Lukas 23,46

Lukas 23,46

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Worte vom
Kreuz
Predigtreihe für die Passionszeit 2000
6. Sonntag der
Passionszeit, Palmarum

16.4.2000
Lukas 23,46

Thomas Fischer


„Vater, ich befehle meinen Geist
in deine Hände.“

Liebe Gemeinde,

Jesus spricht.
In den Synagogen oder auf den Plätzen in
den Dörfern Galiläas hatte er oft geredet. Die Menschen waren
zusammengekommen, und er hatte sie angesprochen. In Jerusalem steht Jesus nicht
mehr als Einladender in der Mitte, sondern als Angeklagter. Da sagt er nichts.
Pilatus erlebt nicht einen beredten Volksaufrührer, und dem Herodes
antwortet er nicht. Erst auf dem Weg zum Kreuz und dann am Kreuz redet er noch
einmal. Was bleibt zu sagen?

Ich befehle meinen Geist in deine Hände.

Als letztes sagt er einen Satz aus den Heiligen Schriften. Es ist
ein Wort aus den Psalmen. Schon unzählige Menschen haben diesen Satz vor
ihm gesprochen. Er stellt sich damit in die lange Reihe der Menschen, die
diesen Satz sagen. Manche sprechen diesen Vers jeden Abend als Abendgebet.

Und doch ist es etwas ganz besonderes, wenn Jesus diesen Satz
sagt, und er fügt ein Wort hinzu: „Vater“, sagt er.

Die Beziehung zum Vater hat ihn von Anfang an ausgezeichnet. Jesu
Leben stand von Anfang an in Verbindung zu Gott. Der Evangelist Lukas
erzählt von der Kraft des Heiligen Geistes, aus der er gezeugt und geboren
wird. Die Verbindung zum Vater begleitet sein Leben. Im Namen des Vaters hat er
Menschen befreit und Sünden vergeben. Daß er sich als Gottes Sohn
ausgebe, werfen die Schriftgelehrten und die Hohenpriester ihm vor und nennen
es Gotteslästerung. So wird er verurteilt. Die Verbindung zum Vater bringt
ihn ans Kreuz. Dort spricht er als letztes Wort diesen Satz aus den Psalmen,
den seit König Davids Zeiten die Menschen wiederholt haben.

In deine Hände befehle ich meinen Geist.

Wahrscheinlich weiß, wer das Evangelium des Lukas hört
oder liest, mit welchem Gedankengang der Psalm weiterführt:

In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich
erlöst, Herr, du treuer Gott. Ich hasse, die sich halten an nichtige
Götzen; ich aber hoffe auf den Herrn. Ich freue mich und bin fröhlich
über deine Güte, daß du mein Elend ansiehst und nimmst dich
meiner an in Not – und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes;
du stellst meine Füße auf weiten Raum.

Wir können diesen Vers ganz und gar auf die Geschichte Jesu
beziehen. Wir können hören, wie dort schon anklingt, daß Gott
Jesu Füße auf einen neuen Raum stellen wird.

Das Psalmwort enthält Widerspruch zur Welt. Der Psalm
behauptet etwas gegen die sichtbare Wirklichkeit: Der am Kreuz hängt, soll
nicht in den Händen des Feindes sein. Seine Füße, die dem
Kontakt zum Boden entnommen sind und die keinen Schritt tun können, werden
auf weiten Raum gestellt. Ahnt, wer diese Worte Jesu hört, daß hier
mehr geschieht, als vor Augen ist? Daß die Verbindung mit dem Vater auch
hier nicht endet, sondern weiterführt? Neben dem sichtbaren Vollzug der
Kreuzigung gibt es unsichtbar hinter dem Kreuz noch ein anderes Geschehen:

Die Menschen handeln. Jesus wird beiseite geschafft und
getötet. Oder ist es umgekehrt: Jesus handelt. Und den Menschen geschieht
etwas? Er nimmt unsere Gottesferne auf sich. In seinem Tod geschieht die
Befreiung unseres Lebens.

Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände, sagt er.

Ich befehle. Man kann auch übersetzen: Ich vertraue dir
meinen Geist an. Gemeint ist: sich in die Obhut begeben. Mit dem Wort wird auch
ein wenig der gekennzeichnet und beschrieben, dem ich mich anvertraue: Ich
vertraue mich dem an, der sich um mich kümmert. Ich stelle mich unter die
bewachenden Augen einer höheren Macht. Ich vertraue mich dem an, der
Inhaber der Macht ist.

Wo die eigenen Kräfte nicht weiterreichen, gebe ich mich in
die Hände eines anderen. Der sieht hin. Der sieht mich an.

Jesus gibt sein liebevolles Hinsehen ab. Es ist finster geworden
bei den Menschen.

So steht es in der Bibel. Um die sechste Stunde kam eine
Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne
verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und
Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als
er das gesagt hatte, verschied er
.

Hören und Sehen vergeht. Es ist der Abend der Alten Welt.
Finsternis kommt.

Der Maler Max Beckmann malt am Ende des Ersten Weltkrieges ein
Bild mit dem Titel: „Finsternis“, und ein weiteres mit dem Titel
„Auferstehung“. Die Auferstehung bleibt unvollendet. Es entsteht aber
eine Reihe weiterer Bilder zur Finsternis. Später nennt der den Zyklus
„ die Hölle“.

Was sieht man in der Finsternis, wie sie Max Beckmann malt?

Ein Bild heißt die Familie. Der Vater fuchtelt mit den
Armen. Sein Sohn hat einen Helm auf und spielt. Die Frau steht neben dem Mann
und hebt die Hände abwehrend. Das Kind lacht. Es lacht nicht nur. Es lacht
mit Hohn und mit Eifer ist es bei der Sache, die es spielt: Krieg. Die Eltern
blicken entsetzt und etwas hilflos. Sie haben den Krieg gerade überlebt
und nicht vergessen. Ganz im Hintergrund, fast verdeckt von den Personen, die
davor stehen, sieht man im Fenster das Kreuz wie einen Hintergrund für
diese Szene.

Ein anderes Bild zeigt Menschen auf der Straße. Diesmal ist
die Sonne im Hintergrund, aber auch sie ist fast ganz verdeckt von dem
Gewimmel, das sich davor abspielt. Das Licht wird verdunkelt durch das Tun der
Menschen. Geschäftig sind die Menschen auf der Straße unterwegs.
Undurchdringlich das Dickicht der Großstadt. Man erkennt einen
wohlhabenden Mann mit Melone. Er räumt einen älteren Menschen aus dem
Weg. Auch ein Kriegsversehrter wird beiseite gedrängt. Irgendwo inmitten
des ganzen Treibens ist ein Narr zu erkennen.

Das Bild „Die Ideologen zeigt Köpfe, die aufeinander
einreden, das Bild „ der Hunger“ zeigt Menschen am Tisch ohne Essen.
Ein Bild heißt „das patriotische Lied“.

Das ist die Finsternis, die Max Beckmann malt. Kinder, die Krieg
spielen, Erwachsene, die ihrem Profit nachjagen und wegschaffen, die im Wege
stehen. Menschen, die hungern und übersättigt sind von Ideologie und
patriotischen Liedern. Menschen, die einander Finsternis bringen.

„Die Hölle“ nennt Max Beckmann seinen Zyklus.

Finsternis kommt, wenn die Menschen handeln. Sie kreuzigen das
Leben.. Jesus gibt seinen Geist in die Hand des Vaters. Weicht der Geist Gottes
aus dieser Welt? Nein. Denn Gott ist treu wie am Anfang. Der Geist Gottes
schwebt über dem Wasser.

Gott spricht:
Es werde Licht.
Die Finsternis weicht.

Gott ruft ins Leben. Einmal war es nach drei Tagen.
Sein Ruf trifft
auch uns. Darauf vertrauen wir – Dem befehlen wir uns an.

Amen.

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Bemerkungen:

Max Beckmann, Die Hölle, 1919
1983 Kupferstichkabinett
Berlin
Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz

Thomas Fischer, Kurvenstrasse 39, CH-8006 Zürich
E-Mail: thofischer@access.ch


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