Klagelieder 3, 22-26; 31-32

Home / Kasus / 16. So. n. Trinitatis / Klagelieder 3, 22-26; 31-32
Klagelieder 3, 22-26; 31-32

 

Göttinger
Predigten im Internet,
hg. von Ulrich
Nembach und Johannes Neukirch


16. Sonntag nach Trinitatis
19. September 1999
Predigttext: Klagelieder 3, Vers 22-26 und 31-32
Verfasserin: Dr. Gertrud Iversen, Løgumkloster, Dänemark

Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind,
seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
sondern sie ist alle Morgen neu,
und deine Treue ist groß.
Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele;
darum will ich auf ihn hoffen.
Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein
und auf die Hilfe des Herrn hoffen.
Denn der Herr verstößt nicht ewig;
sondern er betrübt wohl
und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Klagelieder 3, Vers 22-26 und 31-32

I

„‚êkah“ – das ist das hebräische Wort für
„ach“ und Weh: Ein Ruf, wenn kein Stein mehr auf dem anderen
geblieben ist und der verlassene Mensch nichts anderes mehr dagegen zu sagen
hat.

„‚êkah“, so beginnen die sogenannten Klagelieder im Alten
Testament, denen der Predigttext für diesen Sonntag entnommen ist. Hier
ist die Klage freilich zu etwas anderem geworden. Sie ist zum Gebet geworden,
zum Lobpreis und zum Bekenntnis zum Herren als eine Antwort im Trotz gegen die
Leiden und die schmerzvollen Ereignisse, die der Grund dieser Klagelieder sind.
Die Klagelieder des Alten Testaments sollten nicht in erster Linie als Ausdruck
menschlicher Gemütszustände gelesen werden, sondern als Reaktionen
der Menschen auf Ereignisse. Halten wir dies einen Augenblick fest: Etwas
furchtbares ist geschehen, und als Reaktion kommt nun diese Klage, die sich
erweist als ein Bekenntnis zu Gott dem Herrn. Er ist treu und barmherzig selbst
im schlimmsten Schmerz und der unerträglichsten Zerstörung.

Das Ereignis, das historisch hinter den Klageliedern Jeremias steht, ist die
Zerstörung Jerusalems 586/87 v. Chr., die die Israeliten ins Exil
führte, das bedeutet Vertreibung, Heimatlosigkeit, Verfolgung. Und die
Klagelieder mit ihrem tiefen und großartigen Lobpreis an Gott den Herren
als Grundlage für Hoffnung und Erlösung sind denn auch eng
verknüpft mit dem Judentum und der Geschichte der Juden als Volk seit dem
babylonischen Exil im 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum Holocoust des 20.
Jahrhunderts.

„êkah“ ist der Klageruf der Juden, aber fast alle Sprachen
haben ihren Klageruf. Denn Vertreibung, Heimatlosigkeit und Verfolgung
gehören nicht nur der Vergangenheit an, und sie sind nicht nur Schicksal
der Juden.

Es ist die Taktik der verbrannten Erde, bekannt und angewandt vor 2.500
Jahren wie heute: Auschwitz, Bosnien, Kosovo, Osttimor. Es gibt guten Grund zur
Klage, ob es nun das jüdische „‚êkah“ ist oder auch das
serbokroatische „jau“, das über den ganzen Balkan erklang.

Als Gebet, Lobpreis und Bekenntnis erweist sich der Klageruf im heutigen
Predigttext sowohl als ein leidenschaftlicher Protest gegen das Leiden als auch
als eine ebenso leidenschaftliche Anrufung Gottes, voll gespannter Erwartung.
In dieser Doppelheit von Protest gegen das Leiden und Anrufung Gottes liegen
Perspektiven, die für uns wichtig werden können – auch für eine
christliche Gemeinde, die am 16. Sonntag nach Trinitatis im Jahre 1999
versammelt ist:

Das erste ist die Klage als ein leidenschaftlicher Protest gegen das Leiden.
Es ist schon in sich ein Zeichen des Protestes, daß man darauf besteht,
daß dort überhaupt geredet werden kann und muß, wo es
eigentlich nichts mehr zu sagen gibt, weil kein Stein mehr auf dem anderen
geblieben ist. Auch die Klagelieder im Alten Testament sind Ausdruck eines
solchen Protestes. Die Verse, die dem heutigen Predigttext vorangehen, lauten:

„Du hast von allen Seiten her meine Feinde gerufen wie zu einem
Feiertag, so daß niemand am Tage des Zorns des Herrn entronnen und
übriggeblieben ist. Die ich auf Händen getragen und großgezogen
habe, die hat der Feind umgebracht“ (2,22).
„Ich bin der Mann, der Elend sehen muß durch die Rute des Grimmes
Gottes. Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht
ins Licht“ (3,1-2).
„Er hat mit Fleisch und haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen“
(3,4).
„Er hat micht in Finsternis versetzt wie die, die längst tot
sind“ (3,6).

Ein Abgrund von Leiden tut sich hinter diesem Klagelied auf – ob dies nun
die geschichtliche Zerstörung Jerusalems und vor allem des Tempels ist,
oder ob es Bilder aus Kosovo oder Osttimor aus unserer eigenen Zeit sind, die
man vor seinem inneren Blick sieht. Auch wenn es zeitlich und räumlich auf
unserer Erde weit weg ist, so gibt es Tragödien, die sich nicht einfach
durch ein noch so frommes und christliches „Gib dich zufrieden und sei
stille“ (EKG 295) abfertigen lassen. Die Klage verlangt zuweilen ihr
Recht. Keine Vertreibung oder Verfolgung kann in Schweigen gehüllt werden,
keine Leiden und kein Schmerz können durch stillschweigenden Akzept
ungeschehen gemacht werden.

Als Schrei der Verzweiflung und als Anklage schafft die Klage einen Raum
und eine Sprache, die notwendig sind. Aus zwei Gründen: Es ist notwendig
für den Menschen aus seelsorgerlichen Gründen, zu klagen. Hier ist
die Klage ein Weg, der einen Menschen daran hindert in dem Schmerz zu vergehen
und unterzugehen, den er erlebt und zunächst überlebt hat. Aber die
Klage ist auch notwendig, weil sie zugleich eine Anklage ist und ein Protest,
die überhaupt erst Vertreibung und Verfolgung als böse benennen und
Übergriffe gegen die Schwachen verurteilen. Deshalb ist es unsere Pflicht
– auch wenn wir in einer Zeit leben, in der in unserem Teil der Welt Frieden
herrscht – niemals die Klagerufe der Menschen zu überhören, ob dies
nun das „‚êkah“ der Juden ist, das serbokroatische
„Jau“ oder andere Rufe. Klagen ist nicht nur Ausdruck von Angst und
Verlassenheit. Wer klagt, findet sich nicht mit dem ab, was ihm oder ihr
widerfahren ist. Auch wenn er weiß, daß der Tod lauert, gibt er dem
Tode nicht Recht.

Unter den vielen neuen Liedern, die in diesen Jahren in Dänemark
geschrieben werden, gibt es ein Lied, dessen erste Strophe in deutscher
Übersetzung so lautet:

Jemand muß wachen in der Nacht der Welt,
Jemand muß glauben im Dunkel.
Jemand muß sein, wo die Schwachen sind,
Gott, laß deinen Willen auf Erden geschehn!
Hilf uns deinem Gebot zu folgen!

Das Klagelied ist notwendig als ein Licht in der Nacht der Welt.

II

Dies führt zu einer anderen Perspektive, die an unserem Text wesentlich
ist, nämlich daß das Klagelied eine leidenschaftliche Anrufung
Gottes ist, getragen von Erwartung und Hoffnung.
„Die Güte des Herrn ist’s, daß wir nicht gar aus sind, seine
Barmherzigkeit hat kein Ende“ (3,22).
„Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt
wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte“ (3,
31-32).

Diese Worten sind Bekenntnis und Gebet zugleich. In unserer Sprache
ausgedrückt: „Ich bekenne, daß Gott allmächtig ist,
barmherzig und gut – aber ich bitte zugleich, daß dies wahr sein
möge trotz der Leiden, die Menschen jeden Tag des Lebens
durchmachen“.

In den Klageliedern des Alten Testaments ist historisch gesehen der
Hintergrund der Gegensatz zwischen der Verheißung des Herrn an sein Volk
und dem zerstörten Jerusalem. Dieser Gegensatz war schwerwiegend für
die Juden. Eine so unerhörte Katastrophe wie die Zerstörung des
Tempels konnte nicht direkt als Strafe Gottes für die Sünden der
Juden verstanden werden. Statt dessen sah man sie als Ausdruck des Mit-Leidens
Gottes. Wenn Gott der Herr Jerusalem zerstören ließ, dann deshalb,
weil er es geschehen lassen mußte, gegen seinen Willen und seine
eigentliche Absicht. So ist Gott der Herr im Bekenntnis des Klageliedes der,
der mitleidet, der nicht für ewig verstößt. : „Denn nicht
von Herzen plagt und betrübt er die Menschen“ (3,33). Deshalb ist es
gut, geduldig auf die Hilfe des Herrn zu hoffen (3,26). Oder mit anderen
Worten: Dies ist ein Bekenntnis zu Gott dem Herren, das nicht vor aber
in der Stunde des Leidens bewahrt.

In unserer Zeit und in unserem Teil der Welt reagieren die Menschen anders.
Der deutsche Theologe Manfred Josuttis soll das einmal so formuliert haben:
„Wenn die Mächtigen verrückt spielen, fliehen die
Ohnmächtigen in den Schutz der Allmacht“. Vielleicht ist es so: In
Krisensituationen, wie z.B. vor dem Fall der Mauer, während des
Golfkrieges oder wie kürzlich während der Krise im Kosovo – suchen
die Menschen zuhauf Schutz vor der Welt in Friedens- und
Fürbittengottesdiensten.

In bezug auf die Situation im heutigen Predigttext ist da jedenfalls ein
wesentlicher Unterschied: In der Regel sind es die Leiden anderer, auf die wir
reagieren und vor denen wir Schutz suchen. Es ist das ferne Leiden, zu dem wir
ein Einstellung finden möchten, so wie es auch der ferne Gott ist, der
ansonsten keinen Platz hat in unserem verweltlichten Alltag, zu dem wir aber
aus solchen Anlässen beten – um dann, wenn die Reportagen der Medien vom
Schlachtfeld der Leiden für dieses Mal verstummt sind, wieder zu unserem
wohlgeordneten Leben zurückzukehren, in dem Gott und die Leiden anderer in
sicherem Abstand sind.

Aber so wie die Klage ihr Recht einfordert, ausgesprochen und gehört zu
werden über die zufällige Abbildung in den Medien hinaus, so
erfordert unser Verhältnis zur Klage mehr als nur das sporadische
Hinfliehen unter den Schutz des allmächtigen Gottes – z.B. in einem
Friedensgottesdienst oder in Gedenkfeiern, wie dies in Dänemark nach dem
Untergang der Estonia geschah. Die Klage verlangt, so der Predigttext heute,
ein Bekenntnis, das weiter geht und auch in unseren Alltag hineinreicht. Damit
das Leiden in der Welt, Verfolgung und Erniedrigung nicht die endgültige
Macht erhalten:

Jemand muß wachen in der Nacht der Welt,
Jemand muß glauben im Dunkel.
Jemand muß sein, wo die Schwachen sind,
Gott, laß deinen Willen auf Erden geschehn!
Hilf uns deinem Gebot zu folgen!

Das meint auch alle, die heute am 16. Sonntag nach Trinitatis als
christliche Gemeinde Gottesdienst feiern.

Ich möchte schließen mit einem Glaubensbekenntnis, 1994
formuliert von dem früh verstorbenen dänischen Theologen Helmut
Friis:

Ich glaube an
Gott
– nicht an den Orang-Utang, das Glück, unsere Manipulation, sondern
den
den Vater – Geber des Lebens und nicht Tyrann oder Ursurpator,
den Allmächtigen – da wahre Macht Schöpfung ist und nicht
Vernichtung,
den Schöpfer des Himmels und der Erde – nicht den Schöpfer der
Technik, der Zivilisation, der Machtverhältnisse, sondern den
Schöpfer aller Dinge: der Lebensbedingungen, dank derer die Welt nicht
formloser Rohstoff ist, mit dem wir schalten und walten können,
und an
Jesus Christus
– und nicht an andere große Männer in der
Geschichte, von Hitler bis Sokrates oder humanistische und religiöse
Heilige,
Gottes eingeborenen Sohn – den einzigen, der ein wahres Bild Gottes ist,

unseren Herrn – der alle anderen herren zweitrangig werden
läßt,
empfangen durch den Heiligen Geist – nicht ein Produkt der üblichen
Zwangsmechanismen des Bösen,
geboren von der Jungfrau Maria – d.h. ein junges Mädchen, also eine
leibliche Mutter aus dieser Welt: er ist ein echter Mensch,
gelitten unter Pontius Pilatus – nicht erhaben über den Leiden
dieser Welt wie Buddha,
gekreuzigt, gestorben und begraben – nicht ein unsterbliches Geistwesen,

hinabgestiegen in das Reich des Todes – in die äußerste
Finsternis der Antigöttlichkeit, des Feindes,
am dritten Tage auferstanden von den Toten – denn in seiner
Selbsthingabe manifestierte sich das Leben,
aufgefahren in den Himmel – den sein Leben ausstrahlte,
er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters – kein anderer
sitzt an diesem Platz, d.h. repräsentiert Gott,
von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten – die
göttliche Wahrheit, deren Kriterium Christus ist, wird einmal Wirklichkeit
werden,
und an den
Heiligen Geist
– nicht an Geister, den Geist der Klugheit, der
Rationalität, des Rauschs, des Nihilismus, der Geistigkeit,
eine heilige christliche Kirche – nicht an exklusive von uns selbst
errichtete Zusammenschlüsse,
Gemeinschaft der Heiligen – unheilige Gemeinschaften haben letztlich
keinen Bestand,
Vergebung der Sünden – daß die Macht des Lebens die der
Verkehrtheit überwindet,
Auferstehung der Toten – den die Person ist eine Einheit von Körper
und Geist,
und das ewige Leben – die Vollendung der Bestimmung des Lebens.

Amen.

Gertrud Iversen, Løgumkloster, Dänemark
E-Mail: gi@teol.ku.dk
Fasanvej 21
DK-6240 Løgumkloster
Dänemark
Tel.: ++ 45 / 74 74 55 99

 

de_DEDeutsch