Kirche ist nicht für alle da

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Kirche ist nicht für alle da

Tag des Apostels und Evangelisten Matthäus – 21.9.2020 | Predigt zu Matthäus 9.9-13 | verfasst von Rudolf Rengstorf|

Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?
Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.
Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hos 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.«
Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Matth. 9.9-13)

Liebe Leserin, lieber Leser!

Jesus war daran gelegen, das alte Israel mit seinen zwölf Stämmen in seiner Gesellschaft wieder aufleben zu lassen. Deshalb war es ihm so wichtig, zwölf Jünger zu berufen. Als Nachfolger der alten Stammväter sollten sie für das erneuerte Gottesvolk stehen.

Nun sollte man annehmen, für diese Ehrenposten als Apostel und Nachfolger der hochangesehenen Väter des Volkes, habe Jesus sich umgesehen nach Persönlichkeiten, die hohes Renommee und vorbildliche Frömmigkeit vorzuweisen hatten. Doch nichts davon war in der Truppe zu erkennen, die Jesus gefunden und berufen hat. Samt und sonders waren das Männer, zu denen niemand aufblickte. Fischer, die von der Hand in den Mund lebten und den Sabbath nicht einhielten, weil die Fische das ja auch nicht tun. Zeloten, die im Kampf mit der römischen Besatzungsmacht zum Leben im Untergrund gezwungen waren. Ja, und dann die Zöllner. Das waren – anders als heute – keine korrekten Beamten mit Pensionsanspruch. Das waren kleine Unternehmer, an die die Römer das Recht auf Steuereintreibung verpachtet hatten und die dafür sorgen konnten, dass sie auf ihre Kosten kamen und noch mehr. Entsprechend verhasst waren sie bei ihren Landsleuten.

Matthäus war einer von ihnen. Erstaunlich, dass er auf sein einträgliches Geschäft verzichtete und dem Ruf Jesu ohne Umschweife folgte. Ob er sein Schäfchen schon ins Trockene gebracht hatte? In seinem Haus finden wir sie dann alle wieder, die Zöllner und Sünder. Keiner von ihnen zählte richtig mit und keiner von ihnen rechnete mehr mit Gott. Das hatten sie lange aufgegeben. – die Gauner und Betrüger, die zwielichtigen Gestalten aus dem Untergrund, Habenichtse, Frauen mit zweifelhaftem Ruf. Das war die Gesellschaft Jesu. Mit ihnen saß er an einem Tisch, an dem sie gemeinsam essen und trinken und sich buchstäblich einverleiben: Für diesen Mann bin ich etwas wert. Er bringt Gott in mein Leben. Und der bleibt an meiner Seite, komme, was wolle.

Dieser Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern stehen draußen andere gegenüber, die das alles sehr kritisch betrachten. Pharisäer werden sie genannt. In den Evangelien erscheinen die zumeist in recht unvorteilhaftem Licht, das sie als kleinkarierte Frömmler und Heuchler zeigt. Die wird es vereinzelt auch unter ihnen gegeben haben. In der Regel aber waren das sehr ehrenhafte Leute – die Pharisäer. Angehörige des Bürgertums, denen das Wohl des Gemeinwesens am Herzen lag. Zukunft haben wir nur – davon waren sie überzeugt –, wenn wir uns konsequent an den Willen Gottes halten, nach seinen Geboten leben, unsere Pflichten in Beruf und Familie gewissenhaft erfüllen und uns für Gerechtigkeit und klare Ordnungen einsetzen.

Von Jesus, dem Wanderprediger, hatten sie erwartet, dass er sich ihnen anschloss, sich für ihre Ziele engagierte und mitarbeitete an der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Stattdessen hielt er sich bei den Menschen auf, die nichts Anständiges zustande brachten und sich nicht scherten um das, was den Juden heilig war. Ausgerechnet mit denen setzte er sich an einen Tisch und tat dabei so, als habe Gott seine Freude an solchem Gesindel. Und sie, die Pharisäer ließ er allein bei ihren Anstrengungen für ein Leben, dem es um nichts anderes als um den Willen Gottes ging. Da würde man doch wohl mal fragen und seine Vorbehalte anmelden dürfen!

Wo wir wohl stehen zwischen denen da drinnen mit Jesus und denen da draußen? Für mich jedenfalls ist das keine Frage: Selbstverständlich reihe ich mich in die Gruppe der Gottesfürchtigen ein und lasse mich auch dadurch nicht abschrecken, dass die Pharisäer im Neuen Testament einen so schlechten Ruf haben. Und ich bin sicher: Die meisten von denen, die sich an die Kirche halten und da auch reingehen, stehen auch mit den Pharisäern da draußen.

Und Jesus? Er stellt sich solcher Kritik – ohne zu fackeln: Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken, sagt er. Wie ein Arzt zu den Kranken geht, so geht er zu denen, die darunter leiden, dass sie nicht so können, wie sie wollen, deren Lebenswille und Leistungskraft gebrochen oder in zerstörerische Bahnen gelenkt ist. Er geht zu ihnen, damit der Kontakt zu Gott, dem Grund und der Quelle ihres Lebens, wiederhergestellt wird und sie erfahren, dass einer da ist, der sie hält, tröstet und stärkt.

Das ist eine klare Platzanweisung für seine Kirche. Hört auf damit, vor allem Volkskirche sein zu wollen, die für alle da und offen ist. Ihr seid nicht für alle da und müsst nicht so tun, als seien alle irgendwie krank. Nein, krank ist, wer ohne Hilfe nicht mehr zurechtkommt. Und Gott sei Dank sind da auch die Gesunden, die hervorragend allein zurechtkommen und enorm viel leisten können.

Jesus lässt die Kritiker nicht links liegen, hört ihnen zu, erkennt sie an und hat ihnen etwas zu sagen. Und mit ihnen den Starken und Gesunden bei uns, den Leistungsträgern und den Erfolgreichen, ob sie nun draußen stehen oder ob sie drinnen sind, nämlich: „Geht hin und lernt, was das heißt, wenn geschrieben steht: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit, spricht der Herr, und nicht am Opfer.““

Was ist das für ein Opfer, das die Rechtschaffenen und Leistungsträger bringen? Ist das die Anstrengung, mit der sie sich ein gutes standing vor Gott und den Menschen verschaffen wollen? Geht es ihnen nicht vor allem um die Erhaltung des status quo, sprich des Wohlstandes? Und was gehört dazu, die Erhaltung des materiellen Wohlstandes zum obersten Prinzip einer Gesellschaft zu erheben, die an sich alles dem humanen Wohl unterordnen müsste, siehe Grundgesetz! Gehört zu ihrem Opfer nicht alles, was das Herz hart macht gegenüber der Not anderer Menschen?

Gott will das nicht. Die Botschaft Jesu wie auch seiner hebräischen Bibel ist hier eindeutig: Gott will Barmherzigkeit. Das ist ein hilfreicher Kompass für Christen in den politischen Auseinandersetzungen um die Aufnahme von Flüchtlingen. Wer erst abwarten will, dass auch die anderen europäischen Länder etwas tun, stellt sich damit dem Gebot der Barmherzigkeit in den Weg und hat kein Recht, sich als christlicher Politiker zu bezeichnen.

Und für unsere Gemeinden heißt das: Wir stellen nicht nur Forderungen an die da oben. Wir sorgen dafür, dass unsere Kirchen mit ihren Gottesdiensten mit allem Drumherum und die Gemeindehäuser mit ihren Veranstaltungen, Aktionen und Initiativen unübersehbare Orte der Barmherzigkeit sind. Orte, an denen sich Gottesdienstordnungen, musikalische Arbeit, alles Predigen, alle seelsorgerliche und pädagogische Arbeit immer der Frage stellen müssen: Kommen die Menschen, die keiner haben will, hier vor, sind sie uns willkommen, können sie unter uns aufatmen? Das allein ist das Gütesiegel einer christlichen Gemeinde. Amen.

Lied nach der Predigt: 294,1+4 

Fürbittengebet

Lasst uns beten:

Lasst uns Gott bitten um seinen Frieden,

dass er uns dem Frieden auf Erden näher bringt

und die Mächtigen in der Welt anstiftet,

gemeinsam an Lösungen zu arbeiten,

mit denen alle leben können –

Für uns alle, dass wir mutig und konsequent eintreten

für das, was dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung dient.

Dafür lasst uns beten und sprechen:

Herr, erbarme dich!

Lasst uns Gott bitten um seine Barmherzigkeit,

die täglich neu ist und ohne Ende:

dass auch wir Erbarmen haben

mit uns selbst,

dass wir uns gnadenlosen Anforderungen

– woher sie auch kommen – nicht unterwerfen

dass wir Erbarmen haben mit denen,

die wir lieb haben:

mit Kindern und Eltern und Lebenspartnern,

dass wir aufhören,

sie nach unserem Bild formen zu wollen

und einander Raum und Freiheit und Ruhe lassen

und dass wir Erbarmen haben mit denen,

die uns böse gemacht, verletzt und gekränkt haben:

dass wir uns nicht gnadenlos verhärten

und ein Herz haben, das größer ist als alle

Rechtsansprüche

dafür lasst uns beten: Herr, erbarme dich!

Lasst uns bitten um Gottes Reich:

dass es kommt und sich ankündigt darin,

dass Nothelfer in aller Welt Auftrieb bekommen

Kranke und Gefangene nicht allein bleiben,

Trauernde und Verzweifelte den Kopf heben

und etwas über ihr Leid hinaussehen können,

Gescheiterte und Abgeschriebene etwas mitbekommen von der Wertschätzung Gottes

Sterbende Hoffnung haben

und Zweifelnde glauben können

dafür lasst uns beten: Herr, erbarme dich!

Nimm dich unser gnädig an, rette und erhalte deine Kirche.

Dir allein gebührt unsere Anbetung,

dem Gott, den wir nie fassen können,

zu dem wir aber beten wie Jesus:

Vater unser im Himmel

Superintendent i.R. Rudolf Rengstorf

Hildesheim

E-Mail: Rudolf.Rengstorf@online.de

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