den lateinischen Namen „Invocavit“. Dieses Wort leitet sich ab von einem Satz in Psalm 91 (V15). Dort heißt es  „Er ruft mich (Gott) an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.“ Das ist ein Trostwort sondergleichen für Menschen, die in Bedrängnis sind. Gott gibt ihnen die Zusage, dass er sie erhört. Und dies nicht bloß von ferne und nicht von oben herab. Er ist bei ihnen, er steht ihnen zur Seite, so sehr, dass er dabei selbst in Not gerät, und mehr noch: er will sie dabei befreien aus ihrem argen Gedränge, will sie entlasten von dem, was ihnen schwer und zu schwer ist. Wie heilsam, dass Gott das seinen Menschen verspricht!

Zu dem verlesenen Text scheint das jedoch beileibe nicht zu passen. Täuschen wir uns, wenn wir in der dunklen Geschichte, die wir in dem Johannes-Evangelium lesen, überhaupt nicht dieses Gute und Heilsame und Aufrichtende hören? Zuletzt steht da der eine Satz: „Und es war Nacht.“ Kein Licht, nur Finsternis. Nicht das heimeliges Erlebnis einer Mondnacht, in der „die goldnen Sternlein prangen.“ Nein, hier passt allenfalls der schauerliche Gesang: „Wo bist du Sonne blieben? Die Nacht hat dich vertrieben, die Nacht des Tages Feind.“ Ja, hier passt der Titel eines alten Films: „Nachts, wenn der Teufel kam.“ Denn der ist hier los. Was zuweilen auch am helllichten Tag vorkommt.

Was passiert denn da? Ja, was wohl: wenn es derart aussichtslos ist! So rabenschwarz, wie man das bei unseren heutigen Straßenbeleuchtungen kaum noch kennt. Wenn das keine Finsternis ist: Jesus wird von Judas verraten. Er, der Jünger Jesu, hat seine Finger im Spiel, dass der doch von ihm geschätzte Meister in die Hände seiner Feinde gerät, in den Zugriff derer, die ihn beseitigen wollen, die ihm das Leben rauben werden. Mit seinem Verrat liefert er ihn aus zu seiner Ermordung. Das tönt so makaber, dass man oft genug diese Geschichte sich erleichtert hat durch Umdeutungen, – bis in dieser Nacht vielmehr doch „die goldnen Sternlein prangen“.

Aber unser Bibeltext nötigt uns, näher hinzuschauen. Da stoßen wir darauf und stoßen uns gar daran, dass Jesus zurückhaltend sagt: Nicht Judas, sondern „einer unter euch“ wird mich verraten. Die Jünger haben das richtig verstanden: „Da sahen sie sich untereinander an und es wurde ihnen bange.“ Es geht ihnen nämlich durch Jesu Wort auf: Für diese abgrundtiefe Gemeinheit kommt im Grunde jeder von uns in Betracht. Die Veranlagung dazu steckt in uns allen. Verkehrt, wenn jetzt unser Finger anklagend auf Andere zeigt, wie wir das so gern machen, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Verkehrt, wenn man da auf Judas zeigt, geschweige auf die Juden! Martin Luther hat in einer hellen Einsicht gedichtet: „Unsre große Sünde / und schwere Missetat / Jesum, den wahren Gottes- Sohn, ans Kreuz geschlagen hat. / Drum wir dich, armer Judas  / Dazu der Juden Schar / nicht feindlich dürfen schelten. / Die Schuld ist unser zwar / Kyrie eleison.“ So steht es ja auch in unserem Kirchgesangbuch im Blick auf den Gekreuzigten: „Und was du ausgestanden, / das hat verdienet meine Seel.“

Doch was ist überhaupt das Üble, das Judas sich zu Schulden kommen lässt? Ist es nicht derart geringfügig, dass es keines Aufhebens wert ist? Und wird es nicht voll aufgewogen durch das Gute, was die Leute von ihm zu berichten wissen (V29)? – etwa so, wie man in einer Beerdigungsansprache ja auch lauter gute Werke und Eigenschaften des Dahingegebenen zu hören bekommt. Also, was ist schon die Missetat des Judas! Scheinbar nichts Nennenswertes. So etwas wie das Wegwerfen eines Einzahlungscheins zugunsten der Hungernden in der Welt. Oder wie das, was im Jakobusbrief steht (3,5f): unsere Zunge sei ein kleines Feuer, das aber einen ganzen Wald anzünden kann. Eine kleine Ursache – doch welche Folgen hat sie! Judas gibt nur einen Tipp, und damit liefert er Jesus aus zu seiner Kreuzigung.

Achten wir auch noch darauf: Was ist das für ein Mensch, der Jesus verrät und für seine Ermordung ausliefert? Irgendein Unmensch? Ein ausländischer Krimineller? Ein herumlungernder Strolch? So würde es vielleicht lauten, wenn wir die Geschichte erfunden hätten. Aber nein, es ist einer aus dem engsten Kreis der Jünger Jesu. Himmel, das wirft ja unsere ganze schöne Unterscheidung zwischen guten und bösen Menschen, zwischen Anständigen und Unanständigen durcheinander. Vergessen wir einmal unsre argen Vorurteile über den Menschen namens Judas! Bitte, er ist immerhin in die Nachfolge Jesus getreten, hat dafür alles stehen und liegen lassen, kein bloßer Mitläufer, war eifrig dabei, sorgte für die Armen (V29). Beschämend, was so manche Christen schon dem Judas unterstellt haben! Im Gedanken an ihn hat vor langer Zeit ein Papst Gregor geschrieben von der „grauenhaften Verderbnis der Besten“. Judas gehört zu den Besten. Aber es gibt ein Sünde der „crème de la crème.“ Brauchen wir dafür Belege? Es ist zum Heulen. Unser Bibeltext sagt: „Und es war Nacht.“ In ihr sind die Besten mit den Schlimmsten zusammengerückt, aufs gleiche Niveau, und alle sind in „grauenhafter Verderbnis“.

Allerdings, das ist jetzt gottlob nicht alles. Die Nacht des Tages Feind?, jawohl, so haben wir vorhin gehört. Aber nein, nun zieht ein neuer Tag herauf, ein Tag, der der Feind der Nacht ist. „Doch das Dunkel bleibt nicht dort, wo Bedrängnis ist“, heißt es beim Propheten Jesaja (8,2). Wir können wohl solches Dunkel nicht verschwinden lassen. Trotzdem, so sicher wie ein Morgen der Nacht folgt, so sicher vermag Gott das Dunkel zum Verschwinden zu bringen. „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein.“ Er vollbringt, was er vermag. Es lichtet sich bereits. Es dämmert schon. Wohl uns, wenn auch uns das einmal dämmert. So dass wir darauf hoffen und darum bitten, mit dem Vers von Johann Rist zu reden: „Brich an, du schönes Morgenlicht, und lass den Himmel tagen!“

Sehen wir uns das noch einmal näher an in unserm Bibeltext. Sicher, Judas hat schon da nichts Gutes im Sinn. Und Jesus wird davon nicht übertölpelt. Aber das hindert ihn nicht, ihm den Becher zu reichen, einen Bissen Brot darin einzutauchen und mit ihm zu teilen – er, der Heiland, zusammen mit seinem Verräter! Jesus feiert mit ihm das heilige Abendmahl. Und fügen wir hinzu: es wird dir, Judas, gegeben zur Vergebung deiner Sünde. Und noch heute ist es so, Brot und Wein wird nicht Makellosen und nicht Astreinen gereicht. Es wird solchen gegeben, die Vergebung brauchen und denen sie trotzdem zugesprochen wird. Das gilt. Und das wird nicht rückgängig gemacht und nicht durchgestrichen durch das, was wir Menschen auch anstellen, insgeheim oder am helllichten Tag.

Und das himmlische Morgenlicht zeigt sich uns erneut, wenn wir darauf achten, was Jesus seinem Verräter sagt: „Was du tust, das tue bald!“ (V27) Er sagt nicht etwa: Lass es bitte sein, was du tun willst! Ich warne dich. Das ist böse. Du handelst dir damit fortan einen schlechten Ruf ein. Dabei komme nicht nur ich, sondern kommst auch du unter die Räder. Nicht so. Vielmehr sagt Jesus: „Was du tust, das tue bald.“ Sagt Jesus hier nicht nachgerade Ja zu dem, was Judas im Sinn hat? Ja nicht nur zu dem schweren Weg, auf den Gott ihn schickt, Ja auch zu dem lästigen Vorgehen von Judas, das den Stein ins Rollen bringt und genau am Karfreitag zum Stillstand kommt. Wie sollen wir dieses Rätsel nur verstehen? Macht Gott hier einfach die Augen zu? Handeln hier beide nicht vielmehr Hand in Hand? Jesus und Judas! Ist es nicht in Wahrheit so, dass es hier geht, wie es schon im 1. Buch Mose (50,20) angezeigt ist: Menschen gedachten, es böse zu machen, Gott aber hat es gut gemacht..

Zuletzt wollen wir noch ein bisschen über den Rand unseres Predigttextes hinausschauen: Unmittelbar nach den Worten über das Dunkel, in dem Judas steht, lesen wir im Johannesevangelium die Worte, die Jesus uns hinterlassen hat: sein Auftrag, „dass ihr euch liebt, so wie ich euch geliebt habe“ (V34). Jawohl, erweist einander Liebe! Warum? Etwa weil ein jeder und eine jede so liebenswürdig ist? Es gibt einen stärkeren Grund: Tut es, sagt Jesus, wie und weil „Ich euch geliebt habe.“ Ich mit allen Fasern meines Lebens – euch mit Haut und Haar! Ist etwa ein Mensch, wie dieser Judas von seiner Liebe ausgeschlossen? – von der Liebe Jesu?  Kann da ein Typ wie der im Ernst außen vor bleiben? Muss er in seiner Dunkelheit ewig ausgestoßen sein? Gilt denn etwa auch und gerade den  gottverlassensten Menschen nicht das, was wir am Anfang der Predigt aus Psalm 91 hörten, Gottes Zusage: „Ich will bei ihm sein und ihn herausreißen“, heraus aus seiner Nacht? Und gilt es uns jemals anders als solchen Schwerenötern? Denken wir dem einmal nach! Und dann werden wir vielleicht besser verstehen, was es heißt, einander zu lieben.

Eberhard Busch

37133 Friedland

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