Lukas 11,1-4

Lukas 11,1-4

Das Vaterunser angesichts der Brücke in Irpin | Rogate | 22.05.2022 | Lk 11, 1-4 | Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

das Foto erschien in den ersten Kriegstagen, es zeigte einen eiskalten Fluss, über den dicke Bretter notdürftig quergelegt waren. Die eigentliche Brücke war zerbombt noch im Hintergrund zu sehen. 

Über den wackeligen Holzsteg führten Soldaten hochbetagte Menschen hinüber, die nur ängstlich das andere Ufer betraten. (Fluß Irpin bei Butscha Anm.1) Das Foto zeigt praktische Nachbarschaftshilfe auf einer Flucht. Es weckt Erinnerungen aus der Geschichte unserer Vorfahren, es weckt in uns aber auch die Sehnsucht nach heilsamen Gegenbildern. Eins finden wir im 23. Psalm, das mit dem gedeckten Tisch in einem „sicheren Haus“. Von anderen hören wir in einem Video ukrainischer Konfirmanden, wie sie bei Kellerlicht Psalmen lesen, ergreifende Gebete in höchster Bedrängnis. (Anm.2) Weitere heilsame Gegenbilder finden wir im Vaterunser-Gebet; vom täglichen Brot, vom ersehnten Gottesreich und vom Geleit aus der Not heraus. Sie stehen uns zur Verfügung, wenn wir Leitplanken brauchen in Notlagen, aber auch wenn es uns gut geht.

Jesus selbst hat seinen Jüngern das Vaterunser-Gebet anvertraut, seitdem ruht es in unserem kollektiven Gedächtnis. Wir können es Satz für Satz sicher aufsagen. Änderungen oder Kürzungen würden uns stutzig machen. Doch der Evangelist Lukas hat uns eine Kurzfassung überliefert. Sie lautet: „Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden. Und führe uns nicht in Versuchung. Amen.“ (Lukas 11,2b-4 ) Schon des Lukas Anrede „Vater!“ ist so kurz, dass wir sie spontan ergänzen zum: „Vater-Unser!“ Warum aber berichtet uns die Bibel zwei Versionen? (Anm.3) Darf man das Vaterunser verkürzen, darf man es frei verlängern?

Dazu folgende – wohl erfundene – Anekdote (Anm.4): Ein Bischof besucht auf seiner Kontrollreise ein Kloster auf einer entlegenen Insel, das nur von drei Nonnen bewohnt wird. Bei der Abfrage, wie sie Gott anrufen, tragen sie ihm ihr Gebet vor: »Gott, wir sind drei, du bist drei, steh uns bei!« Dem Bischof fehlen Amen, Rosenkranz und Psalmen; unter Mühen bimst er ihnen immerhin das Vaterunser ein. Als sein Schiff schon ablegt hat, kommen sie zum Ufer gerannt und rufen: „Heiliger Vater, wie ging das nach dem Geheiligt-sei-dein-Name nochmal weiter?“ 

Ich denke, wir können Einiges aus dieser Anekdote mitnehmen zu unserem Gebet. Die Frauen halten zusammen und sind selbstbewusst. Sie rufen Gott als dreieinig an und erbitten seinen Beistand. Sie haben kurz dazugelernt, aber vieles alsbald vergessen. – Ähnliche Aspekte spüren wir bei uns, sie führen auch uns in eine neue Freiheit – im Verstehen des Vater Unsers und im eigenen Drauflos-Beten. Bis hin zur Frage: Wie geht es danach mit uns weiter?

Jesus veröffentlichte sein sehr inniges Gebet zur freien Nutzung. (Anm.5) Er formulierte es kurz und tippte dabei elementare Themen an. Damit erreichte er die Jünger damals und seitdem alle Mönche und Nonnen, die Reformatoren und heute jeden Menschen, in allen Kulturen. Deswegen gehen wir auf Entdeckungsreise, was im „Herrengebet“ schon angelegt ist und wie es uns hilft, unsere Realität zu durchdringen. Das wird bei der Anrufung „Vater“ so sein, beim „Brot“, beim kommenden Gottesreich und bei unserer Lebensführung.

Bei dem Titel „Vater“ haben wir angefangen, das Übergewicht männlicher Macht auszuscheiden. Ebenso, uns von sublimen Methoden des eigenen Vaters zu emanzipieren. Im Gegenzug gewinnen wir hinzu, dass es unser kollektiver, himmlischer Vater ist. Aber als ein „Vater“ zeigt er ja nur die Hälfte eines Elternbildes. Wenn wir Gott als Ganzes anrufen, dann denken wir uns aus Vater und Mutter die besten Anteile Beider zusammen. So können wir selbst uns ganzheitlich annehmen, denn wir entstammen einer versöhnten Verschiedenheit. In diesem Sinne Kind zu sein, ist eine heilsame Ressource. Schon mit der Anrufung „Du, unser Vater im Himmel“ bewegen wir uns mit unserer Bedürftigkeit in diese Ganzheitlichkeit Gottes hinein.

Jesus fabulierte ja nicht von (s)einem tollen Übervater, sondern stellte Nähe und Zuneigung her. (Anm.6) Damit machte er für alle potentiellen Beterinnen und Beter seinen himmlischen Vater anrufbar als einen Gott, der mit sich selbst versöhnt ist. Das ist sein Alleinstellungsmerkmal, deswegen heiligen wir ihn mit ungeteiltem Herzen. Das bestärkt uns darin, den Vorgang des Heiligens für Gott freizuhalten und ihn für ihn „beiseite zu tun“. (Anm.7) Das bewahrt uns davor, falsche Götter anzubeten oder Alltagshelden religiös zu überhöhen. Nicht jeder Kandidat ist vorab schon ein Messias, bei keinem Fußballtor war die Hand Gottes im Spiel. Seinen Namen zu heiligen, und zwar nur seinen, macht viel Platz für unser Ausprobieren und Drauflosbeten. 

Dabei stellen wir unser freies Tun und Denken unter die Zusage seines kommenden Reiches. Damit wagen wir eine ungewohnte Öffnung unserer Zukunft. Mit der Bitte „Dein Reich komme!“ erwarten wir eine Lösung, die 100prozentig aus seiner Originalität herkommt. Dabei geschieht ein gegenseitiges sich-Einlassen. Dass sich Gottes „Reich der Himmel“ auf unsere verkorkste Realität einlässt, ist unsere Rettung. Dabei hält er es „noch anderswo zurück“ (Anm.8), aber in unserem Gebet beginnen wir, uns darauf einzulassen. Bei dieser Bitte spüre ich eine hohe Unlust des Vaterunsers gegenüber dem Mainstream und sein Drängen auf die Ausrichtung meines Tuns. Noch sind wir zu stark mit allem verwoben, dennoch wagen wir, Hinweisgeber des nahen Gottesreiches zu werden. In diesem Sinn singen wir: „Blühende Bäume haben wir gesehen, wo niemand sie vermutet; Sklaven, die durch das Wasser gehen, dass die Herren überflutet.“

Noch haben wir die abgewandelte Frage in Erinnerung: „Heiliger Vater, wie ging es nach dem Dein-Reich-komme bloß weiter?“ Er hätte zurückrufen können: „Mit dem Brot!“ Denn sowohl in der Kurz- wie in der Langfassung steht diese konkrete Bitte an erster Stelle. – Brot erwerben wir ja am Ende einer Produktionskette und einverleiben es uns dann als Nahrung. Der Krieg vernichtet nicht nur Menschen, er vernichtet auch Saat und Ernte. Bis aus Saatkörnern ein Brötchen wird, braucht es Frieden in der Natur, Kraftaufwand bei der Ernte, Feingefühl in der Mühle, Handwerkskönnen in der Backstube und gute Kaufmannschaft an der Kasse. Das Gebet „Unser Brot gib uns Tag für Tag!“ bittet um intakte Lieferketten; dabei übersteigt es das private Kämmerlein. Die Brotbitte bleibt bescheiden, der Schutz des Getreides aber steht unter der Obhut Gottes. Es ist ja Jesus, der sowohl zur Brotbitte ermutigt als auch von sich selbst sagt: „Ich bin das Wasser des Lebens, ich bin das Brot des Lebens.“ Er verwendet Bildsprache, aber er gründet sich dabei in Gottes Hoheitsanspruch. Bei der Bitte um Brot spüren wir eine hohe „Nahrungsdichte“ des Vaterunsers und sein Drängen auf unser gerechtes Handeln. (Anm.9)

Ich komme noch einmal auf das Foto zurück. Wir sehen eine Behelfsbrücke aus Bohlen, quer über einen Fluss. Die Trümmer, die ins Flußbett gekippt wurden, sind nun die Säulen der Brücke. Übertrage ich dieses Bild auf das Vaterunser-Gebet, dann sehe ich die drei großen Gotteswörter „Dein Name, Dein Reich und Dein Wille“ als stabile Säulen aufragen. Die dann folgenden vier Bitten um „tägliches Brot, Vergebung von Schuld, Geleit hindurch durch Versuchung und Erlösung vom Bösen“ verteilen die Last von Hunger und Chaos, Aggression und Schuld auf die drei Säulen. Die vier folgenden Bitten erscheinen wie Stationen eines inneren Versorgungswegs und laden nach außen ein, Schritte in die Freiheit zu wagen. Als Mühselige, die wie wir sind, aber auch als Traumatisierte, die zu uns kommen. 

Unseren Eltern und Großeltern gelang die Aussöhnung mit überfallenen Nachbarvölkern. Viele von ihnen schöpften dazu Kraft aus dem Gebet: „Großer Gott, vergib alle Bedrohungen; dein Reich komme!“ Um ihm danach zu danken zur Melodie: „Der ewigreiche Gott woll uns bei unserm Leben ein immer fröhlich Herz und edlen Frieden geben!“ (Anm.10)
Das Vaterunser ist tragfähig durch Gott und belastbar für jedes Volk und jeden Menschen in höchster Bedrängnis. Das macht uns bescheiden, aber erfüllt uns auch mit Vertrauen. Wir haben einen himmlischen Vater, der da hilft und einen Herrgott, der da rettet vom Tode. Von daher hält uns die Einsicht zusammen: „Gut, dass es so ist: Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Amen

Verwendete Literatur: 

Francis Bovon: Das Evangelium nach Lukas, EKK III/2, 2008²; Manfred Lütz: Gott, 2007; Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen, 2020; Boris Cyrulnik: Glauben, 2018; Okko Herlyn: Das Vaterunser, 2017

Anmerkungen: 

Anm.1: Bild aus RP-online, copyright getty images von Chris McGrath; Anm.2: downloads Ukrainische Bibelgesellschaft, auch auf Youtube: Psalm 31 – Bible Society of Ukraine; Anm.3: Mt schreibt für die Zwölf, Lk für die Jünger, vgl F. Bovon, S. 137; Anm.4: Anekdote ohne Fundstelle; Anm.5: „Vielleicht ist Jesus nur beim Beten zur Ruhe gekommen.“ in: J.H.Claussen, Das Buch der Flucht S. 199; Anm.6: „Vater – mehr Vertrauen geht nicht“ in: Okko Herlyn, S. 19f; Anm.7: EKK-Kommentar von F. Bovon S. II/127; Anm.8: ebd.; Anm.9: „Das Vaterunser vernetzt uns vertikal wie horizontal.“ in: Okko Herlyn S.147; Anm.10: Der Choral „Nun danket alle Gott“ wurde 1955 im Lager Friedland nach Ankunft der offiziell letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion angestimmt. (aus: wikipedia)

Liedvorschläge: 

freiTöne 031: Mit allen meinen Fragen (Mel EG 365)

freiTöne 150: Justificatio sola fide

freiTöne 137: Wir glauben: Gott ist in der Welt

freiTöne 062: Du bist meine Zuflucht

freiTöne 200: Weise uns den Weg, Gott, geh mit

Fürbitten mit Responsorium: Dein Reich komme, dein Wille geschehe!

Guter Gott, bewege die Kriegsparteien in Syrien, im Jemen, der Ukraine und an vielen anderen Orten unserer Welt, mit dem Töten aufzuhören. Christus höre uns: > Dein Reich komme, dein Wille geschehe!

Starker Gott, wir schlittern weiter in weltweite Verteilungskämpfe um Getreide und Wasser. Nimm die Gebete der Hungernden an, entmachte die Kriegsgewinnler und ermutige uns, dass wir Konflikte entschärfen helfen. Christus höre uns: > Dein Reich komme, dein Wille geschehe!

Naher Gott, bewege die Regierungen Europas, nach einer Lösung für die Flüchtlinge neu zu suchen, die nicht nur Grenzabschottung betreibt, sondern auch gerechtfertigte Zugänge. Christus höre uns: > Dein Reich komme, dein Wille geschehe!

Mutiger Gott, gib unseren Politikern gute Visionen und lass sie dazu einen klaren Kopf zu bewahren, damit wir gemeinsam für eine wehrhafte Zivilgesellschaft und für eine gerechte Verteilung der Lasten eintreten. Christus höre uns: > Dein Reich komme, dein Wille geschehe!

Innovativer Gott, erleuchte uns Christen, dass erkennen, was wir tun können: in der Nachbarschaft, in der globalen Politik, durch Spenden, durch Kontakte mit Gestrandeten und Geflüchteten. 

Christus höre uns: > Dein Reich komme, dein Wille geschehe!

Empathischer Gott, lass uns einkehren in das Gebet, dass Du uns ins Herz gelegt hast. Lass uns, deine Menschheit, fröhlicher glauben und brennender lieben. Schenke uns nach jedem Amen einen neuen Anfang. Christus höre uns: > Dein Reich komme, dein Wille geschehe! Amen

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur. 

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