Lukas 17,11-19

Lukas 17,11-19

14.Sonntag nach Trinitatis | 10.09.23 | Lk 17,11-19 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Frank Larsen |

Viel zu schön für meine alten Augen

Es geht dem Herbst entgegen, so dunkel am Abend, dass es wieder Sinn macht, eine Kerze auf dem Tisch anzuzünden. In dem Buch von Merilynne Robinson mit dem Titel Gilead[1] wird von einem Vater erzählt, der an der Erinnerung daran festhält, wie er das erlebte, wenn sein siebenjähriger Sohn zum Abendbrot kommt. „Du kommst herein in einem Duft von Abendluft mit strahlenden Augen und roten, kalten Backen und Fingern“, schreibt er, „allzu schön im Licht der Kerzen für meine alten Augen“. Ja, denn der Vater, der schreibt, ist siebenundsiebzig Jahre alt. Deshalb sagt er, dass er alte Augen hat. Aber es ist auch deshalb, dass der siebenjährige Junge allzu schön ist für seine Augen. Der Anblick des Jungen mit den strahlenden Augen und den roten Backen im Licht der Kerzen überwältigt ihn einfach. Er erzählt, wie sehr er sich nach einem Kind gesehnt hat und wie sehr er sich nun fast sieben Jahre lang über den Jungen gefreut hat. „Durch die große Liebe und Fürsorge Gottes haben die meisten von uns jemanden, die wir ehren können, Kinder ihre Eltern, Eltern ihr Kind“, schreibt er. Der alte Mann ist Pastor, und das kann man gut hören. „So wie Gott liebt dich deine Mutter für alles was du bist und tust“, schreibt er, „so ist es, ein Kind zu ehren. Du verstehst, wie göttlich es ist, das Sein von jemandem zu lieben. Wie erfreuen uns einfach an deiner Existenz“.

Der alte Pastor, der schreibt, verlor seine erste Frau und sein erstes Kind bei der Geburt, als er ganz jung war. Er hat nie geglaubt, wieder Liebe zu erfahren, und schon gar nicht, Vater zu werden.  Der Sohn ist ja ein ganz gewöhnlicher Junge von sieben Jahren. Aber in den Augen des Vaters ist der gewöhnliche Junge nichts weniger als ein Wunder. Das ist er auch für seine Mutter. Eine unerwartete und überwältigende Freude, die die Eltern nicht sich selbst zu verdanken haben. Das macht gar keinen Sinn. Sie können ihre Freude nur als eine Gabe des guten Gottes deuten, ein Ausdruck seiner Liebe und Fürsorge. Gemeinsam freuen sie sich über die Existenz des Jungen, allein darüber, dass er existiert. So ehren sie ihr Kind. Ihn hereinkommen sehen an einem Herbstabend in einem Duft von Abendluft mir strahlenden Augen und roten, kalten Backen und Fingern weckt einfach eine Dankbarkeit, die die Augen feucht werden lässt. Auch wenn das jeden Abend geschieht.

So wie ich das verstehe, ist dies der Unterschied zwischen den neun Aussätzigen im heutigen Evangelium und dem einen, der zurückkehrte. Dass der eine seine Heilung als eine unerwartete und überwältigende Freude sieht, die er nicht sich selber verdankt. So wie der alte Pastor in Gilead ist er genötigt, dem guten Gott zu danken. Warum die anderen neun, die geheilt wurden, nicht zurückkehrten, darüber steht in der Geschichte nichts. Vielleicht waren sie zu sehr damit beschäftigt, in das Leben zurückzukehren, das ihnen verwehrt gewesen war, als sie aussätzig waren. Das wäre so gesehen ganz verständlich und sehr menschlich, auch dass man ganz schnell vergisst, wie krank und elend man war, wenn man einmal wieder gesund ist. Aber wenn die neun allzu viel zu tun haben, um umzukehren und zu danken, so besteht die Gefahr, dass sie gar nicht merken, was sie bekommen haben und von wem sie es bekommen haben.

Sie merken natürlich, dass sie gesund geworden sind. Sie haben ihre reine, glatte Haut wiederbekommen. Aber vielleicht ist es nur der zehnte, der einen Blick dafür hat, dass er anderes und mehr bekommen hat als die reine glatte Haut. Befreiung von Isolation, Schmerz und Unreinheit, ganz neue Möglichkeiten, ein strahlend neues Leben, das offen vor ihm liegt. Das ist eine Befreiung, die er nur als eine Gabe des guten Gottes deuten kann, der offenbar mitten in seiner Welt gegenwärtig ist, wo sonst niemand kommt, draußen im Grenzland zwischen Leben und Tod, wo die Aussätzigen leben. Dort ist der gute Gott gegenwärtig in dem Mann, der sich seiner und der anderen erbarmt. Ihm muss er seien Dank bringen. Und das verändert die Heilung. Denn ohne Dank ist dies nur eine Heilung. Aber mit dem dank des Samariters wird die Heilung auch als die göttliche Gabe gesehen und empfangen, die sie ist.

Dein Glaube hat dich geheilt, sagt Jesus, und das ist es, was er offenbar Glaube nennt, die Dankbarkeit des Samariters. Sein Blick dafür, was er bekommen hat und von wem er es bekommen hat. Dass die Heilung mehr ist als eine Heilung, sie ist eine Freude und eine Gabe des guten Gottes. Wie der Junge in dem Buch Gilead mehr ist als ein Junge für den der mit dankbaren Augen sieht. Das ist ein Blick auf unser Dasein, der es größer und schöner macht. Und ohne diesen Blick besteht die Gefahr, dass unser Leben arm und freudlos wird. Wie der alte Pastor am Ende der Aufzeichnungen sagt, die er für seinen Jungen geschrieben hat, weil er weiß, dass er ihm nicht so lange folgen kann, wie er gerne wollte: „Wo man auch hinschaut, kann die Welt leuchten im Licht der Verklärung. Man braucht ihr nichts anderes beizugeben als ein wenig Wunsch zu sehen“.

Es ist dieser kleine Wunsch, der uns veranlasst, heute und an allen anderen Tagen in die Kirche zu gehen. Und auch der Wunsch, dass wir die kostbaren kleinen Kinder mitbringen. Der Wunsch, dass sie und wir Augen bekommen, die die Welt hell im Licht der Verklärung sehen können. Augen, die auch dann, wenn es um uns herum finster wird, noch immer sehen können, was wir bekommen haben. Die kleinen und großen Menschen sehen, die im Laufe unseres Lebens durch unsere Türen kommen in einem Duft von roter Abendluft. Mit roten Backen als Gabe des guten Gottes, sie ehren, indem wir ihr Wesen lieben. Uns freuen über ihre Existenz, einfach darüber, dass sie da sind. Und sehen, dass der gute Gott noch immer mitten in unserer Welt zugegen ist, gegenwärtig als der, der sich über uns erbarmt und uns aus Isolation und Qual und Unreinheit befreit zu neuen Möglichkeiten und einem glänzenden neuen Leben. Auch im Grenzland zwischen Leben und Tod. Auch wenn alles vorbei ist. Wir vergessen es. Und wir geraten in Zweifel. Aber dann geschieht es, dass wir Hilfe bekommen für eine neue Sicht mit den Worten, die wir hier sagen und singen. Sie sind eine Einübung in Dankbarkeit, augenöffnende Worte, die unser Dasein ausweiten und uns das Licht der Welt im Glanz der Verklärung sehen lassen. Amen.

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

mfl(at)km.dk

[1] 2004, deutsch 2006 und 2016.

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