Lukas 1, 67-79

Lukas 1, 67-79

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


1. Advent, 3.
Dezember 2000

Predigt
über Lukas 1, 67-79, verfaßt von Doris Gräb


Die exegetischen und homiletischen
Entscheidungen

Liebe Gemeinde!

Machet die Tore weit – und die Türen in der Welt hoch…

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit…
Wir haben sie wieder
gehört, die vertrauten Worte. Und wir haben sie auch gesungen, die alten
Melodien.
Und wir sehen sie an diesem ersten Advent wieder vor uns: die
lieb gewordenen Zeichen, die uns bis heute durch unser Leben begleitet haben.
Den Adventskranz, früher von der Mutter meist noch selber gebunden, und
die vier Kerzen.

Als ich ein Kind war, hat der Adventskranz eine ungeheure Wirkung
auf mich ausgeübt. Und heute, nach vielen Jahren, immer noch diese
ansteckende Freude:
Sehet, die erste Kerze brennt!

Das Herz weitet sich. Der Blick weitet sich. Die Seele spannt
gleichsam ihre Flügel aus. Auch wenn es draußen, und in uns
womöglich nicht weniger, immer noch düster ist, bis eben düster
war: etwas beginnt zu leuchten. Beginnt auf unerklärliche Weise anders zu
werden, in mir – und draußen, auf den Straßen in unserer
Stadt, erst recht.

Sehet, die erste Kerze brennt. Nicht mehr rückwärts
gewandt. Nicht mehr von schweren Erinnerungen beladen. Nach den dunklen
Sonntagen, der Toten gedenkend und dabei das eigene Sterben immer mit
bedenkend: der Blick nach vorne. Wie durch ein geöffnetes Tor auf das
gerichtet, was kommt. Was werden wird. Was auf uns zukommt.

Was es denn ist, dieses Neue?

In dem alten, uralten Lied, gesungen vom hoch betagten Vater
Zacharias nach der Geburt seines Sohnes Johannes, hören wir davon.
Ein
Lied des Dankes ist es zunächst, und dann, genau so dicht und innig, ein
Lied der Hoffnung.
„Gelobt sei Gott, denn er hat besucht und
erlöst sein Volk.“ Und gegen Ende: „Uns wird besuchen das
aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in
Finsternis und im Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den
Weg des Friedens.“

Genau so sind wir doch gestimmt, in unserem Herzen. Und darauf
werden wir überdies eingestimmt durch die glitzernde Konsumwelt, die von
draußen auf uns eindringt.
„Uns wird besuchen das aufgehende
Licht aus der Höhe.“ Deswegen:
Freut euch, ihr Kinder!

Bereitet euch gut vor, Ihr Erwachsene! Ein Licht geht auf. Alles
wird gut. Gelobt sei Gott, denn er hat besucht und erlöst sein Volk.

Ja, sie stimmen irgendwie zusammen: die uralten, liturgisch
geprägten Worte des Lobliedes, und die weit reichende Sehnsucht so vieler
Menschen nach Licht. Nach tiefen Geborgenheits- und Harmonieerfahrungen.

Es liegt in Wahrheit gar nicht so weit auseinander, was wir in
unseren Kirchen zuweilen als unerträgliche Diskrepanz empfinden. Das alte
Lied der Hoffnung, wie wir es aus der Tradition kennen, und die adventliche
Erwartung, die mit der glitzernden Konsumwelt einher geht, und sie doch
transzendiert: die Sehnsucht nach Frieden, nach umfassendem Sinn, nach Licht
für alle die, die sonst in der Finsternis und im Schatten des Todes
sitzen.

Doch woher kommt das Licht? Was ist das für ein Licht? Wie
erfahren wir´s wirklich?
„Du, Kindlein, wirst ein Prophet des
Höchsten heißen; du wirst dem Herrn vorangehen,“ singt der alte
Zacharias. Du, kleiner Johannes, du bist der Hoffnungsträger für das
Licht aus der Höhe.

Ein Kind, ein ohnmächtiges kleines Kind als Vorbote für
das Licht, als Vorläufer für jenes andere, genau so ohnmächtige
und unscheinbar wirkende Kind in der Krippe.

Die ganze Wucht der Erfahrungen des Volkes Israel verdichtet sich
im Danklied des Zacharias. Und weist dann weiter, auf jenes Kind, in dem die
herzliche Barmherzigkeit des Gottes Israel sichtbar werden wird.

Und die Vielzahl unserer Lebenserfahrungen – der guten
wie auch der bösen – all unsere Schuld und unser Versagen –
alles, was wir mitbringen in diesen Adventsgottesdienst: können wir es nun
ablegen im Schein der Kerze und diesem Kind gleichsam auf die Schultern legen?
– Damit das Licht aus der Höhe auch uns leuchte, die wir sitzen in
Finsternis und im Schatten des Todes?

Ist es das, wonach wir uns sehnen? Durch den Glitzer und Glitter
der vorweihnachtlichen Straßen und Geschäftsauslagen hindurch?

Ein Kind als Hoffnungsträger. Ein Kind als Lichtbringer.
–
Diesem Kind dienen? – Vor ihm, wie der alte Zacbarias, ein Lied
des Dankes und der Hoffnung anstimmen? – Sich auf dieses Kind verlassen? Sich
ihm gar überlassen?

Nein, wir wollen, im Gegenteil, doch selber stark sein. Wir wollen
die Beschützer sein für unsere Kinder. Fürsorgende Begleiter,
damit sie in ein gutes Leben geführt werden.

Das alles soll nicht mehr gelten, wenn wir an das göttliche
Kind denken?
Sich auf das göttliche Kind einlassen, es in unser Herz
kommen lassen? –
Das könnte doch zunächst einmal
heißen: wir brauchen nicht immer krampfhaft unsere eigene Stärke
beweisen.

Dem göttlichen Kinde Raum geben: das könnte vor allem
für die herrschenden und beherrschten Väter und Mütter eine
große Gelassenheit bedeuten.
Denn: wenn wir uns ihm überlassen,
dann kann alles Imponiergehabe von uns abfallen. Dann brauchen wir um unsere
Anerkennung nicht mehr so verbissen und herrschsüchtig besorgt zu sein.

Du, Kindlein Johannes, wirst ein Prophet des Höchsten
heißen, singt Zacharias. Du wirst dem Krippenkind vorangehen, ihm den Weg
bereiten. Du wirst mit ihm unsere Füße auf den Weg des Friedens
richten.
In einem Kind will Gott sich finden lassen als der tragende Grund
unseres Lebens, dem wir uns überlassen, dem wir uns hingeben dürfen.

Ist es das, wonach wir uns gerade in der Adventszeit besonders
sehnen? Diese Gelassenheit, dieses Sich-überlassen-Können, statt
verbissen und herrschsüchtig besorgt sein zu müssen?

Das Kind finden, sich von ihm bestimmen und durchs Leben tragen zu
lassen: kaum ist es schöner und eindrucksvoller beschrieben als in der
alten Christophorus-Legende.
Christophorus, der zum Geschlecht der Riesen
gehörte, zog aus, um den mächtigsten König zu suchen und ihm
allein zu dienen. Dieser mächtigste König, so fand er
schließlich heraus, muß Christus sein, weil alle anderen, die auf
Erden Macht besitzen, sich vor dem Teufel fürchten und dieser wiederum um
das Kreuz am Straßenrand einen Bogen macht.

Von einem Einsiedler ließ er sich an einen Fluß
schicken, um die Menschen, die ans andre Ufer wollen, hinüber zu tragen.
Dort sollte ihm auch Christus begegnen. Bald rief denn auch ein Kind nach ihm,
das ihn bat, er solle es hinüber tragen. Christophorus nahm das Kind auf
seine Schulter, ergriff seinen Stab und machte sich auf den Weg. Aber da wuchs
das Wasser höher und höher, und das Kind wurde schwer wie Blei, so
daß er Angst bekam und dachte, er müsse ertrinken.

Am andern Ufer angekommen, setzte er das Kind nieder und sagte: Du
hast mich in große Gefahr gebracht, Kind. Hätte ich die ganze Welt
auf mir gehabt, es wäre nicht schwerer gewesen. Und das Kind sagte zu ihm:
Darüber brauchst du dich nicht zu wundern. Du hast nicht allein die ganze
Welt auf deinen Schultern gehabt, sondern auch den, der die Welt erschaffen
hat. Denn wisse, ich bin Christus, dein König, dem du mit dieser Arbeit
dienst. Damit du aber siehst, daß ich die Wahrheit sage, nimm deinen Stab
und stecke ihn neben deiner Hütte in die Erde, so wird er morgen
blühen und Frucht tragen. Das Kind verschwand, und am andern Tag trug der
Stab Blätter und Früchte wie ein Palmbaum.

Christophorus auf adventlicher Suche nach dem Herrn und
König, dem er dienen kann. Nach der Bestimmung seines Lebens. Nach dem
wahren Selbst, das ihm die Gewißheit seines Lebens schenkt.

Und siehe, da er sich diesem Kind überläßt, da
wird der Stab seines Lebens, das Zeichen seiner Stärke und
männlich-väterlichen Überlegenheit, zur Palme, die Blätter
und Früchte trägt.

Christophorus auf der Suche nach der Bestimmung seines Lebens:
genau so wie wir, die wir an diesem 1.Advent durch die Lichter hindurch nach
dem Licht aus der Höhe Ausschau halten. Nach der Barmherzigkeit unseres
Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe,
damit es erscheine denen, uns also auch, die wir sitzen in Finsternis und im
Schatten des Todes.

Sich einem Kind überlassen. Nicht die ganze Last der Welt und
unseres eigenen Lebens selber tragen wollen. Sich tragen lassen. Sich den
Frieden schenken lassen.

Das Licht aus der Höhe, das hinein scheint in unsere
Sehnsucht nach Leben. In unseren Wunsch nach Frieden. In unser Bedürfnis
nach Harmonie und Geborgenheit.

Sehet, die erste Kerze brennt.
Das ist doch ein Abglanz jenes
Lichtes aus der Höhe! Ein schwacher Widerschein aus jenem Lichtermeer, das
uns in diesen Tagen überflutet.
Ein Zeichen jener Botschaft, die uns
zum Leben hilft, dank der herzlichen Barmherzigkeit unseres Gottes.
Eben
dieser adventlichen, weihnachtlichen Botschaft:
Wir brauchen uns unser
Leben nicht selber zu verdienen. Es wird uns geschenkt, im Licht aus der
Höhe, im ohnmächtigen und doch so mächtigen Kind in der Krippe.

Komm, o mein Heiland Jesus Christ, meins Herzens Tür dir
offen ist. Ach zieh mit deiner Gnaden ein; dein Freundlichkeit auch uns
erschein!

Amen

Die exegetischen und homiletischen Entscheidungen:

Ich möchte mich in der Auslegung des Benedictus H.Stegemann
anschließen, der in dem Lied einen zunächst von christlicher
Interpretation völlig freien, von Anhängern des Täufers zu
dessen Ruhm geschaffenen Hymnus sieht. Die christliche Gemeinde hat dann aus
Johannes, dem Vorläufer des Kommens Gottes, den Täufer werden lassen,
der auf den Messias Jesus hinweist.

Die dichte, geformte Sprache des Hymnus macht den
„Zugriff“ im Blick auf unsere Predigtsituaiton nicht leicht. Ich
treffe für meine Predigt am 1.Advent zwei homiletische Entscheidungen:

  1. Das Neue, das mit dem 1.Advent beginnt, auch wenn der Rhythmus
    des Kirchenjahres kaum noch bekannt ist und die Weihnachtslichter gerade auf
    den Berliner Straßen schon längst zu leuchten begonnen haben.
  2. Das Kind Johannes – und das Kind Jesus: Was lässt
    gerade in der Advents- und Weihnachtszeit die Kinder so in den Mittelpunkt
    treten? – Einem Kind sich überlassen: darauf verzichten, mit eigener
    Kraft sich sein Lebensglück verdienen zu wollen. Sich auf ein Kind
    verlassen: nichts anderes als die Einsicht gewinnen, daß mit
    „unserer Macht nichts getan ist“…

Dies als der Sinn des Benedictus – und meiner Adventspredigt.

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a

13465 Berlin
Tel 030/40585890
WGraeb@t-online.de


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