Matthäus 2,13-23

Matthäus 2,13-23

Wenn… | Erster Sonntag nach Weihnachten | 31.12.2023 | Mt 2,13-23 (dänische Perikopenordnung) | Tine Illum |

Aus dem Innersten des Herzens, wenn es bricht.

Von der Stimme in einer bislang unbekannten Tiefe.

Von dort kommt der Schrei von Rama[1].

Keine Zukunft. Keine Hoffnung. Eine zerbombte Liebe. Eine blutige Kinderleiche.

Die Erzählungen von Weihnachten sind das hoffnungsvolle „Friede auf Erden“ und die Schreie der Menschen, wenn ihre Kinder mit Messern, Schwertern und Bomben umgebracht werden. Da sind Flüchtlinge unterwegs vor den Tyrannen aus aller Welt. Da ist Hoffnung und Hoffnungslosigkeit.

Verfolgungen und Flucht, Ungerechtigkeit und Gewalt … das ist eine Geschichte von der ganzen Welt. Ich glaube, die meisten von uns können die Bilder sehen von verzweifelten Müttern in zerbombten Krankenhäusern in Gaza, in ukrainischen Städten ohne Heizung, im israelischen Kibbuz, im Sudan.

Einige Bilder bleiben hängen. Bei mir ist es das Bild von einem Mann, der in der Dämmerung mit zwei weißen Säcken im Arm kommt. Das sind seine toten Kinder. Er blickt nicht zu uns, er blickt i eine andere Richtung … In Wirklichkeit sieht er gar nichts … Sein Leben hat aufgehört zu leben … Er geht nur durch die Steinbrocken mit seinen Kindern, eingepackt in weiße Tücher … Er blickt nach innen … vielleicht erinnert er sich an den Morgen, als die Kinder spielten … Vielleicht versucht er, dass zu vergessen … Er hat keine Schreie mehr … Keine Tränen mehr.

Wo ist Gott abgeblieben? Gerade hier? Nicht ein Gott in einem feinen Vers aus dem Gesangbuch jedenfalls … nicht ein Gott, der durch ein Wunder Kriege stoppt und tote Kinder wieder lebendig macht … Nicht ein Gott, auf dessen Allmacht wir uns verlassen können, wenn er zugleich Liebe ist – nicht ein Licht, das stärker ist als Finsternis, so wie wir das vor wenigen Tagen gehört haben. Er ist nicht da. Oder auch ist er da, aber was sollen wir mit einem Gott, dessen Liebe man nicht spüren kann und dessen Verheißungen und Hoffnungen unglaubwürdig erscheinen. Das hier ist Wirklichkeit – auch Wirklichkeit an Weihnachten.

Diese Erzählung handelt von dem Gegenteil von all dem, was wir Heiligabend gehört haben: Von dem „Ein Kind ist uns geboren“ und dem „Heiland der Welt“ und dem Gesang der Engel – aber diese Erzählung gehört auch dazu. Nicht nur, weil es an den Weihnachtstagen auch ein wenig Sozialrealismus geben muss oder es etwas geben muss für die notorischen Kritiker, sondern weil die Wirklichkeit so ist. Und wenn Gott da nicht ist, wo man ihn nicht merken, sehen und fühlen und hören kann – dann ist er nirgends.

Der Sonntag nach Weihnachten kommt nicht mit Dogmen – sondern mit einer lebendigen Hoffnung für den, der es nicht erlebt, nicht spürt, nicht glauben kann – und vielleicht nie dazu kommt … oder vielleicht dazu kommt. Keiner von uns soll damit anfangen, den Frauen in Rama oder dem Mann mit seinen beiden kleinen Kindern in Leichentüchern die Liebe Gottes zu erklären oder zu erzählen, dass es ewiges Leben für die Toten gibt, wenn wir nur glauben. Und dass sie sicher wieder froh werden. Der Schrei von Rama, die Hoffnungslosigkeit – die den ganzen Körper erschüttert – das gibt es.

Am Anfang des Gottesdienstes hörten wir die Lesung aus dem Propheten Jeremia vom Schrei von Rama (Jeremia 31,15-17) und von Gott, der sagt: Lass dein Schreien und Weinen, deine Kinder werden wiederkommen. Als Matthäus auf diese Prophetie verweist, als alle Jungen unter zwei Jahren ermordet werden, weil Herodes Jesus nach dem Leben trachtet – da hören wir die Worte nicht als Trost, sondern lediglich als Ausdruck der Verzweiflung. Davon, dass Rahel sich nicht trösten lassen wollte – sie will nicht vergessen – sie will ihre Tränen nicht zurückhalten. Denn Trost ist nicht Ermahnung von einer Verheißung, dass einem die Mühe belohnt wird – so als ob irgendetwas den Verlust eines geliebten Menschen ersetzen könnte. In dieser Erkenntnis liegt in der Tat eine Lebenskraft.

Rahels Weinen ist ein Klagelied. Trauer und Wut zugleich. Wir begegnen dem beim lebenden Menschen noch heute. Nicht allein in Rama im Westjordan, sondern in der ganzen Welt. „Ein Klagelied ist da, um gehört zu werden – nicht ein Aufsatz, der zensiert werden soll“, sagt der dänische Dichter Benny Andersen.

Das Buch der Psalmen im Alten Testament hat nicht nur die schönen Psalmen wie „Der Herr ist mein Hirte“ und andere Psalmen, die Trost und die Gewissheit zum Ausdruck bringen, dass Gott uns nahe ist. Es enthält auch Psalmen, die schreien von Verzweiflung und Gottverlassenheit. Als ich mit den Konfirmanden einen dieser Psalmen las und darüber sprach, warum in aller Welt so etwas in der Bibel steht, sagte ein Konfirmand: „Weil es ja Leute gibt, denen es so geht, und das weiß Gott sehr wohl“, und ein anderer sagte: „So etwas würde man ja nicht sagen, wenn man nicht glauben würde, dass da jemand ist, der es hört“.

Eben!

Das Entsetzliche ist nicht der Schrei – sondern das Verstummen, das keinen Schrei kennt. Der tote Blick. Die Hoffnung, die nicht da ist. Das Klagelied ist der ganz kleine Spross in der Wüste, der Glaube daran, dass da doch jemand ist, der hört … Der kleine Spross, aus dem die Hoffnung erwachsen kann, ein Spross des Glaubens, während er noch ganz unsichtbar ist.

Wir können – und sollen – das Leid nicht wegtrösten. Oder unsensibel sagen, dass Gott einen Sinn hat mit dem Leid … oder was da nun aus meinem Mund kommt. Wir sollen da sein. Wir sollen das Klagelied nicht zensieren, sondern anhören. Da sein. Mit gehen. In der Gewissheit, dass Gott da war und da ist. Gott hat nicht nur die Schreie von Rama gehört. Er hat auch seinen sterbenden Sohn am Kreuz gehört. Er hat selbst erfahren, sein eigenes Kind zu verlieren. Und ich vertraue ganz darauf, dass er beim Vater geht mit Leichensäcken – auch ohne, dass er es merkt, auch ohne, dass er es glaubt.

Und vielleicht wächst eines Tages der Glaube empor in der gequälten Seele, der Leere des Verlusts. Vor einigen Jahren hörte ich ein ganz neues Kirchenlied, das nur den englischen Titel „If“ trägt, auf Deutsch müsste es „Wenn“ heißen.  Das Lied ist ruhig melodisch … erzählend. „Wenn ich Maria hieße mit einem Kind auf meinem Arm“ – wir nähern uns ganz dem heutigen Evangelium, „wenn ich Maria hieße … gezwungen auf die Flucht … wenn ich nun dorthin kommen würde, wo du wohnst, hättest du Platz für mich …“. Die Strophen lösen einander langsam ab … bis zur letzten Strophe … „wenn ich Maria hieße mit einem Kind auf dem Arm, wenn das nun Jesus hieße“ …, und hier bricht die Melodie mitten in einer Strophe ab. Ich bin also gezwungen weiterzudenken … werde in die Erzählung einbezogen … und hineingezogen in etwas anderes, was ich aus der Bibel gehört habe von denen, die einen meiner Geringsten annehmen – die nehmen Jesus an.

Wir fragen wohl uns selbst – vielleicht gerade zur Weihnacht heute: Wie können Menschen sich selbst dazu bringen, dass sie Säuglingen den Hals durchschneiden oder ein Krankenhaus bombardieren? Wie können Gewalt und Rache und Wahnsinn eine solche Macht über die Leute gewinnen? Das ist nicht zu verstehen, sage ich vielleicht mir selbst – oder wir sagen es zu einander.

Vielleicht ist da etwas, was noch unverständlicher ist. Das ist, dass jemand auf Rache verzichtet, einen anderen Weg geht, den Weg der Liebe.

Den Weg, den Jesus ging bis in den Tod … damit niemand von uns sterben soll oder schreien oder leiden, wo er nicht gewesen war oder ist. Da soll kein Ort sein ohne Hoffnung auf einen dritten Tag, eine Auferstehung, ein Ostermorgen, ein Ort, wo Tränen getrocknet werden und alle Klagelieder sich erheben im Gesang der Engel vom Frieden auf Erden.

Im Kleinen können wir diese Erzählung in uns tragen – mit uns tragen. Unvollkommen und nicht perfekt. Aber wir können – und vielleicht bedeutet der Augenblick, wo es gelingt, eine ganze Welt für einen anderen.

 Jeden Augenblick muss ich mich dafür entscheiden, auf die Herrschaft der Gewalt zu verzichten und dies ihm zu überlassen, der zur Weihnacht mächtiger Gott, Ewigkeitsvater und Friedensfürst genannt wird, auch wenn er nur ein kleines Wort Gottes ist, das als ein Kind in einer Krippe liegt. Auch wenn er nur ein Flüchtling ist. Auch wenn er nur ein sterbender Mann am Kreuz ist … so ist er die lebendige Hoffnung Gottes in der Welt. Das ist unser Glaube. Das ist unser Leben.  Da beginnt es – da wird Rache in Barmherzigkeit, Tod in Leben verwandelt. Eine zarte Stimme, die hineinsingt in den Gesang der Engel vom Frieden auf Erden. Amen.

Pastorin Tine Illum

DK-6091 Bjert

Email: ti(at)km.dk

 

[1] Im Dänischen ist ”Ramaschrei” ein allgemeiner Ausdruck verzweifelter Klage.

de_DEDeutsch