Kleiner Mann, was nun?

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Kleiner Mann, was nun?

Predigt zu Lukas 19,1-9| verfasst von Eberhard Busch|

Wir haben den Text für unsre heutige Predigt gehört. Er ist es wert, dass wir ihn jetzt noch einmal Vers um Vers näher anhören.

Es heißt hier zunächst: „Und Jesus zog hinein und ging durch Jericho.“ Er kommt also zu Besuch. Er will die Menschen treffen. Dazu nimmt er sich Zeit. Hält Einzug in dem Ort mit all seinen Häusern und Kaufhäusern und Wirtshäusern, mit seinen Sehenswürdigkeiten und seinen dunklen Gassen. Und sein Eintreffen setzt die Bewohner in all den verschiedenen Gebäuden in Bewegung, Groß und Klein, Männer wie Frauen, Jung und Alt, alle laufen zusammen. „Habt ihr auch schon von ihm gehört?“ „Vielleicht irgendetwas, aus dem wir aber nicht schlau geworden sind.“ Heute geht es darum, dass die Leute mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, wer er ist. Man darf gespannt sein, was jetzt eintritt.

„Und siehe, da war ein Mann, genannt Zachäus, der war ein oberster Zöllner und war reich.“ Ein Unvorhergesehenes tritt ein. Halt!, darf der denn auch dazu gehören zu den Vielen, die jetzt zusammenlaufen, um Jesus in Augenschein zu nehmen? Man denkt: Nein, der soll zumindest nicht zuvorderst stehen. Sonst im öffentlichen Leben ist er obenauf, ein Gernegroß. Er genießt Respekt. Aber wie man es halt so macht, wenn man nicht mutig ist: Man zieht vor ihm den Hut, auch wenn man es zähneknirschend tut. Man verneigt sich vor ihm, und macht bei seinem Anblick heimlich die Faust in der Hosentasche. Warum? Er ist ein Zöllner, einer von denen, die in der Bibel mit sonst miserablen Gesellen in einem Atem genannt werden. Sie sind auch Juden und arbeiten doch der verhassten fremden Besatzungsmacht in die Hände. Sie saugen die Menschen aus zu deren Nutzen, diese Volksverräter! Kollaboration mit dem Feind! Sie schlagen die Leute übers Ohr und verdienen sich dabei auch selber eine goldene Nase. So einer ist der Mann,  sogar ein Oberster der Zöllner.

„Und er begehrte Jesus zu sehen, wer er wäre.“ Warum wohl? Weil er ein religiöses Heilsverlangen hatte, wie ein Bibelausleger vermutet hat? Ach, hängen wir das nicht zu hoch! Wahrscheinlich will er aus sicherer Distanz sich jenen seltsamen Jesus ansehen. Um sich ein Bild von ihm zu machen. Ein typischer Zuschauer, der wohl weiß, woher der Wind weht, und der dann bald ausschaut nach dem, was sonst neuste Mode ist. Er ist jetzt nur einer unter anderen Schaulustigen. Einer wie die, die heutzutage gleich ein iPad-Bild machen, wenn etwas Ungewöhnliches passiert. So etwas geschieht ja nicht, ohne dass sich solche Gaffer einfinden. So wie jener oberster Zöllner. Der wünschte, Jesus zu sehen. Doch leichter gesagt, als getan. Nämlich:

„Er konnte nicht – vor dem Volk. Denn er war klein von Person.“ Es waren schon zuviel Andere da, und er war zu anders gebaut, als dass er über sie hätte hinwegsehen können. Man mag sich vorstellen, wie die Anderen spöttisch auf ihn hinabschauten, wie es manches Mal geht, wenn selbst Starke ihre schwache Seite zeigen: Sonst kommst du groß heraus, aber jetzt bist du ganz klein. Für einmal kannst du nicht den Mitmenschen den Marsch blasen. Heißt es nicht auch in der Heiligen Schrift: „Die Ersten werden die Letzten sein“ (Mt 19,30)? Jetzt bekommt er es spüren, wie die dran sind, die für gewöhnlich Letzte sind, die zurückgesetzt, zurückgeblieben, die übergangen sind, solche, von denen das Sprichwort sagt: „Den Letzten beißen die Hunde.“ Der Schriftsteller Hans Fallada veröffentlichte während der Weltwirtschaftskrise 1932 einen Roman unter dem Titel „Kleiner Mann, was nun?“ Das Buch handelt von einem, der arbeitslos wurde, ein Garnichts, und das Buch erzählt, „was der Garnichts fühlt, denkt und erlebt“. Solche gibt es ja auch heute in unsrer Wirtschaftskrise. Und solch einer ist jetzt der, von dem uns die Bibel erzählt: der ein Erster war, ein Oberster, er ist nun ins Abseits gestellt. Und all sein Reichtum hilft ihm dagegen rein gar nichts.

„Und als Jesus kam an die Stätte, sah er auf und nahm ihn wahr.“ Aber wo ist der denn? Jesus entdeckt ihn, genau ihn. Sieht ihn in seinem Versteck inmitten der Zweige des Maulbeerbaums. Durchschaut ihn auf den ersten Blick. Ein Spruch sagt: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“ (1Sam 16,7; Jer 17,19). So sieht Jesus ihn, wie er ist, er, dieser in den Wipfeln Versteckte. Eben der, den Zachäus zu sehen wünschte, der steht jetzt direkt vor ihm – und schaut nun umgekehrt ihn an. Und dies ist ganz anders als das Zuschauenwollen des Zachäus. Jesus sieht ihn in der Klarheit, in der Gott „alle Herzen sucht und aller Gedanken Richten versteht“. (1Chron 28,9) Er kennt seine Pappenheimer. Jesus durchschaut den Zachäus bis auf den Grund. Er sieht ihn dabei mit anderen Augen als die übrigen Menschen; nicht mit gnadenlosem Röntgen-Blick als einen, mit dem möglichst aller Kontakt zu vermeiden ist. Er sieht etwas, „was du nicht siehst.“ Er sieht: der ist einer, um den ich mich kümmern muss, einer, der es nicht verdient, bei dem ich eben darum einkehren will. Also spricht er ihn an:

„Steig eilend hernieder, denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.“ Komm runter! Von den Ästen, auf denen du hockst. Komme hervor aus den Blättern, in denen du dich versteckt hast. Komme herab von der Höhe, in die du dich verstiegen hast. Du hast ja jede Bodenhaftung verloren. Komm, die Sache duldet keinen Verzug. Im Moment ist dies das Dringlichste, dass ich zu dir komme wie ein Feuerwehrmann, wenn es brennt, ob man ihn gerufen hat oder nicht. Aber Jesus, folgst du jetzt nicht einer flüchtigen Gefühlsregung? Oder geht’s dir gar ein bisschen so wie uns: dass du vor Leuten mit viel Geld halt mehr Achtung hast und gar stramm stehst? Oder paktierst du jetzt auch mit den fremden Besatzern? Oder – hast du vielleicht eine allzu laxe Einstellung zu den Tu-nicht-Guten. Achten wir darauf, Jesus sagt ja nicht: das möchte ich. Er sagt wörtlich: Ich muss! Er kann jetzt nur so und nicht anders handeln. In der gleichen Notwendigkeit, in der er auf die Erde gekommen ist, in der er den Menschen die Nähe Gottes zeigte. in der er dann am Kreuz für seine Übeltäter betete: Vater vergib ihnen, in der gleichen Notwendigkeit muss er jetzt in dem Haus des Zöllners einkehren. Es ist die Notwendigkeit der freien göttlichen Liebe. In ihr wendet er sich auch uns zu in diesen bedrohlichen Corona-Zeiten. In ihr wendet er sich bereits dem Zachäus zu. Daraufhin setzt der sich in Bewegung:

„Er stieg eilend hernieder und nahm ihn auf mit Freuden.“ Man meint: Eigentlich hätte er erschrocken sein können, dass der gerade in seinem Hause einkehren will. Nicht die Kirche ist jetzt die Begegnungsstätte mit dem Heiligen, sondern in deinem Haus, in deinem Home-Office will er einkehren. Wäre es nicht besser an anderem Ort? An neutraler Stätte? Aber doch nicht grad daheim! Da ist es ja nicht aufgeräumt, da liegen belastende Dokumente herum! Im deutschen Grundgesetz steht der Satz: „Jeder hat ein Recht darauf, bei seinen privaten Angelegenheiten in Ruhe gelassen zu werden.“ Jesus hält sich nicht daran. Jesus mischt sich ein. Er hat nicht nur im Öffentlichen etwas zu sagen. Er geht uns auch im Privaten an. Zu unserm Glück ist das so.

So dass es schließlich heißt: „Heute ist dem Hause Heil widerfahren“. Heil, weil der Heiland und der Haltlose zusammenrücken, am gleichen Tisch, auf der gleichen Bank beieinander. Heute! – das Morgenlicht eines ewigen Tages bricht da an, das jedermann leuchten wird. Das freut den sonst tief Gesunkenen über die Maßen, dies, wie es Gerhard Tersteegen besungen hat:

„Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket, ihr Engel in Chören,
singet dem Herren, dem Heiland der Menschen, zu Ehren!
Sehet doch da: Gott will so freundlich und nah

zu den Verlornen sich kehren.“

So, wie Jesus es gegenüber dem Oberzöllner bewiesen hat. Da können die Leute, können wir sehen und hören, wer er ist.

Leider passt die Reaktion der Leute so gar nicht dazu. Denn „Sie murrten alle, dass er bei einem Sünder einkehrte.“ Dass sie sich so gar nicht darüber mitfreuen, das zeigt, wie nun nach Jesu Wort umgekehrt Erste zu Letzten werden. Man kann sogar ein getaufter Christenmensch sein und „murrt“ doch, wenn jemand sich in Jesu Namen den in Not Geratenen zuwendet oder den auf krumme Wege Verfallenen. Aber haben die Leute denn nicht recht, dass sie das ärgert? Warum nimmt Jesus sich ausgerechnet solcher lästigen Typen an? Die Art, in der Jesus vorbeigeht an den Besseren und hin zu dem Hinterletzten, nicht zu den Vielen, die ordentlich dastehen und ihm höflich zuwinken, das kann die Vielen bis auf den heutigen Tag ärgern, dies, dass er die Unwillkommenen willkommen heißt. Manche sprechen als Tischgebet: „Komm, Herr Jesus sei unser Gast“ Denken sie dabei auch daran, wie es wäre, wenn er tatsächlich zu ihnen kommt? Die Mehrheit wollte damals auch Jesus in den Blick nehmen, aber einen anderen als den, der sich ihnen gerade zeigt, einen anderen, einen, der auf ihrer Seite steht, statt dass sie sich auf seine Seite stellen. So würden sie doch etwas von ihm lernen. So würden sie ihm nachfolgen, würden ihre Hände aus der Tasche nehmen. Und Jesus bleibt nicht stehen in Jericho. Die Geschichte geschieht auch an anderen Orten. Sie geschieht auch heute.

Zachäus aber trat hin und sprach zu Jesus: Siehe. Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich jemand betrogen habe, das gebe ich vierfach zurück.  So wurde der Kleine auch noch arm. Die Medien berichten gern über Reiche, die gerade jetzt immer reicher werden. Hier ist ein Reicher, der seine Taschen leert. Der Dichter Rainer Maria Rilke schrieb den klugen Satz: „Ich kann mir kein seligeres Wissen denken, als dieses Eine: dass man ein Beginner werden muss.“ Ist das nur ein Traum: noch einmal ganz von vorne anfangen zu dürfen? Bei Zachäus hat sich der Traum erfüllt. Und zwar so, dass wir den Satz von Rilke so fortsetzen können: Ein rechter Beginner ist einer, der anfängt, aus einem Nehmer ein Geber zu werden. Interessant ist nicht, dass er dabei großartig dasteht, sondern dies, wofür er er sich einsetzt: für die um ihr Leben Betrogenen. Der flüstert uns zu, mit dem Volkslied zu summen: „Kommt mit /und versucht es auch einmal.“

Prof. Dr. Eberhard Busch

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