Lukas 17,11-19

Lukas 17,11-19

Geschichten, die das Leben schrieb | 14. So. nach Trinitatis | 17.09.23 | Lk 17,11-19 | Nadja Papis |

Es war einmal…

Schon als Kind habe ich Geschichten geliebt und auch heute noch erzähle ich nicht nur gerne, sondern höre auch gerne Geschichten. Dabei spielt es mir nicht so eine Rolle, ob die Erzählerin sehr eloquent ist, der Erzähler das Gesprochene mit lebhafter Gestik inszeniert oder die Erzählung mit brüchiger Stimme am Krankenbett erfolgt. Eine Geschichte ist für mich immer eine Begegnung – mit dem Menschen, der sie erlebt hat oder dem sie etwas bedeutet, und mit dem Leben selbst. Natürlich ist der Bericht einer spektakulären Begebenheit, eines aussergewöhnlichen Abenteuers oder eines historischen Momentes spannend. Ich habe für mich aber schon bald herausgefunden, dass mich alltägliche Ereignisse, unauffällige Momente und ganz normale Lebensgeschichten genauso faszinieren. Wohl ein Erbe meines Geschichtslehrers, der uns in der ersten Lektion auf die Fragen eines lesenden Arbeiters von Berthold Brecht hinwies: «Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?» (ganzer Text in der Sammlung «Svendborger Gedichte», 1939)

Derselbe Lehrer eröffnete mir auch einen Zugang zum Historischen, der für mich damals als Jugendliche und auch heute noch als Erwachsene Sinn macht: Aus der Geschichte muss und kann man lernen.  Höre ich Geschichten aus dem Leben, begegne ich darin nicht nur der erzählenden Person, ich begegne darin dem Leben – so wie es nun mal ist, manchmal spannend, manchmal auch langweilig und unspektakulär. Lernen kann ich aus allen Geschichten und auch aus den damit verbundenen Begegnungen.

Die heutige Bibelstelle ist für mich eine solche Geschichte, aus der ich lernen kann, ja, sie ist eine eigentliche Lehrerzählung über den Glauben.

Was will sie uns denn lehren?

Ganz einfach: Jesus heilt 10 Personen, nur einer kehrt zurück und sagt ihm Danke. Und es ist uns allen klar – schliesslich sind wir auch gut erzogen: Es gehört sich, Danke zu sagen.

Nein, das ist mir jetzt zu platt. Darum wurde die Geschichte nicht überliefert, obwohl ich als Mutter selbst Wert daraufgelegt habe, dass meine Kinder sich anständig bedankten. Sie sollen ja nicht alles für selbstverständlich halten! Aber nein, wirklich, das wäre doch zu wenig. Schauen wir genauer hin!

Der Bibeltext hat eigentlich zwei Teile: der erste beschreibt die Wunderheilung – an sich schon ein ziemliches Ereignis – und der zweite dann die Umkehr des einen Geheilten und seinen Dank an Jesus. Beide Teile enthalten wahre Schätze an Gedanken und Botschaften, ich nehme ein paar heraus und überlasse es Ihnen, was Sie davon mitnehmen in Ihr Leben…

Jesus geht entlang der Grenze zwischen Galiläa und Samaria, also einer bedeutenden Grenze damals. Während Galiläa Heimat, Gewohnheit und Sicherheit bedeutete, war Samaria für die damalige Bevölkerung von Israel fremdes Terrain, ja sogar feindliches oder zumindest suspekt. Es gab zwar keinen Krieg zwischen den beiden Völkern, aber viele Vorurteile, Misstrauen und Abgrenzung. Eine andere Sprache, ein anderer Glaube, andere Sitten, wir kennen das – plötzlich schleichen sich Abneigung und Befremden ein, obwohl wir gar niemanden kennen, dort drüben. Gehen wir dem lieber aus dem Weg. Nun, Jesus macht das nicht: Er geht auf der Grenze, offen auf beide Seiten. Und wenn wir ein wenig vorausschauen, spielt das eine Rolle, denn der umkehrende Geheilte ist aus Samarien. Der Fremde oder Ausländer, wie er im Text bezeichnet ist, wird zum Beispiel für den wahren Glauben, der rettet. Was uns heute selbstverständlich scheint, war damals höchst bemerkenswert: Jesus scheut weder die Offenheit diesem fremden Land gegenüber noch die Begegnung mit als «Fremde» gestempelten Menschen, im Gegenteil, seine Botschaft erreicht auch sie und sie nehmen sie an. Und seien wir mal ehrlich: Wie selbstverständlich ist das heute wirklich?

Zurück zum Anfang: Am Eingang zu einem Dorf kommen Jesus zehn Aussätzige entgegen. Die Angst vor Ansteckung war bei Hautkrankheiten so gross, dass die Kranken aus der Gemeinschaft ausgesondert wurden. Sie verloren also nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihren Status als Teil des Dorfes, ihre Familien und ihr Zuhause. Begegnungen sind verboten, sie müssen Abstand halten, den Gesunden aus dem Weg gehen. Sie verstummen.

Kranke und Leidgeprüfte verstummen. Das kenne ich auch heute. Wie viele, denen Unrecht geschehen ist, können nichts sagen – vor Entsetzen, vor Not, vor Hilflosigkeit.

Die zehn bleiben stehen – und zwar auf Distanz. Das ist ihnen vorgeschrieben. Es brauchte sie wahrscheinlich schon allen Mut, sich Jesus so weit zu nähern und in sein Blickfeld zu treten. Ich stelle mir diesen Moment in meiner Fantasie vor: Stumm stehen sie da, die zehn mit ihren zerrissenen Gewändern, ihrer zerfetzten Haut, grau sehe ich sie, gebückt, undeutlich. Und Jesus blickt sie an. Ja, so sehe ich das: Er schaut nicht weg wie viele andere, er schaut sie an. Direkt auf sie ist sein Blick gerichtet. Seine Augen offen. Seine Haltung auch.

Und dieser Blick bewirkt etwas: Sie finden ihre Stimme wieder. Für mich ist das schon ein Wunder. In der Seelsorge begegne ich ab und zu Menschen, die verstummt sind. Menschen, denen so Grässliches und Entsetzliches geschehen ist oder angetan wurde, dass sie nicht reden können. Um auch nur irgendwie zu überleben, mussten sie selber wegschauen, tief in sich vergraben, was unaussprechbar ist. Oder das Reden wurde ihnen manipulativ verboten. Manchmal gelingt es diesen Verstummten nach Jahren in einer sicheren Umgebung sorgfältig hinzuschauen und ganz langsam ihre Stimme wiederzufinden, ja, Wörter, Sprache zu finden, um das Unfassbare auszudrücken. Es ist immer ein verzweifelter Kampf, eine elend anstrengende Arbeit. Viel Mut und Kraft braucht es, zumal das erst der Anfang einer oft schmerzhaften und schwierigen Verarbeitung ist.

Auch an anderen Orten dieser Welt begegnen wir ihnen: Den Verstummten, die sich nicht für ihr Recht einsetzen können – weil sie nicht darum wissen, weil das tägliche Überleben zu viel abverlangt, weil niemand zuhört. Es sind die vielen Namenlosen, die hungern, sich unter schlimmsten Bedingungen abarbeiten, als reine statistische Zahlen in den Nachrichten auftauchen – wenn überhaupt.

Auch diese zehn verstummten Menschen stehen da. Und werden wohl zum ersten Mal seit langem wahrgenommen. Jesus bewirkt allein mit seinem Blick, dass Verstummte ihre Stimme wiederfinden und um Mitleid bitten können. Wieviel doch das Wahrnehmen verändern kann. Kein Wort, keine Geste, keine Hilfeleistung, einfach nur: da sein und wahrnehmen.

Die Verstummten erheben ihre Stimme und bitten um Mitleid. Warum bitten sie ihn eigentlich nicht um die Heilung von ihrer Krankheit? Ist es so offensichtlich, was sie brauchen, dass sie das gar nicht ansprechen? Oder erwarten sie die Heilung gar nicht?  Was soll denn dieses Mitleid nützen? Ist es für sie vielleicht die Voraussetzung für die Heilung? Oder das Beste, was sie sich erhoffen können?

Spannend ist ihre Anrede: Jesus, Meister! Ein Ehrentitel, den der Evangelist Lukas gerne verwendet. Es ist ihnen von Anfang an klar: Jesus ist nicht wie du und ich, nicht irgendein Wanderprediger oder Wunderheiler, sie erkennen das Göttliche in ihm. Und in seinem Blick begegnet ihnen der göttliche Blick und der ist voll Mitleid, voll Anteilnahme, voll Zuwendung. Gott hat sich in Jesus laut den Evangelien mitfühlend, nahe und heilsam gezeigt.

Und in absoluter Vollmacht – denn als nächstes folgt kein Gespräch, keine Hilfe zur Selbsthilfe, sondern ein Auftrag, ja vielleicht sogar ein Befehl: Geht, zeigt euch den Priestern! Es ist eine einseitige Sache: Sie bringen ihm ihr Vertrauen entgegen und er erfüllt es. Mehr als einen kurzen Augenblick teilen sie nicht. Schon sind die zehn auf dem Weg zurück zum Dorf. Beschwingt stelle ich mir ihre Schritte vor, vielleicht vorfreudig, vielleicht auch noch leicht zweifelnd. Und dann geheilt!

Hier schwenkt unsere Geschichte auf den einen, der umkehrt, aber ich möchte noch kurz bei den neun bleiben, die weitergehen. Stellen Sie sich das mal vor: Nach Wochen, vielleicht Monaten oder Jahren ohne Zugang zur Dorfgemeinschaft, zur Familie und dem normalen Leben kommt plötzlich diese Heilung. Also, ich würde schnellstens beim Priester antanzen, die Formalia erledigen, die notwendig sind, und dann endlich diejenigen in die Arme schliessen, die ich so vermisst habe. Würde mich umschauen nach dem Gewohnten und nach dem Veränderten. Würde das Leben voll auskosten, das ich entbehrt habe. Irgendwann nach der ersten Euphorie käme mir wohl schon wieder in den Sinn, wer mich geheilt und das alles möglich gemacht hat. Und ich wäre wohl auch dankbar dann. Nur ist Jesus dann nicht mehr da. Der Moment verpasst. Wie oft habe ich im Leben schon Gutes erfahren und vergessen, Gott dafür zu danken? Wie oft ging die dankbare Haltung im Alltagstrubel unter, obwohl sie angebracht gewesen wäre? Und auch in den erlösenden Augenblicken kommt mir zuerst die Umarmung meiner Liebsten in den Sinn und dann erst das Dankgebet ans Göttliche.

Einer ist zurückgekehrt, ja, mitten auf dem Weg ist er umgekehrt und zurück zu Jesus gegangen. Noch vor der erneuten Begegnung richtet er seinen Lobpreis an Gott. Dann wirft er sich vor Jesus zu Boden und dankt.

Das ist der Höhepunkt dieser Geschichte. Hier passiert etwas. Etwas, das in die Tiefe geht, etwas, das berührt. Es hat nichts mit der moralischen Botschaft vom Danken zu tun. Es hat auch nichts mit Demut oder Unterwerfung zu tun. Dieser Mann hat gemerkt, dass die Heilung nicht nur körperlich ist. Sie hat sein Leben tiefgehend verändert. Aus dem Vertrauen ist Glaube geworden. Aus der Wunderheilung ist Heil entstanden.

Die Unterscheidung zwischen Heilung und Heil ist mir sehr wichtig. Nicht alle Menschen erfahren Heilung, egal wie fest sie glauben, aber ich bin überzeugt davon, dass Jesus uns den Weg zum Heil öffnet. Heil ist etwas Umfassendes, der erlöste Zustand, eine Unversehrtheit, die auch mit körperlichen Gebrechen wirkt. Mit Worten lässt sich das kaum beschreiben, es ist ein inneres Erleben. Für mich beschreibe ich es so: die Erfahrung der totalen Annahme durch das Göttliche – in Verbundenheit mit mir und allem Lebenden.

Dieser eine hat das in diesem kurzen Augenblick der Begegnung mit Jesus erkannt: Hier ist viel mehr als die Heilung, hier ist Heil. Und Jesus bestätigt es ihm: Dein Glaube hat dich gerettet!

Und dann geht´s nicht weiter. Das ärgert mich an guten Geschichten immer am meisten: Ich muss von ihnen Abschied nehmen, von den Figuren darin, die mir ans Herz gewachsen sind, von den Enden, die offen gelassen wurden, von den Fragen, die ich noch gerne beantwortet hätte. Die Geschichte ist zu Ende, das Buch ist fertiggelesen. Und ich bleibe einen Moment trauernd zurück. Manchmal gibt es ja noch eine Fortsetzung, auf die ich sehnsüchtig warte, manchmal spinne ich die Geschichte selber weiter, aber seien wir ehrlich: Oft wurde gesagt, was gesagt werden musste. Und es ist Zeit, in die eigene Lebensgeschichte zurückzukehren. Dabei kann ich Erkenntnisse und Fragen, Botschaften und Aufträge mitnehmen und mal schauen, was ich damit anfangen in meinem ganz normalen Alltag.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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