Lukas 19,41-48

Lukas 19,41-48

Es gibt viele Worte und Wendungen aus der Bibel, die
in die alltägliche Sprache eingegangen sind. Das können Wendungen
sein wie die, daß man nicht Perlen vor die Säue werfen soll,
oder die, daß man sein Licht nicht unter einen Scheffel stellen
soll, oder eine Wendung wie die, daß man seine Zeit nicht erkannt
hat, in der dänischen Sprache daß man seine „Besuchszeit“ nicht
erkannt hat, wo die Lutherübesetzung sagt: „die Zeit, darin
du heimgesucht bist“.

Man soll seine Zeit kennen, man soll wissen, wann der entscheidende
Augenblick ist. Man soll wissen, wann man handeln soll. Dieser Ausdruck
stammt aus dem heutigen Predigttext aus dem Lukasevangelium. Er wird
in einem Zusammenhang verwandt, wo Jesus gerade nach Jerusalem gekommen
ist in der Woche vor Ostern, und Jesus gebraucht ihn als Urteil über
die Stadt Jerusalem. Die Stadt wird dem Erdboden gleich gemacht und zerstört
werden. Die Feinde werden sie belagern. Ja, es wird furchtbares geschehen,
und Jesus weint über die Stadt Jerusalem. Die Tränen zeigen,
daß dies keine Drohung ist, die er aus Verbitterung ausspricht,
eher eine sorgenvolle Feststellung, daß etwas nicht so ist, wie
es sein soll. Es besteht ein Mißverhältnis. Die Menschen erkannten
nicht, daß es an der Zeit war. Sie konnten nicht sehen, wer er
war, als es noch Zeit war. Sie nahmen das Reich Gottes nicht wahr, von
dem er sprach und das er ihnen gab.

Wenn wir den Ausdruck „seine Zeit nicht kennen“ in der alltäglichen
Sprache verwenden, abgesehen von der Bibel, dann klingt etwas Verhängnisvolles
mit. Denn darin liegt ja, daß man den entscheidenden Zeitpunkt
verpaßt hat. Man hat etwas überhört. Man hat sich nicht
zusammengenommen. Es wurde nichts daraus. Irgend etwas ist einem vielleicht
aus den Händen geglitten. Und wenn man dann endlich zur Tat schreitet,
dann ist es zu spät – denn man hat seine Zeit nicht erkannt.
Das hat natürlich Stoff geliefert für viele Romae und Filme,
wo der dramatische Effekt oft auf der Tatsache aufbaut, daß die
beteiligten Personen in der Situation nicht wissen, in welch einem entscheidenden
Augenblick sie stehen. Und gerade weil sie sich der Bedeutung des Augenblickes
nicht bewußt sind, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Ein Verhängnis,
wo es oft um unglückliche Liebe und viele vegebene Lebensmöglichkeiten
geht.

Im Christentum ist gleichsam jeder Augenblick des Lebens entscheidend.
Wir haben nicht die Möglichkeit, dahinzudösen oder zu vergessen,
was auf dem Spiel steht. Daran hat uns die neutestamentliche Gerichtsverkündigung
Jahrhunderte lang erinnert. Denn es ist und bleibt wichtig, seine Zeit
zu kennen.

Aber es kann ja unweigerlich zu spät sein, so hart ist das Urteil
der Zeit über unser eigenes Leben. Das kann ein hartes und unbarmherziges
Urteil sein, das wir über unser eigenes Leben fällen. Daß man
seine Zeit nicht gekannt hat. Weil man vielleicht, wenn man auf sein
Leben zurückschaut, nichts anderes sehen kann als Versagen, Lieblosigkeit,
fehlende Nähe und Aufmerksamkeit auch denen gegenüber, die
einem am nächsten sein sollten. All das hat uns unbarmherzig geprägt.
Man hat seine Zeit nicht gekannt. Man ließ sich den Augenblick
aus den Händen gleiten, und eines Tages ist es zu spät.

Wir suchen in diesen Jahren immer mehr, die Geschichte über uns
selbst durch unsere Arbeit zu schaffen, unser Familienleben und unsere
ganze Lebensform. Wir versuchen, uns eine Geschichte über unser
eigenes Leben zu schaffen. Wir führen Traditionen ein, die Familie
und Freunde einen können. Wir suchen Erlebnisse, und wenn wir Ferien
machen, entspannen wir uns nicht nur, nein, wir machen uns auf und suchen
etwas auf, was zu der Geschichte über das beitragen kann, was wir
nun je für sich sind. Das ist eine umfassende Aufgabe, die man sich
selber stellt, daß man seine eigene Lebensgeschichte schreibt.
Denn was soll man mit all dem machen, was man vergeigt hat? Was soll
man mit all dem tun, was man verspielt hat? Wie soll man das in seine
Lebensgeschichte einbauen?

Nun weiß ich wohl, daß wohlmeinende Menschen sagen werden,
daß man versuchen soll, sich selbst zu vergeben, oder daß sie
vielleicht versuchen werden, einen davon zu überzeugen, daß es
nicht an einem selbst gelegen hat, daß es sich so ergeben hat.
Aber wer ist wirklich davon überzeugt, wenn man nun einemal weiß,
daß das nicht wahr ist?

Auch wenn wir viele Versuche unternehmen, so ist es dennoch eine fast
unmögliche Aufgabe, seine eigene Lebensgeschichte zu schaffen. Das
wird in vieler Hinsicht nur eine halbe und nicht besonders wahre Geschichte,
wenn wir das versuchen. Das muß ein anderer tun! Und es ist eine
der wichtigsten Pointen im Christentum, daß das nur Gott tun kann – wenn
es eine wahre Geschichte über uns werden soll. Denn die wahre Geschichte
soll ja nicht von dem Urteil der Zeitgenossen oder von uns selbst über
uns handeln, sie soll auch von Vergebung erzählen, von der Vergebung
der Sünden, daß es Gnade gibt. Sie soll uns erzählen,
daß die Auferstehung unser Leben ist.

Nun kann aber nicht jeder kommen und so etwas über uns erzählen.
Dies war auch nicht der Fall – denn es war der Sohn Gottes selbst,
der ein Mensch war, der in einem solchen Maße seine Zeit kannte,
als er seiner Zeit seine Spuren einprägte. Denn in ihm wurden Zeit
und Ewigkeit eins. In ihm wurden Gericht und Gnade eins. Das eine kann
nicht mehr von dem anderen getrennt werden, denn sie sind zwei Seiten
ein und derselben Sache. Ja, zum Glück für uns, Gott kannte
seine Zeit.

In diese Erzählung können wir hineingehen. Wir können
auf sie hören. Wir können uns von ihr prägen lassen.
Wir können aus ihr neuen Lebensmut schöpfen. Und das können
wir, weil wir uns nicht mehr in unsere eigene Geschickte voll von Brüchen
und Mängeln zu verlieren brauchen, weil wir sie statt dessen loslassen
und unserem Mitmenschen nahe sein können. Denn dort sollen wir
sein. Denn man soll seine Zeit kennen.

Amen.

Pastorin Asta Gyldenkærne
Skovkirkevej 21
DK-3630 Jaegerspris
Danmark
Tlf 47 53 08 81
Email : agy@km.dk

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