Lukas 18,9-14

Lukas 18,9-14

11. Sonntag nach Trinitatis | Lukas 18,9-14 (dänische Perikopenordnung) | Von Marianne Christiansen |

Nicht der Blick auf eigenes Verdienst oder eigene Sündigkeit – sondern auf die Gottes Gnade.

Das kennt man ja so gut: Leute, die so selbstgerecht sind, dass sie nichts anderes sehen können als sich selbst. Leute, die unbedingt sich selbst in den sozialen Medien präsentieren müssen mit all ihren Erfolgen im Berufsleben, ihrem perfekten Familienleben und Lebensstil, ihrer Wohltätigkeit und ihrer freiwilligen Arbeit und ihren grünen Rezepten. Leute, die auftreten wie der Pharisäer vorne im Tempel und Gott und allen Leuten erzählen, wie gut sie sind.

Nein, gut dass man selbst so nicht ist. Gott ich danke dir, weil ich nicht bin wie andere Menschen, selbstgerecht und unsympathisch. Sondern demütig. Ich kenne meine Fehler sehr wohl, ich pflege sie sogar. Ich weiß, dass ich nicht vollkommen bin, deshalb bin ich so angenehm demütig. Seht, wie demütig ich bin, und seht was für ein schlechtes Gewissen ich habe – ganz wie der Zöllner im Tempel. Ich habe wirklich Selbsterkenntnis. Gut, dass ich nicht so bin wie andere Menschen. Und „wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“, das muss für mich gelten. Ich übertreffe alle mit meinem schlechten Gewissen. Gut, dass ich nicht bin wie andere Menschen.

„Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die anderen, dieses Gleichnis“. Eine Momentaufnahme von zwei klassischen Figuren: Der Pharisäer, der fromme und kluge Mann, der wirklich versucht, nach dem Gesetz zu leben, gerecht zu sein. Und der Zöllner, der selbstsüchtige und gierige Landesverräter, der Geld zusammen rafft für die Römer und auch viel für sich selbst. Die beiden. Der Selbstgerechte und der Sünder. Der eine vorne, der andere ganz hinten im Tempel.

Ist die Pointe in der Geschichte dann die, dass wir gegenüber Gott den Platz tauschen? Und wem ist damit gedient?

Oder ist es auf dem Weg nach Hause vom Tempel, wo etwas geschieht? „Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener“, sagt Jesus.

Kann man denn gerechtfertigt werden, wenn man es nicht ist? Kann ein Mensch überhaupt gerechtfertigt sein?

Die Geschichte vom Pharisäer und Zöllner narrt einen immer. Das hat sie in der ganzen Geschichte des Christentums getan, weil sie ja immer Leuten erzählt wurde, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit meinen, dass wir selbst gerechtfertigt sind, und andere verachten. So wie die Geschichte die beiden Positionen schildert, ist sie scheinbar ganz klar: Willst du der sein, der vorne steht und sich selbst lobt und sich lächerlich macht? Willst du nicht lieber der sein, der hinten steht und sich vor die Brust schlägt und sagt: „Gott sei mir Sünder gnädig“ – der ist ja der Held. Willst du dich erhöhen, so dass du gedemütigt wirst, oder willst du dich demütigen, damit du erhöht wirst? Da ist die Wahl ja nicht so schwer. Ich will gerne erhöht werden – da erniedrige ich mich natürlich. Ich will gerne alle anderen übertreffen, was Gerechtigkeit angeht, deshalb betone ich meine Fehler und Mängel. Ich bin ein viel elenderer Sünder als alle die anderen und verachte alle Selbstgerechten.

In dieser Weise narrt die Geschichte uns, indem sie uns zu einem „umgekehrten Pharisäer“ macht, wie man das nennen könnte. Sie verlockt uns dazu, die Position des Pharisäers einzunehmen und dabei hoffentlich zu entdecken, dass wir das tun, auch wenn wir unsere Demut und Selbsterkenntnis hervorheben.

Da stehen zwei Männer im Tempel. Da können sie stehen bleiben mit dem, was sie von sich selbst erzählen. Aber der eine ging gerechtfertigt nach Hause.

Gerecht. Das ist nicht etwas, was man ist, man wird gerecht gemacht.

Das Rätsel der Geschichte liegt in dem Wort „gerecht“. Was ist „Gerechtigkeit“? Das ist ein Wort, das mit Jesus und seiner Geschichte einen anderen Sinn bekommt – sowohl in den Geschichten, die er erzählt, als auch in der Geschichte, die er selbst ist.

Gerechtigkeit bedeutete und bedeutet, dass man das Recht einhält, das Gesetz, die Regeln einhält, die für das Leben und die Gesellschaft da sind. Wir gebrauchen das Wort auch in diesem Sinne: Es muss gerecht zugehen – nach Recht und Gesetz, vor allem, wenn es um die Verteilung von Gütern geht. Aber auch wenn es um die Einhaltung von Gesetzen geht, um Verbrechen und Strafe, und auch in dem mehr breiten Sinn, dass es wünschenswert erscheint, dass es den Menschen gut geht, und dass es ungerecht erscheint, wenn jemand, den wir kennen und lieben, Unglück und Leid erfährt. Darin liegt die Idee, dass das Dasein gewisse Regeln hat, was recht ist, wonach sie die Dinge gerne richten sollen, wenn es gerecht zugehen soll. Und deshalb werden wir erschüttert von Naturkatastrophen, denn die sind jenseits aller Gerechtigkeit.

Aber kann ein Mensch gerecht sein? Ja, in diesem Sinn, wenn er sich an die Regeln hält und das Gute tut und sich mit seiner Selbstentfaltung im Rahmen hält, kurz wenn er ein ordentlicher Mensch ist. Das ist der Pharisäer ja, und dafür dankt er Gott.

Und das ist ja in Ordnung. Im geschieht ja nichts. Der andere ist es, der als ein anderer nach Hause geht, als der er vorher war.

Denn das Verdienst des Zöllners ist nicht, dass er seine eigene Schuld und sein schlechtes gewissen und seine vielen Sünden hervorhebt. Es besteht vielmehr darin, dass ihm etwas fehlt.  Er will etwas von Gott haben. Er bittet, fordert, ohne aufzuschauen, ohne Überredungs-Versuche, ohne zu argumentieren: „Gott sei mir Sünder gnädig“.

Gott, gib mir das, was du hast und bist. Deine Gnade, deine Liebe, dein Leben. Das fehlt mir.

Zu wem wagt man das zu sagen? Liebe mich. Frage nicht danach, was ich getan oder nicht getan, verdient oder versäumt habe. Sei mir gnädig. Siehe mich als einen, den du liebst.

Das wagt man zu einem zu sagen, auf den man hofft und ohne den man nicht leben kann. Weil man genötigt ist, um das zu bitten, was einem fehlt.

Das ist der Wendepunkt des Zöllners. Er geht in den Tempel, um etwas zu empfangen, nicht um da zu stehen. Er geht da hinauf mit seinem Mangel, um mit etwas anderem als sich selbst wieder davonzugehen.

Er war es, der gerecht nach Hause ging. Wie gerecht? In der Geschichte Jesu ist Gerechtigkeit eine Beziehung der Liebe, ein Ruf zu einem Leben von dem, was der Zöllner von Gott empfängt, nämlich der Gnade.

Gnade ist die Liebe, die uns gegeben ist, ehe wir etwas dazu beitragen können, und die bei uns bleibt, ganz gleich was wir falsch gemacht haben. Wenn Gotts Gnade Gerechtigkeit ist, so bedeutet diese neue Gerechtigkeit, dass wir nach dem Recht leben, in einer Beziehung der Liebe zu stehen. Der Zöllner empfing einen neuen Weg, auf dem er in sein Haus ging. Er konnte aus dem Tempel in sein Haus gehen als einer, den Gott liebt – und vielleicht hat er das mit denen geteilt, denen er begegnete.

Die Gerechtigkeit, die die Einhaltung von Gesetzen und Regeln ist, steht. Die Gerechtigkeit, die Gnade ist, geht.

Diese Gerechtigkeit kann nie sagen: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie andere Menschen“. Sie muss immer sagen: „Gott ich danke dir, dass ich ganz so bin wie die anderen Menschen – unvollkommen und geliebt“. Die Gnade bewirkt, dass ein Mensch nicht nur das ist, was er getan hat und von sich selbst sagen kann, sondern immer auch das ist, wozu die Gnade ihn macht – ein ganzer und geliebter Mensch. Dazu kann sich keiner selbst machen, sondern das ist die Antwort auf das Gebet: „Gott, sei mir Sünder gnädig“.

Diese Gerechtigkeit fand der Zöllner in der Geschichte Jesu, und sie fand Paulus bei Jesus. Der junge Pharisäer Paulus betrachtete die Jesus-Gläubigen mit Furcht und Verachtung und versuchte sie aus der Gesellschaft auszuschließen. Er dankte Gott dafür, dass er nicht war wie sie – bis er plötzlich entdeckte, dass er genauso war wie sie – und getauft wurde. Dieser Paulus schrieb dann später von der Gerechtigkeit Gottes, wie sie ihm nun selbst in Jesus offenbart wurde:

„Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart … die Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (Römer 3,21-24).

Nein, da ist kein Unterschied zwischen Pharisäer und Zöllner. Sie wechseln dauernd die Position in Bezug auf die Selbstgerechtigkeit, wie Paulus das selbst tat, vom Pharisäer zum Zöllner. Aber Paulus erhielt wie der Zöllner einen neuen Weg und konnte den Blick abwenden von sich selbst und seiner eigenen Schuld und eigenen Mängeln und sagen: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen“ (1. Korinther 15,10a).

Die Gnade ist nie vergeblich. Amen.

Bischöfin Marianne Christiansen

Ribe Landevej 37
6100 Haderslev

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