Lukas 22,47-53

Lukas 22,47-53

Nicht Finsternis sondern Licht! | Okuli | 12.03.2023 | Lk 22, 47 – 53 | Gert-Axel Reuß |

der Predigttext kann anstelle des Evangeliums gelesen werden.[1]

Liebe Gemeinde,

der Verrat des Judas gehört zu den ungeheuerlichsten Ereignissen im Leben Jesu. „Als Jesus noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?“ (Lk 22, 47.48)

Einer aus dem engsten Kreis um Jesus liefert ihn aus. In dem Bericht von der Einsetzung des Abendmahls wird diese Nähe noch einmal betont: Judas sitzt mit am Tisch.[2] Hier nun in der Geschichte von Jesu Gefangennahme ein Kuss, zu allen Zeiten ein Zeichen der Freundschaft und der Liebe, der inneren Verbindung – missbraucht als Markierung: „Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen genannt und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den ergreift …“(Mk 14, 44)[3]

Wie konnte das geschehen, dass einer der engsten Vertrauten zur anderen Seite überläuft? Wie passt das zusammen: Liebe und Verrat, gemeinsam gelebte Überzeugungen von der Nähe Gottes und die Auslieferung Jesu an die weltliche Macht?

Es ist nicht so eindeutig, wenn Lukas schreibt, dass der Satan in Judas gefahren sei. Das sagt Jesus auch von Petrus (Mk 8, 33).[4] In den anderen Evangelien fragen die Jünger, nachdem Jesus ihnen angekündigt hat, dass einer ihn verraten wird: „Herr, bin ich’s?“ (Mk 14, 19)[5] Wer die Geschichte aus dieser Perspektive liest, für den ist der Verrat des Judas eine menschlich-unmenschliche Möglichkeit, die in jeder/jedem von uns vorhanden ist: Judas – das könnte unter bestimmten Umständen auch ich sein.

Für diejenigen, die etwas älter sind, tauchte diese Frage in einem anderen Gewand auf, als sie die Generation der Mütter und Großväter (in Deutschland) fragte: „Wo warst Du, als Jüdinnen und Juden in Deutschland verfolgt und später ermordet wurden?“ Und wir Nachgeborenen haben uns mit der Frage auseinandergesetzt: „Was hätten wir getan, wenn wir damals gelebt hätten?“ Entscheidend ist nicht die Antwort, die wir gefunden haben oder die wir geben könnten. Die Lehre aus unserer Geschichte ist doch, diese Frage offen zu halten und immer wieder auf die Herausforderungen der Gegenwart zu beziehen. So werden wir Heutigen uns fragen lassen müssen, was wir getan haben, damit keine Flüchtlinge mehr im Mittelmeer ertrinken, damit Kinder in anderen Teilen der Welt nicht mehr verhungern.

Gewiss: Der Verrat des Judas konzentriert solche Fragen auf die Person Jesu. Also: Hat dieser Verrat nicht eine ganz andere Qualität, die man mit den Problemen von heute nicht in Beziehung setzen kann? Doch, liebe Gemeinde, man kann – und man muss die Passionsgeschichte mit uns heute in Beziehung setzen!

Gründe dafür liegen m. E. nicht nur in der deutschen Geschichte, die den abtrünnigen Judas nur allzu gern mit „den“ Juden gleichgesetzt hat. Warum nennen wir diese Wochen vor Ostern ‚Passionszeit‘? Wenn diese Kennzeichnung nicht gegenstandslos werden darf, dann doch deshalb, weil der Tod Jesu am Kreuz eine heilsgeschichtlich-heilende Bedeutung hat. Dazu trägt m.E. auch eine nähere Betrachtung der Umstände bei, die zu seiner Ermordung geführt haben.

Für mich: Das Kreuz Jesu führt uns eindringlich vor Augen, was Menschen einander antun können; worin Hass und Gewalt gipfeln können – und immer wieder geschieht solches in dieser Welt. Auch heute. In diesem Sinn ist die Auferweckung Jesu die ultimative Ansage, dass die Liebe nicht totzukriegen ist. Sondern dass sie die Kraft hat, den Teufelskreis des Bösen zu durchbrechen. Brauchen wir diese Botschaft heute nicht mehr denn je?

Ich möchte an dieser Stelle den Blick einmal weglenken von Judas auf eine Randfigur dieser Geschichte: auf den Jünger, der sich zur Wehr setzt. Der sich der drohenden Verhaftung Jesu in den Weg stellt. Der nicht lange fackelt und einem der Knechte des Hohenpriesters das (rechte) Ohr abhaut. Sein Name wird von Lukas nicht überliefert, aber Johannes nennt ihn: Simon Petrus (Jh 18, 10). Dies ist insofern von Bedeutung, als dass sich damit implizit eine Gegenüberstellung nahelegt: hier Judas – da Petrus.

Man mag einwenden, dass die Verleugnung des Petrus, die sich wenig später ereignet (am eindrücklichsten in der Fassung bei Matthäus, Mt 26, 74: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Und alsbald krähte der Hahn.) weniger schwer wiege als der Verrat des Judas. Das ist richtig – bezogen auf den Ablauf der Ereignisse. Aber wo beginnt der Verrat? Und wo endet er?

Ich spreche an dieser Stelle (Wo endet der Verrat?) nicht vom Tod Jesu, sondern vom Tod des Judas. Petrus aber wird leben, obwohl er – wenn er es dann war, der zum Schwert griff – in der Geschichte vom Verrat des Judas eklatant gegen die Ethik Jesu verstößt, der ihn auch prompt zurechtweist: „Lasst (!) ab! Nicht weiter!“ Und er (Jesus) rührte sein Ohr an und heilte ihn (den Knecht des Hohenpriesters). (Lk 22, 51)

Auf einer Lithographie von Oskar Kokoschka mit dem Titel „Der Judaskuss“[6] stehen beide Jünger im Dunkeln. Und im Grunde ist der Kuss des Judas nichts anderes als ein Zeichen der größtmöglichen Entfernung von Gott, die diesen nicht als Überzeugungstäter zeigt sondern aus dem Gleichgewicht bringt. Und so endet sein Leben ja auch in der Verzweiflung darüber, was er getan hat. Auf der anderen Seite ein Jünger mit dem gezückten Schwert, irgendwie grobschlächtig und keineswegs im Einklang mit der hellen Figur im Vordergrund: Jesus. Im Gegenteil, da ist eine gehörige Distanz, während die Nähe zwischen Judas und Jesus nicht nur dem Kuss geschuldet ist. In beiden Gesichtern spiegelt sich Bestürzung. Und wenn dieser Jesus gekommen ist, die Verlorenen zu suchen und zu retten – wie sehr wünschte er sich, diesen Judas zu erlösen.[7]

Petrus hingegen erfährt in dem anrührenden Schlusskapitel des Johannesevangeliums (21, 15 – 19) Vergebung[8]und die erneute Berufung in die Nachfolge Jesu und weist uns damit einen Ausweg aus den Dilemmata unserer menschlichen Existenz. Wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen, aber Verfehlung und Versagen führen nur dann ins Verderben, wenn wir uneinsichtig in der Gottferne verharren. Es gibt immer einen Weg zurück zu Gott.

Am Ende dieser Geschichte steht – anders als Lukas es berichtet– nicht Finsternis sondern Licht! Noch hat sich Judas nicht selbst gerichtet und auch der Satz: „Dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ (Lk 22, 53b) ist ja nur eine Momentaufnahme, nur ein Zwischenfazit.

Die Jesusgeschichte ist mit seiner Gefangennahme noch nicht an ihr Ende gekommen. Ja, es folgen Stunden von noch größerer Finsternis. Die Verzweiflung derer, die mit ihm sind, wird noch größer werden. Jesus erleidet Demütigungen und schließlich den Tod. Solches darf und soll nicht klein geredet werden, aber wir wären verloren, wenn wir am Ende den Weg der Verzweiflung einschlügen und das Schicksal des Judas wählten.

Und so scheint das Licht Jesu auch in dieser Geschichte auf, wenn er sich der Gewalt nicht schicksalsergeben sondern selbstbewusst beugt und in der Heilung des Knechts des Hohenpriesters etwas aufleuchtet von dem, was seine Botschaft, was sein Leben ausmacht. „Wandelt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat.“ (Eph 5,2) So predigt der Apostel seiner Gemeinde in Ephesus. Das entspricht nicht nur dem Bild, das Lukas von Jesus zeichnet. Es ist im Grunde auch die Essenz der Geschichte von der Gefangennahme Jesu: „Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.“ (Eph 5, 8+9)

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

[1] Der Predigttext fällt irgendwie heraus aus der Reihe der (anderen) Lesungen für den Sonntag, so dass er in den Erläuterungen – den in das Perikopenbuch eingebundenen, nicht nummerierten grünen Seiten – gar keine Erwähnung findet.
Zugleich weckt das geschilderte Geschehen – der Judaskuss – starke Emotionen, so dass dahinter die anderen Lesungen verblassen. Ich schlage deshalb vor, auf die Lesung des vorgesehenen Evangeliums Lk 9, 57 – 62 in diesem Gottesdienst zu verzichten und stattdessen den Predigttext als Evangelium zu lesen.

Außerdem nehme ich in der Predigt Bezug auf die Epistel. Ich schlage vor, nur Eph 5, 1+2+8+9 zu lesen.

[2] Der Predigttext für Okuli folgt der Lukas-Fassung von der Verhaftung Jesu. Für den Evangelisten Lukas ist klar, dass die Entlarvung des Verräters nach der Einsetzung des Abendmahls geschieht. Anders bei Matthäus und Markus.

Auch Matthäus und Markus betonen diese Nähe. Judas ist der, der mit Jesus seine Hand in die Schüssel getaucht hat (Mk 14, 20).

[3] Bei Lukas fehlt diese Erklärung, aber sie ist m.E. so stark im Gedächtnis der gottesdienstlichen Gemeinde verankert. Deshalb zitiere ich sie auch.

[4] Die Parallelstelle fehlt im Lukasevangelium. – Aber in der Versuchungsgeschichte Jesu benutzt auch Lukas den Begriff ‚diabolos‘ für den Teufel (u.a. Lk 4, 13), nicht ‚satanas‘ wie in Lk 22, 3.

[5] Für Lukas ist die Sache eindeutig (vgl. Apostelgeschichte 1, 18). Judas ist der Verräter. Aber verfolgt er auch einen teuflischen Plan von Anfang an? – Ich predige also nicht ganz textgemäß, aber den wenigsten der Zuhörenden dürften die Unterschiede in den synoptischen Evangelien geläufig sein – zu stark sind die eigenen inneren Bilder. Und auf die nehme ich Bezug.

[6] Gefunden bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4. Teilband, Düsseldorf; Zürich 2002, S. 162 – dort auch eine Bildbeschreibung von Stephan Bösiger (S. 160 ff). Das Bild ist leicht aufzufinden im Internet.

[7] Ich deute Mk 14, 21 – „Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.“ – nicht als Verfluchung sondern als Ausdruck der Bestürzung.

[8] Im Grunde ist es unerheblich, dass dieses Schlusskapitel nachträglich angefügt worden ist. Man könnte die Predigterzählung über Petrus auch mit Lk 23, 61f enden lassen.

de_DEDeutsch