Lukas 15,11–32

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Lukas 15,11–32

Glaube und Selbstbestimmung | 3. Sonntag nach Trinitatis | 03.07.22, St. Marien | Lk. 15,11–32 | Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Vor etwas über 100 Jahren hat der französische Schriftsteller André Gide eine Erzählung geschrieben über die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Darin ist der junge Mann ausgezogen, nicht um das Leben zu genießen, sondern um sich selbst zu finden. Im Elternhaus fühlte er sich zu sehr beengt. Doch in der Ferne hat er es dann nicht geschafft, auf eigenen Füßen zu stehen, und ist resigniert nach Hause zurückgekehrt. Hier kommt es zu einem Gespräch mit dem jüngsten Bruder – den hat Gide zu der Geschichte dazuerfunden. Der Junge will es seinem Bruder nachtun und am nächsten Morgen ausziehen. Dieser bestärkt ihn darin und wünscht ihm die Stärke, in der Fremde durchzuhalten.

Gide hat viele Züge des biblischen Gleichnisses in seine Erzählung aufgenommen, aber ihm einen neuen Sinn gegeben. Der verlorene Sohn ist hier nicht einer, der das väterliche Erbe verschleudert und sich damit schuldig gemacht hat. Er ist vielmehr jemand, der sich von seinem Elternhaus emanzipieren will, so wie auch heute Kinder das Haus verlassen, wenn sie flügge geworden sind. Seine Rückkehr nach Hause ist nicht durch Reue motiviert, sondern durch Schwäche. Die Enttäuschung darüber wird am Ende durch die Hoffnung ausgeglichen, dem jüngsten Sohn möge der Schritt in die Selbstständigkeit gelingen. Darauf will Gide hinaus. Der Kontrast zu dem ältesten Sohn, der die ganze Zeit zu Hause geblieben ist und der die Erhaltung der Familientradition verkörpert, ist dadurch gegenüber dem Neuen Testament womöglich noch größer geworden.

Gides Umdichtung der alten biblischen Geschichte spricht moderne Menschen sehr an. Es ist kein Zufall, dass sie in mehrere Sprachen übersetzt und viel gelesen worden ist. Man darf sie nicht als reine Familiengeschichte verstehen. Gide hat nicht vergessen, dass der Vater im Gleichnis ein Bild für Gott ist. Hat man das im Blick, dann gewährt seine Erzählung einen ergreifenden Einblick in seine eigene Lebensgeschichte. André Gide ist nach dem frühen Tod seines Vaters von seiner Mutter evangelisch-reformiert erzogen worden. Da die Reformierten in Frankreich eine Minderheit sind, ist die Disziplin unter ihnen oft sehr streng. So auch bei Gides Mutter. Ihr setzt die Erzählung ein Denkmal mit der Figur des ältesten Sohnes und dessen unbeugsamer Treue zur elterlichen Tradition. Gide hat unter solcher Strenge sehr gelitten. Kein Wunder, dass er die Ketten der Religion gänzlich abstreifen wollte – so wie nach seinem Verständnis der verlorene Sohn. Aber das ist ihm ebensowenig wie diesem gelungen. Die dominierende Mutter, und mit ihr die harsche Religiosität, hat ihn immer wieder eingeholt. Es blieb ihm nur vage Hoffnung übrig, verkörpert durch den erfundenen dritten Sohn. Die inneren Kämpfe haben seine schriftstellerische Produktivität enorm gefördert; aber ein glücklicher Mensch ist er nie geworden.

Inzwischen hat sich das Rad der Geschichte weiter gedreht. Enge und strenge Religiosität gilt heute überwiegend als Kennzeichen von Sekten. Auf dem Vormarsch ist die grenzenlose Freiheit von aller Religion. Eine Rückkehr zu ihr wird oft gar nicht mehr erwogen. So erleben viele christliche Eltern bei ihren Kindern nicht nur den Austritt aus der Kirche, sondern den Verlust jedes Sinnes für den Glauben überhaupt. Das Verhältnis zu Gott steht in unserer Gesellschaft im Belieben des Menschen und wird weithin nicht mehr als unbedingt verpflichtend erlebt. Selbst die Geschichte vom Sündenfall deuten manche moderne Denker als Befreiung des Menschen aus der überholten Gottesbindung und als letzten Schritt zu voller Selbstständigkeit.

Blicken wir von hier aus auf das Gleichnis Jesu zurück, so scheint es durch die moderne Entwicklung hoffnungslos veraltet zu sein. Es geht ja noch von der  antiken Voraussetzung aus, dass es ein eigentlich unverzeihlicher Fehltritt ist, die Tradition der Väter und damit auch die angestammte Religion zu verlassen. Nicht zuletzt deshalb haben die Hörer Jesu damals über den völlig unerwarteten freudigen Empfang des reuigen Sünders durch seinen Vater so gestaunt. Was hat es uns heute noch zu sagen?

Zweierlei fällt auf, was sich vom Normalverständnis der Antike unterscheidet. Das Erste ist: Der Vater zahlt seinem jüngeren Sohn ohne Weiteres den Lebensunterhalt für die nächste Zeit aus. Keine Bedingungen, kein Versuch ihn umzustimmen. Der Vater versteht das Verlassen des Elternhauses als ganz normalen Vorgang. Er zahlt seinem Zweitgeborenen den Lebensunterhalt für die nächste Zeit. Offenbar will er ihm tatsächlich die Chance geben, sich auszuprobieren. Dabei geht er zwar davon aus, dass er seine Loyalität zum Elternhaus nicht preisgibt, sondern mithilfe des ausgezahlten Geldes auf neue Weise bewährt. Aber da der Sohn in ein fernes Land mit anderer Religion ziehen will, geht der Vater damit ein Risiko ein, so wie heute mit uns in einer gottfernen Welt.

Der Auswanderer verprasst dann das Geld des Vaters und täuscht damit dessen Vertrauen. Eine Hungersnot zwingt ihn dazu, einen entwürdigenden Job als Schweinehirt anzunehmen und sich sogar von Schweinefutter zu ernähren. Das war für einen Juden doppelt schlimm, denn Schweine galten ja als unrein. So hat er denn, wenngleich notgedrungen, auch die Gebote seiner Religion verletzt. Sein Sohnesrecht ist nun verwirkt. Der Hunger bringt ihn zur Besinnung. Er will trotz allem zurückkehren, aber keinen Anspruch mehr auf seine Rechte als Sohn erheben, sondern fortan seinem Vater als gehorsamer Knecht dienen. Damit nimmt er sich seinen älteren Bruder zum Vorbild; der hat ja ohne Wenn und Aber am Gehorsam gegen den Vater festgehalten.

Man könnte sich gut vorstellen, dass der Vater ihn des Hofes verweisen würde. Er musste doch maßlos enttäuscht von ihm sein. Aber es kommt ganz anders, und das ist das Zweite, das auffällt. Der Vater geht mit keinem Wort auf das Verhalten des Sohnes in der Fremde ein. Für ihn zählt nur der Entschluss zur Umkehr. Der ist für ihn so entscheidend, dass er dem jungen Mann sogar entgegenrennt – für einen älteren Mann im damaligen Orient geradezu unwürdig. Und er bereitet ihm einen festlichen Empfang, gibt ihm sogar einen Ring, also ein Symbol der Macht, das ihn dem älteren Bruder mindestens gleichstellt. Das Gleichnis will damit sagen: In solcher scheinbar maßlos übertriebenen Güte handelt Gott an uns Menschen, wenn wir ein verfehltes Leben ernsthaft bereuen und uns an ihn um Vergebung wenden. Er vergibt nicht nur moralische Verfehlungen, sondern sogar den Abfall von Gott. Untreue gegenüber Gott ist für einen ernsthaft religiösen Menschen auch heute noch die Sünde schlechthin.

Die große Freude über die Rückkehr des verlorenen Sohnes bewirkt, dass von nun an in dem Verhältnis zwischen Vater und Sohn nichts mehr so ist wie früher. Der Durchgang durch die Krise hat den Sohn total verändert: „Er war tot und ist wieder lebendig geworden.“ Er fühlt sich nicht mehr bedrückt und unzufrieden. Sein Verhältnis zum Vater ist jetzt frei, offen und von gegenseitiger Liebe bestimmt. Natürlich wird ihm die Mitarbeit auf dem Hof nicht erspart bleiben. Es ist im Gegenteil zu erwarten, dass er sich da ganz anders als früher ins Zeug legen wird. Aber es ist abzusehen, dass er das dankbar und gerne tun wird.

Nun will der Vater auch den Älteren für so eine Einstellung gewinnen. Auch ihm eilt er entgegen. Aber dieser Sohn kann die ungebrochene Liebe seines Vaters zu seinem Bruder nicht verstehen. Ja, er kann ihn nicht einmal Bruder nennen, sondern nur verächtlich: „Dieser dein Sohn da“. Stattdessen reklamiert er eine mindestens ebenso ehrenvolle Behandlung. Schließlich hat er doch seine Treue durch seinen verlässlichen Gehorsam bewiesen: „Ich habe immer deine Befehle ausgeführt.“ Diese gekränkte Reaktion zeigt: Seine Treue zum Vaterhaus ist offenbar weniger von Liebe als von Pflichtbewusstsein bestimmt. Der Vater versucht es trotzdem noch einmal: „Du bist doch hier zu Hause, hast Zugang zu meinem gesamten Besitz, musst nicht kuschen wie ein Knecht, sondern kannst deine eigenen Ideen einbringen.“ Er soll sich mitfreuen und auch zu einem gelösten Verhältnis zum Vater finden. Der liebt beide Söhne gleichermaßen. Er will keineswegs den Jüngeren vorziehen. Aber von einer Umstimmung des Älteren hören wir nichts. Wie es scheint, hat er sich der Liebe des Vaters aus Verbitterung verschlossen.

Das Gleichnis zeigt uns zwei ganz unterschiedliche religiöse Lebensentwürfe. Die kommen trotz aller weltgeschichtlichen Veränderungen auch bei heutigen Christen vor. Angesichts der beunruhigenden Entwicklung in neuester Zeit empfinden vielleicht manche von uns eine heimliche Sympathie für den älteren Sohn. Er steht ja für jemanden, der unbeirrt von allen Versuchungen durch die moderne Gottlosigkeit unsere christliche Tradition hochhält, während sein Bruder uns mit seinem Ausbruch Schimpf und Schande eingebracht hat. Er ist zwar zurückgekehrt, aber bleibt da nicht ein Makel?

Und doch enthält der überschwängliche Empfang des verlorenen Sohnes durch seinen Vater auch für uns einen großen Trost. Ich denke da an viele Menschen meiner Generation. Die haben sich von der nationalsozialistischen Ideologie einwickeln lassen oder sogar aktiv an den Untaten des Regimes teilgenommen, sind aber dann zur Besinnung gekommen und haben sich von da an ehrlich für die Freiheit des Glaubens und des christlichen Lebens engagiert. Sie leben wie der jüngere Sohn im Gleichnis von Gottes Vergebung für das, was vorher war. Die Verirrungen der Vergangenheit haben sie sensibler gemacht für das Wiederaufleben von Fremdenhass und Antisemitismus. Sie sollten sich aber nichts einbilden auf ihre Einsicht, denn die haben sie letztlich Gott zu verdanken.

Freilich schätzt Gott solche Menschen nicht geringer, die eher zur Beständigkeit neigen und den Wert alter Tradition zu schätzen wissen. Die christliche Gemeinde braucht die Beständigen genauso wie die Reformeifrigen. Sonst hätten wir über die jeweils aktuellen Themen hinaus, wie z. B. Umweltschutz, bald nichts mehr zu sagen und wären als christliche Kirche überflüssig. Traditionspflege als Selbstzweck freilich macht die Kirche steril und lässt sie absterben.

Der ältere und der jüngere Sohn des Gleichnisses korrigieren sich in der Kirche gegenseitig. Das ist kein Ausgleich, der auf Null hinausläuft. Es muss bei uns durchaus genau wie im Gleichnis Streit zwischen beiden geben. Nur so kann unser Glaube den Herausforderungen unserer Zeit wirksam begegnen. Der Streit muss allerdings offen ausgetragen werden und fair bleiben, aber auch zu Entscheidungen führen. Dafür sorgt die Liebe des Vaters, die er in unsere Herzen gibt.

Amen.

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Dietz Lange, geb. 1933, lehrte von 1977 bis 1998 als Professor für Systematische Theologie an der Universität Göttingen. Er ist seit 1988 ehrenamtlicher Prediger in der St. Marien-Gemeinde ebenda.

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