Lukas 2,14

Lukas 2,14

Marzipan | Weihnachten | 24.12. 2023 | Predigterzählung Lk 2,14 | Wolfgang Vögele |

Der weiße Bart ist schon leicht verrutscht, die Augen schauen übernächtigt. Der erschöpfte Weihnachtsmann spürt schweren Muskelkater kommen und schirrt die neun Rentiere vom Schlitten ab. Er läßt sie in den Wald laufen, damit sie unter dem Schnee nach Moos und Flechten suchen können. Dann setzt er sich hin und macht sich Notizen für den BAGGER, bis er am Schreibtisch vor Müdigkeit einschläft.

Einen Tag später steht er pünktlich um Zehn am Redepult der Jahresversammlung der himmlischen Heerscharen. Er wird nun den BAGGER halten. Seraphim und Cherubim, Verkündigungs- und Botenengel sind alle anwesend. Die leitenden Erzengel Michael, Gabriel und Raphael haben in der ersten Reihe Platz genommen und blicken den Weihnachtsmann am Rednerpult neugierig an. Gott hört auch zu, er hat sich hinter einem Vorhang verborgen.

Ein junger Engel, erst vierhundert Jahre alt und also pubertierend, fragt seinen Nachbarn in der vorletzten Reihe: Was heißt eigentlich Bagger?

Der ältere Engel neben ihm flüstert zurück: Bagger schaufeln die Geschenke vom Himmel auf die Erde.

Ratloser Blick.

Nein – Spaß, sagt er. Bagger ist eine Abkürzung und heißt (Jahres-)Bericht über die Annahme von Gaben und Geschenken auf der Erde. B-A-Doppel G -ER. Das haben wir vor einigen Jahren eingeführt, damit der Weihnachtsmann, der kein Engel sein darf, aber sein will, unsere Wertschätzung spürt. Unsere Wertschätzung soll ihn tragen wie eine Schäfchenwolke die Harfenspieler-Engel. Viele von uns denken, fährt der alte Erklärengel fort: So breitet sich ein Übel der Erde, die Bürokratie, auch im Himmel aus.

Der Engel verstummt, denn die Versammlung beginnt nun mit einem Weihnachtslied. Danach nimmt der Weihnachtsmann einen Schluck Wasser und beginnt mit seiner Rede:

Liebe englische Kolleginnen und Kollegen, es ist seit einigen Jahren üblich, daß ich vor dieser himmlischen Versammlung über den Zustand der Weihnachtsfreude auf der Erde referiere. Sozusagen der Geschenke-Klima-Index. Ich will Sie nun nicht mit Zahlen, Statistiken, Handouts und Präsentationen belasten. Statt dessen erzähle ich Ihnen einfach eine kurze Geschichte, die ich selbst beobachtet habe, während ich Geschenke verteilte.

Im eleganten Sinkflug galoppierten die Rentiere auf eine kleine Stadt in Baden-Württemberg zu. Wir kenterten beinahe am Hausberg, fanden dann aber schnell unser Ziel. Den Schlitten parkte ich genau zwischen dem Kindergarten, in dem ich bescheren wollte, und einem Supermarkt, einem scheußlichen Monster aus Beton, grauer Farbe und Werbeplakaten.

Mit seinem Einkaufskorb kommt ein älterer Mann zur Schlange vor der Kasse. Haar und Schnurrbart sind grau, er trägt einen verschlissenen dunklen Mantel, dazu weißes Hemd, Weste und eine schlecht gebundene rote Krawatte. Er legt seinen Einkäufe auf das Laufband. Die Kassiererin murmelt: Guten Tag. Er reagiert nicht darauf. Die Kassiererin erkennt den Mann als Nachbarn, der zwei Häuser weiter von ihr lebt. Er fängt an, die Einkäufe in seine Taschen zu verpacken. Als die Kassiererin eine Packung mit Marzipanbarren über den Scanner zieht, fällt ihr auf, daß einer der Barren irgendwie eingedrückt ist. Sie will dem Mann anbieten, die Packung zu tauschen, aber da hat er ihr die Packung schon aus der Hand genommen und alles in seiner Tasche verstaut.

Der alte Mann schleppt die beiden Taschen nach Hause. Er ist ein wenig eigen geworden, seit vor fünf Jahren seine Frau gestorben ist. Er legt die Marzipanpackung auf den Tisch in der Küche und sagt sich: Wenn ich jeden Tag bis Weihnachten ein Stück esse, dann reicht es. Er liebt Marzipan, seit seine Mutter ihm die Süßigkeit in den Nikolausstiefel gepackt hat.

Aber dann schlägt doch seine Neigung zu verqueren Gewohnheiten durch. Er sagt sich: Ich esse nur ein Stück Marzipan, wenn ich am Abend in den Nachrichten nicht zu viele traurige Meldungen höre. Seit Monaten saß er jeden Abend vor dem Fernseher und grämte sich wegen all der schlechten Nachrichten, den Drohnenangriffen in der Ukraine, den Terroranschlägen in Israel, den Flüchtlingen in Pakistan und vielem anderem mehr. Er ging jeden Abend deprimiert ins Bett.

Aber die Adventszeit wird für den alten Mann zum Fiasko: Die schlechten Nachrichten hören nicht auf. Dauernd redet die Sprecherin der Abendnachrichten von Anschlägen, Angriffen, Defiziten, Rückständen, Katastrophen, Triggerwarnungen. Der alte Mann bleibt ehrlich zu sich selbst und verzichtet an jedem Abend auf sein Stück Marzipan.

Nach zehn Tagen ist er so ärgerlich, daß er die ganze Packung wegwerfen will. Aber das ist ihm dann doch zu schade. Er nimmt das Marzipan und legt die Packung draußen bei der Straßenbahnhaltestelle auf eine Bank. Vielleicht will sie jemand mitnehmen.

Und es nimmt sie jemand mit. Ein kleines Mädchen mit roter Pudelmütze freut sich und trägt die Packung nach Hause und ißt alle Stücke bis auf drei auf.

Am Abend allerdings entdeckt die Mutter die fast leere Packung. Sie fragt ganz entsetzt: Wer hat dir das gegeben? Hast du das geklaut? Und als sie genauer hinschaut, erkennt sich nach kurzem Zögern die Packung wieder. Denn sie sieht den einen zerdrückten Barren. Die Mutter ist niemand anderes als die Kassiererin aus dem Supermarkt. Das Preisschild auf der Unterseite der Packung liefert den letzten Beweis.

Die Mutter seufzt. Dann meint sie: Okay, du darfst auch den Rest essen. Aber ich weiß, woher die Packung kommt. Der Opa von drüben hat sie gekauft. Am vierten Advent gehst du die zwei Häuser weiter und bringst ihm eine Tüte Weihnachtsplätzchen vorbei. Und du singst für ihn mindestens zwei Weihnachtslieder. Die Tochter will protestieren, aber sie merkt, daß sie nicht widersprechen darf. Und sie singt eigentlich ganz gern.

Also zieht sie am vierten Advent den neuen knallroten Anorak an, auf den sie so stolz ist. Und sie geht zu dem Haus zwei Häuser neben dem, wo sie wohnt, und klingelt. Sie will sich entschuldigen, daß sie das Marzipan mitgenommen hat. Der alte Mann hört zunächst das Klingeln nicht.

Dann aber öffnet er die Haustür und sieht eine kleine weihnachtliche Feuerwehrfrau. Wegen der Entschuldigung wiegelt er ab. Das hat er ja so beabsichtigt, daß jemand anderes die Süßigkeiten mitnimmt.

Als das Mädchen dann noch die Weihnachtslieder anstimmt, öffnen sich im gesamten Treppenhaus nach zwei Strophen die Haustüren. Die anderen Bewohner, auch die strenge Dame im ersten Stock, die sich immer über Lärm beschwert, kommen heraus und nach einer Weile singen alle mit. Und die meisten holten aus ihrer Küche ebenfalls Zimtsterne und Lebkuchen. Und die junge Familie aus dem dritten Stock trug ihren Weihnachtsbaum aus dem Wohnzimmer herunter. Die alte Frau aus dem Erdgeschoß spendierte Weihnachtspunsch. Und es wurde ein fröhlicher Nachmittag und Abend, mit Singen und Plätzchenessen und Kerzenschein. Der alte Mann war auch ohne Marzipan glücklich.

Damit geht die Geschichte zu Ende, sagte der Weihnachtsmann vor der Versammlung der himmlischen Heerscharen.

Liebe Engelinnen und Engel, der BAGGER-Zustand auf der Erde läßt oft zu wünschen übrig, aber er ist nicht völlig hoffnungslos. Die Hoffnungsgeschichten sind allerdings manchmal so unscheinbar, daß sie niemand bemerkt. Drei Tage danach sprach ich nochmals mit der Mutter des kleinen Mädchens, mit der Kassiererin. Ihr war gar nicht bewußt, daß hier überhaupt nicht der Zufall am Werk war. Selbstverständlich hat ein unscheinbarer Botenengel mit der Fingerspitze nachgeholfen.

Die Engel schmunzelten. Es entstand ein kurzer Moment der Stille, bevor sie dem Weihnachtsmann am Pult höflich applaudierten.

Der pubertierende Jung-Engel in der letzten Reihe flüsterte: Darf ich mitkommen, wenn wir in der Nacht zu den Hirten fliegen und singen?


Wolfgang Vögele

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