Kohelet 3,1-10

Kohelet 3,1-10

Altjahresabend | 31.12.2023 | Koh 3,1-10 | Bernd Giehl |

Manuel steht vor dem Spiegel im Badezimmer und mustert kritisch sein Äußeres. Er ist 12 Jahre alt und seit einiger Zeit hat sich etwas in ihm verwandelt. Er sieht die Mädchen in seiner Klasse und der Nachbarschaft mit ganz anderen Augen. Zwar lästert er noch mit, wenn die Freunde über ein Mädchen herziehen, aber er weiß, dass es falsch ist. Und dass seine Freunde falsch liegen. Dass sie anders sind, hübsch, geheimnisvoll, begehrenswert.

Irgendetwas fehlt noch. Gegen seine Pickel kommt er im Augenblick nicht an. Für sie schämt er sich. Aber auch andere in seiner Klasse haben Pickel. Es scheint dazuzugehören.  Da kann man wohl nichts machen. Was ist es nur, was fehlt? Dann fällt es ihm ein. Er braucht einen Duft, der nur ihm gehört. Ein paar Jungen und Mädchen die er kennt, haben einen solchen Duft. Viele sind es nicht.

Nur, woher nehmen? Da fällt ihm Vaters Rasierwasser ins Auge.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Das duftet gut, das weiß er. Also lässt er vorsichtig ein paar Tropfen auf die Hand fallen und verreibt sie auf seinem Gesicht. Der Duft gefällt ihm. In dem Augenblick hört er die Stimme seines Vaters hinter sich. „Seit wann musst du dich denn rasieren? Das habe ich gar nicht mitbekommen.“

Die Scham quält ihn. Dennoch sagt er tapfer: „Ich habe mich nicht rasiert. Nur dein Rasierwasser benutzt.“

„Du bist ja ganz schön eitel,“ sagt der Vater. „Aber keine Sorge. Alles hat seine Zeit. Das vergeht irgendwann.“

„Alles hat seine Zeit.“ Ob der Vater gewusst hat, dass er damit einen der bekanntesten Sprüche des Predigers zitiert hat? Ich glaube nicht. So bibelfest sind die meisten Menschen nicht mehr. Erst recht gilt das für seinen Satz „Du bist ja ganz schön eitel.“

Glauben Sie, dass das Wort „eitel“ in der Bibel vorkommt? Wenn der Pfarrer es sagt… ja, stimmt, obwohl das auch schon ganz schön überheblich ist. Aber „eitel“ hat in der Bibel eine etwas andere Bedeutung als wir sie verwenden. Soviel ich weiß, kommt das Wort nur im Prediger Salomo vor. Und da bedeutet es nicht „auf das Äußere bedacht“, sondern eher „vergeblich.“ „Es ist alles ganz eitel, spricht der Prediger, es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind.“ So lautet der zweite Vers des Buches. Schwer vorstellbar, dass diese melancholischen Worte ausgerechnet von dem größten und reichsten aller Könige Israels stammen sollen, aber Salomo wird in der ganzen Bibel als Weiser verehrt.

Aber ganz abgesehen vom Namen des Verfassers: seine Texte haben etwas, was man nicht vergisst. „Was hat der Mensch für Gewinn für seine Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt immer bestehen.  … Alle Wasser laufen ins Meer aber das Meer wird nicht voll.“ Stundenlang könnte ich schwärmen von der Schönheit dieser Bilder. Es sind ungewohnte Bilder für uns, weil sie vom Kreislauf sprechen, dem alles Leben unterworfen ist. Wir dagegen denken das Leben vom Individuum her und damit linear. Der Prediger denkt eher zyklisch. Eher vom Menschengeschlecht her als vom Individuum. Eher von den Gegensätzen her als von der Harmonie. So kommt es noch drastischer. In unserem Predigttext heißt es „Alles hat seine Zeit. Geboren werden hat seine Zeit; sterben hat seine Zeit, pflanzen hat seine Zeit, ausreißen was gepflanzt ist, hat seine Zeit, töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit.“

Nein, möchten wir protestieren. Töten hat keine Zeit in unserem Leben. Lieber Heilen als töten. Aber das ist ein frommer Wunsch. Unser Land ist so aktiv beteiligt am Krieg in der Ukraine wie es noch nie war seit der Gründung der Bundesrepublik. Und wir wiederum zahlen unsere Steuern zur Finanzierung dieser Waffen.

Alles hat seine Zeit. Ob wir das auch manchmal spüren? Das kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Etwa wenn wir ein altes Lied, das wir sehr geliebt haben, plötzlich im Radio wieder hören. Oder weil wir uns von liebgewordenen Dingen trennen müssen, da die Wohnung zu klein geworden ist. Oder wenn Menschen auseinandergehen, die sich liebhatten. Man könnte weinen. Oder sagen: Alles hat seine Zeit.

Nun kommt uns unser Leben eher linear als zyklisch vor. Unsere Vorstellung ist: es wird immer mehr. Wir nehmen zu an Erfahrung und Wohlstand. Dass wir auch altern und schwächer werden, kommt in diesem Bild nicht vor.

Und doch gibt es die Jahreszeiten, es gibt Weihnachten und Silvester und ich bin mir ziemlich sicher, dass das auch nächstes Jahr wieder so sein wird. Es gibt Jung sein und Alt sein und jeder erlebt es am eigenen Leib. Nur wenige verweigern sich dem Feuerwerk, mit dem das neue Jahr begrüßt wird. Das gehört einfach dazu.  Als ob das neue Jahr nur Glück brächte. Als ob der Krisenmodus, von dem der Kanzler spricht, mit dem letzten Schlag der Turmuhr zu Ende ginge und alles nun ganz anders würde.

Wenn der Prediger von der endlosen Mühe spricht, die der Mensch hat unter der Sonne, dann hat er schon ein Stück weit recht. Nicht nur persönlich, auch gesellschaftlich quälen wir uns mit den gleichen Problemen herum wie Ende des vorigen Jahrhunderts. Klimakrise. Überschuldung; es scheint, als ob jede Generation lernen müsste, damit umzugehen.

„Da merkte ich, dass es nichts Besseres gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben.“ Eigenartig. Ob das die Botschaft ist, die wir heute Abend hören wollen? Nein, bitte nicht schon wieder der Verdacht des Hedonismus. Nicht schon wieder das Augenbrauenhochziehen und das Igitt. Man muss auch nicht pausenlos ans Klima denken und deshalb auf alles verzichten. Wir als Christen haben schon genug Skrupel und sei es wegen des Böllerns. Da lohnt es sich vom Prediger sagen zu lassen, man solle jeden Tag genießen. Und es dann möglichst auch zu probieren. Allein dafür lohnt sich das Hören auf den Text.

Dennoch: Ein bisschen seltsam ist der Text doch. Jedenfalls für Silvester, wo doch alles auf Hoffnung und Optimismus gestimmt ist. Wenn er wenigstens sagen würde: es war nicht alles schön im vergangenen Jahr, aber ab morgen wird alles besser. Aber das sagt er nicht. Dafür ist er zu realistisch oder zu weise. Eine Erklärung ist, dass der Text neu in die Perikopenordnung hineingekommen ist. Er ist ein bisschen melancholisch, wie gesagt und das mag uns Unbehagen bereiten. Wer will das schon hören, dass es eine Zeit gibt zum Pflanzen und eine zum Ausreißen und dass man sich das leider nicht aussuchen kann. Das könnte wie ein Kommentar zur Gegenwart klingen und den wollten wir uns gern ersparen.

Es ist also ein Wagnis diesen Text zu nehmen. Ich bin froh, dass er jetzt in der Reihe der Texte zu Silvester aufgenommen ist. Vielleicht werde ich ihn eines Tages allein predigen. Aber heute nicht. In die Reihe der Texte für Silvester gehört auch Römer 8,38-39. Dort antwortet Paulus auf die Frage: „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes?“ „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes, noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unsrem Herrn.“ Ebenso wie der Prediger kennt Paulus die scheinbare Vergeblichkeit seines Tuns. Er zählt auf: Trauer. Hunger, Not, Verfolgung oder Gewalt. Anders als wir kennt Paulus das aus eigener Erfahrung. Er hat es am eigenen Leib erlebt. Er ist ins Gefängnis geworfen worden, er ist in Seenot geraten, alles um der Botschaft willen, die er verkündigte. Aber, statt zu sagen, warum lässt du mich im Stich, Gott, singt er das große Lied des Vertrauens.

Das hier ist sicher die intensivste, wenn auch nicht die einzige Stelle, wo Paulus so redet. In aller Not können wir darauf vertrauen, dass Gott uns nicht fallen lässt. Und so nützt es auch nichts zu fragen, warum uns dies oder das passiert ist. Womit ich nicht sagen will, dass man keinesfalls an Gottes Wegen zweifeln darf. Aber auch das hat seine Zeit. Es gehört dazu, genau wie sein Gegenteil, das Vertrauen.

Aber vielleicht sind Melancholie und Zweifel ja keine Themen für Silvester. Die verbannen wir mit Optimismus und Böllern. Vielleicht hat auch Prediger 2,1-10 zu wenig Optimismus für einen Jahreswechsel zu bieten. Womöglich müssen wir erst noch hineinwachsen in diesen Text. Auch wenn er viel Weisheit in sich birgt.

Aber auch das hat seine Zeit.

Pfr. i.R. Bernd Giehl

Giehl-bernd@t-online.de

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