Kolosser 2,12-15

Kolosser 2,12-15

“Tie a Yellow Ribbon” | Quasimodogeniti | 24.04.2022 | Kol 2,12-15 | Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

heute feiern wir die positiven Wirkungen des Ostersieges. Jesus Christus wurde wahrhaftig auferweckt! Seitdem dürfen wir wieder das Leben von seiner Erschaffung herdenken, „quasimodogeniti“. Wie Kinder, seelisch und global. Wir öffnen uns für Frühling und Sommer und engagieren uns, unseren Globus wieder enkeltauglich zu machen. In diesem Jahr erscheint uns eine nachhaltige Osterfreude jedoch unwirklich, denn die Passionswellen der letzten Monate und Wochen wollen nicht verebben, sie nehmen sogar an Heftigkeit zu. Corona macht Welle 5, Putins Krieg macht Welle 2, die eigenen Traurigkeiten nicht miteingerechnet. Diesmal brauchen wir Ostern als Durchbruch und als Querschnittslösung, stärker als sonst.

Dazu gibt es mehrere Ideen und Bilder in der Bibel; die aus dem Kolosserbrief hören sich so an: Mit Jesus sind wir alle auferweckt worden durch den Glauben. Das tat Gott, der ihn auferweckt hat von den Toten. Vergleichbar tot waren wir in Sünden, die er aber vergeben hat. Gott hat somit den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet. Damit hat er in Christus über alle Gewalten triumphiert, er hat sie ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt. (Kolosser 2,12-15, übertragen) – Gott soll eigenhändig mit Hammer und Nagel etwas am Kreuz fixiert haben? Keine holzgeschnitzte Leidens-Figur seines Sohnes, sondern einen Stapel Befreiungsurkunden, den hat er dort „kruzifixus“ gemacht?! Das könnte viele Passionswellen beenden. 

Da es am Kreuz geschah, wird unsere Hoffnung mit einem Blick dorthin beginnen. Geschah am Kreuz etwas Bedeutsames, das wir jetzt anders sehen können? Vom Sonntag „Quasimodogeniti“ zurückgerechnet war Jesus neun Tage zuvor gekreuzigt worden. Er hatte Menschen Heil zugesagt und ein heilloses Durcheinander verursacht. Er hatte das Unheil der Welt geschultert und war unter dem Sündenmix erstickt. Doch was er sagte und wie er starb, gab vielen zu denken – und zu glauben. Der römische Hauptmann bringt es auf den Punkt: „Dieser ist wirklich der Sohn Gottes!“ Dann zieht er mit seinen Besatzungssoldaten ab. Jesus und die anderen Verbrecher lässt er demonstrativ an den Kreuzen hängen. Sie sollen als geschändet gelten über den Tod hinaus. 

Doch ein jüdischer Ratsherr sichert sich eine Chance hinter den Kulissen. Für ihn unvorstellbar, dass ein Nachkomme des König Davids den Vögeln und Hunden zum Fraß wird. Vielleicht hat er einen ähnlichen Anfangsverdacht wie der heidnische Hauptmann, denn er lässt Jesus in das Felsengrab seiner Familie betten. – Nun ist das Kreuz leer. Das INRI-Schild baumelt, Eimer und Schwamm sind weg, der Dornenkranz liegt abseits, ein paar Nagellöcher am Querbalken, ansonsten Stille. Die juristische Spezialoperation ist abgeschlossen, der Ausständige ist tot. („exitus in tabula“). 

Jesus hat – bildlich gedacht – den Verhandlungstisch zwischen den Ansprüchen Gottes und dem Sündenmix seiner Menschen leergefegt. Das penible Nachtragen in die personalisierten Register durch den immer penetranter werdenden Gott beendet er. Gott sitzt nicht mehr auf dem Richterstuhl und blättert in den Akten derjenigen, die noch vor Gericht erscheinen müssen. Er ist sich der Schuldscheine überdrüssig geworden. Jedoch spießt er sie nicht einzeln auf, sondern durchbohrt sie als Stapel und nagelt sie als Schuldbrief ans Kreuz. Jetzt hat er die Hände frei.

In der jüdischen Vorstellung hatte angesichts der vielen Gebote Jeder was auf dem Kerbholz. Zwar schließt der Schöpfungsbericht mit dem Prüfsiegel: „Siehe, alles sehr gut!“ Auch die Sintflut beendet Gott bezüglich seines Zorns mit der Zusage: „Nie wieder!“ Karfreitag und Ostern konkretisiert er dies. Er tilgt den Schuldbrief, der mit seinen Forderungen gegen uns steht, und heftet ihn an das Kreuz Christi. Dennoch fand die frühe Kirche eine kategorische Vorab-Verurteilung viel vorteilhafter. Die Schuld vor Gott habe jeder Mensch implantiert bekommen beim Zeugungsakt durch Vater und Mutter. „Erbsünde“ steht im Vordruck jeder Geburtsurkunde. Da kann keiner was dran ändern.

Doch der Kolosserbrief beharrt auf der Rundum-Wirkung der Auferstehung. Gott war dabei in jedem Detail aktiv und präsent. Jesus wurde zwar von Menschenhand getötet, aber Gott hat ihn auferweckt und mit ihm alle, die vorher tot waren in Sünden. Zugleich hat er in Christus über alle Gewalten triumphiert, er hat sie ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt. Diese Sicht widerspricht der Parole, dass Jesus ein Versager war, der zu Recht am Schandpfahl starb, selbstverschuldet und wirkungslos. Denn Gott löste ihn nicht nur durch eine Auferweckung vom Kreuz ab, sondern nagelte an seiner Statt alle auffindbaren Schuldscheine an. Damit sind alle Mächte blamiert, die als Ankläger gegen uns Menschen antreten.

Wir hören das in unserm Denken noch einmal neu. Für den damaligen Streit zwischen gottesfürchtigen Juden und den aufstrebenden jungen Kirchen hatte das Brisanz. Bleiben wir im Bild vom Richtertisch Gottes, dann waren unsere bisherigen menschlichen Möglichkeiten entweder ein verlegenes Stammeln: „Wir haben uns doch immer bemüht.“ Oder ein Überhebliches: „Wir tragen das Siegel des Abraham, der hat genug Absolution für uns angesammelt!“ Oder das schräge Narrativ: „Wir sind auserwählt als Mosesvolk, können also niemals gegen dessen Gebote gehandelt haben. Wenn Gott sauer ist, soll er sich an anderen Völkern austoben!“ Klingt zwar gut, hilft uns aber nicht wirklich.

Paulus und seine Schüler fanden aus diesem Negativ-Karussell einen Ausweg heraus. Sie spürten Jesu Weigerung, ein so mechanisches Richterbild auf Gott anzuwenden. Sein eigenes Leiden und sein Auferstehen passten dazu nicht. Der Kolosserbrief sah in seinem Schicksal eher, dass er Gottes Schuldscheintisch leergefegt hatte und Gott selbst den Schuldbrief durchge-ixt und entsorgt hatte. Und so die Hände freibekommen hatte, um etwas anderes auf den Tisch zu stellen – eine Taufschale. Paulus und seine Schüler suchten eine Markierung, die Jeden gewiss macht, dass der Schuldschein im Osterereignis entwertet wurde. Dafür erweiterten sie die Taufe. Über die Wassergeste hinaus stellten sie heraus: Mit Jesus sind wir ihr begraben worden in der Taufe; mit ihm sind wir auch auferweckt durch den Glauben. So handelte Gott an ihm und so handelt er auch an uns. So erweitert feiern wir die Wirkungen des Ostersieges, von Quasimodogeniti an. Jesus Christus wurde wahrhaftig auferweckt! Wir dürfen das Leben von seiner Erschaffung her denken. Die dagegenwirkenden Mächte und Gewalten haben wir zu bekämpfen und sie öffentlich zur Schau zu stellen. 

Nun möchte ich das bisherige Bild erweitern. Am Kreuz mit dem baumelnden INRI-Schild und dem angenagelten Schuldbrief haben noch ein paar gelbe Textilbänder Platz. Dazu erinnere ich mich an einen Popsong. Ich hörte ihn in den Monaten, als ich mich gegen den Kriegsdienst entschied. Das Lied “Tie a Yellow Ribbon Round the Ole Oak Tree” erzählt folgendes: Ein Strafgefangener schreibt, bevor er nach drei Jahren Haft in seine Heimat zurückkehrt, seiner Liebsten einen Brief. Sie möge ein gelbes Band um die alte Eiche in der Stadt binden, damit er schon vom Bus aus sehen könne, ob sie ihn noch immer wollen. Andernfalls würde er weiterfahren, ohne auszusteigen. Bei seiner Ankunft sieht er den Baum dann von hundert gelben Schleifen bedeckt. 

Soweit das Lied. Einige Aspekte passen zum Ukraine-Konflikt, einige weisen weit darüber hinaus. Nach monatelangem Krieg und jahrelanger Flucht werden viele getrennte Eltern und Kinder diese Zeichen suchen und finden, dass es noch eine Heimat gibt und dass sie willkommen sind, auch füreinander. Und hoffentlich gibt es viele Überlebende, die den Bäumen gelbe Krawatten umbinden werden als Zeichen, dass ihre Frauen, Männer und Kinder trotz Traumata willkommen sind.

Der Freigelassene wünschte sich nur eine gelbe Schleife, doch er sieht schon von Weitem Hunderte, befestigt an der Alten Eiche in der Dorfmitte. Überglücklich braucht er nicht weiterzufahren, augenscheinlich wird er erwartet. Er ist nicht nur aus der Haft entlassen, er ist auch in einer neuen Geborgenheit willkommen. – Ein biblischer Prophet erweiterte das Bild sogar für Völker und über unsere Lebenszeit hinaus. Er sieht eine Allee mit Bäumen, die alle in die Hände klatschen, wenn zerstrittene Völker gemeinsam zum Berg Gottes pilgern werden. Das sind wertvolle Bilder, die uns Mut machen.

Das Kreuz Jesu Christi durchkreuzt alles, was falsch läuft und uns anklagen will. Es wird zum Lebensbaum für Entfremdete und Verfeindete, für Mühselige und Beladene, für Entlassene und Neugierige. Unter Gottes Lebensbaum öffnen wir uns für unsern Freispruch und wagen das Leben noch einmal, von seiner Erschaffung her. Amen.

Anmerkung:

„Tie a Yellow Ribbon Round the Ole Oak Tree“, Popsong von Irwin Levine und L. Russell Brown; geschrieben und von Hank Medress und David Appell 1972; siehe wikipedia

Lieder:

EG 94 Das Kreuz ist aufgerichtet 

EG 97 Holz auf Jesu Schulter

EG 100 Wir wollen alle fröhlich sein

EG 599 Singet dem Herrn ein neues Lied

 „Kreuz, auf das ich schaue“; Gotteslob 270

„Du gibst uns, Herr, die Lebenszeit“; Text: P. Spangenberg; Mel EG 344 „Vater unser im Himmelreich“

Fürbitten:

Herr Jesus Christus. Wir danken Dir, dass Du alles getan hast, damit wir von Schuld und Tod befreit uns dem neuen Leben zuwenden können.

Du, unser Gott. Wir bekennen, dass wir uns schuldig machen im Urteil über Andere. Dass wir aus nichtigem Anlass kein gutes Haar an ihnen lassen. Befreie unser Herz für eine neue Großzügigkeit.

Du, unser Gott. Es gibt Mitmenschen, die an uns schuldig geworden sind, denen wir dies nachtragen und nicht vergessen können. Befreie unser Herz für einen Neuanfang.

Du, unser Gott. Wir leiden, wenn uns Kreuze aufgeladen werden, Kreuze, mit denen wir nie gerechnet hätten. Befreie unser Herz durch eine Entlastung.

Du, unser Gott. Wir sind angewiesen auf die Unabhängigkeit der Justiz. Lass Richterinnen und Richter gerecht urteilen und Reue und Freiheit ermöglichen. Befreie unser Herz von Vergeltung.

Du, unser Gott. Armut und Not lasten auf Menschen. Viele werden ihrer Lebenschancen beraubt, andere können sich nie richtig entfalten. Befreie unser Herz von Kälte. 

Herr Jesus Christus. Schenk uns die Kraft deiner Vergebung, dass wir – wie du – wieder aufstehen, nicht aufgeben oder resignieren. Befreie unser Herz von Fatalismus.

Du, unser Gott. Wir beten für alle, die mit einem leeren Platz an ihrer Seite leben müssen. Tröste sie durch die Nähe lieber Menschen. Befreie unser Herz von Trägheit.

Gib uns ein neues Herz, stärke unsere Gedanken und Absichten. Mache uns zu Werkzeugen deines Friedens. Amen

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur. 

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